Siegfried Thiel nutzt die Gunst des Augenblicks: Immer wieder drückt der rumäniendeutsche Zeitungsjournalist auf den Auslöser seiner Kamera. Wenn Thiel nach vorne blickt, sieht er in das Gesicht eines grimmig dreinschauenden Uniformierten. Der sitzt in einem blauen Kleinbus mit der Aufschrift "Jandamerie."
"Dahinter beginnt eine Reihe von Zelten. In meinem Blickwinkel sind momentan zehn, zwölf Zelte. Davor ist ein Zaun notdürftig zusammengebastelt. Der schirmt eigentlich das Areal ab. Man hat uns gesagt: Bis an den Zaun darf man. Weiter hinten, wo das Zeltlager aufgestellt ist, da darf man nicht hin."
Journalisten werden am Rande des kleinen rumänischen Dorfes Lunga, nur einen Steinwurf von der Grenze zu Serbien entfernt, nicht gern gesehen. Hier hat die rumänische Regierung eines von zwei Zeltlagern für die Aufnahme von Flüchtlingen errichtet. Doch die Zeltstadt ist eine Geisterstadt: außer ein paar Uniformierten kein Flüchtling weit und breit.
Gemischte Gefühle
"Ja, in Deutschland kommen ganz viele. Deutschland hat Geld. Und diese Leute kommen nicht nach Rumänien." Denn in Rumänien, glaubt Dorfbewohner Paul Vegin, dürften Flüchtlinge bei Weitem nicht auf die gleichen Zuwendungen hoffen wie in Deutschland. Während Vegin am Rande der Ortsdurchfahrt auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, hat es sich ein halbes Dutzend Männer in der Dorfkneipe ein paar Meter weiter bequem gemacht.
"Lasse mie in pace - lass mich in Ruhe mit diesem Flüchtlingsthema" sagt ein Mann in blauem Arbeitsanzug. Anders dagegen jener gemütlich wirkende Rentner am Tisch nebenan: "Die Zelte sind für 700 gemacht. Und sie haben gesagt: Sie machen noch für weitere 550, da oben, auf dem Sportplatz. Aber die seien noch nicht da."
Viorel Court, ein Mann mit rumäniendeutschen Wurzeln, hat bereits einen Spaziergang zu den Flüchtlingszelten unternommen. Dass demnächst aber über 1000 Menschen am Rande von Lunga untergebracht werden sollen, einem Dorf, das selbst nur ein paar hundert Einwohner zählt, das bereitet ihm wie vielen anderen hier Unbehagen: "Das sind Leute, die Angst haben. Und es sind Leute, die nicht Angst haben. Wir haben doch hier auch keinen Arbeitsplatz. Und das Leben ist doch schwer jetzt. Und jeder sagt: Ich muss meiner Familie alles gut geben, dass man gut leben kann, aber nicht anderen."
Die Stimmung: "Freundliche Ablehnung"
"Also Kollege Thiel - wie war die Reise an die Grenze? Es war ein mühsames Unterfangen, weil die Behörden sich sehr bedeckt halten..."
Reporter Siegfried Thiel ist zwischenzeitlich in die Redaktion der deutschsprachigen "Banater Zeitung" zurückgekehrt. Redaktionschef Werner Kremm hört sich alles interessiert an: Der Bericht seines Mitarbeiters passt ins Bild: Rumänien tut sich schwer mit Flüchtlingen. Nicht nur, dass das Land jüngst auf der europäischen Innenministerkonferenz in Brüssel gegen eine Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten gestimmt hat - es gebe, sagt Kremm, ganz generell eine ablehnende Stimmung zur Flüchtlingsaufnahme unter den Politikern seines Landes: "Vor der Öffentlichkeit sagen sie: Rumänien hätte nicht mehr Aufnahmekapazität. Und im Medienecho klingt eher eine Ablehnung, sagen wir mal eine 'freundliche Ablehnung' durch, in dem Sinne, dass man die Leute bedauert, die ihre Heimat verloren haben, verlassen mussten. Man bedauert die Leute, aber man ist nichts bedingungslos bereit, etwas für sie zu tun. Das ist die Grundhaltung, die man so ausmachen kann im Moment."
Doch diese "freundlich ablehnende Grundhaltung" ist durchaus umstritten: 50 Nicht-Regierungsorganisationen in Rumänien, darunter zivilgesellschaftliche Vereinigungen wie "Pro Democratia" oder die Rumänische Akademische Gesellschaft, haben einen gemeinsamen Appell an die rumänische Regierung veröffentlicht. Inhalt: Auch Rumänien müsse sich den Flüchtlingen öffnen. Und tatsächlich: Es gibt auch Institutionen, die an so etwas wie einer Willkommenskultur für Flüchtlinge arbeiten. Zu ihnen gehört Professor Marilen Gabriel Pirtea, Rektor der angesehenen West-Universität in Timisoara. Dort werden gerade Integrations- und Sprachkurse für Asylsuchende vorbereitet. Im Gegensatz zu vielen Landsleuten glaubt Pirtea, dass Flüchtlinge auch eine Chance für Rumänien bedeuten könnten: "Rumänien ist ein Land, in dem es sich lohnt, zu investieren und zu arbeiten. Schließlich hat unser Land große Wachstumspotenziale. Als Mitglied der Europäischen Union hat Rumänien gezeigt, dass auch wir uns auf ein sehr gutes Niveau zubewegen. Wie ich gehört habe, sind derzeit rund eine Million Flüchtlinge aus Syrien bereits unterwegs; weitere vier Millionen machen sich demnächst auf den Weg Richtung Europa. Da können ja nicht alle in Deutschland, Schweden oder Österreich unterkommen."
Nach Rumänien wollen sie nicht
Doch nach Rumänien wollen sie eben auch nicht. Andreea Oance, ebenfalls Redakteurin der "Banater Zeitung", blickt auf eine aktuelle Meldung am Bildschirm, schmunzelt dabei: "Zwei Afghanen, sie haben sich verlaufen, sind in Rumänien angekommen. Das war an der Grenze zu Serbien. Verzweifelt hätten sie schon angefangen zu weinen, haben die Grenzpolizisten gesagt, weil sie eigentlich total erschöpft nicht nach Rumänien wollten. Sie wollten über Ungarn nach Deutschland dann kommen."
Da muss auch Redaktionschef Werner Kremm schmunzeln, wird aber Sekunden später wieder ernst: Das passt ins Bild, sagt er: "Anscheinend hat Rumänien denselben Ruf wie im Goldenen Westen: Dass es kein Land ist, wo man zu leben wünscht, sondern eher ein Land, aus dem man weggeht. Nicht umsonst sind über zwei Millionen Rumänen in Westeuropa tätig."
Und so bleiben nach Kremms Meinung die Zeltstädte an der Grenze zu Serbien weiterhin Geisterstädte. Das könnte sich allerdings ändern, wenn sich andere Balkanländer ebenso abschotten wie Ungarn, Zäune bauen, Strafgesetze verschärfen. "Dann werden Umwege gesucht. Und Rumänien ist ein möglicher Umweg. Aber als Bleibeland scheint Rumänien überhaupt nicht von Interesse zu sein."