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Rupert Neudeck
"Das Foto zeigt den Zustand der verlassensten Nation der Welt"

Rupert Neudeck befürwortet die massenhafte Veröffentlichung des Fotos eines dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen, der tot an einem türkischen Strand liegt. Zwar könne der emotionale Umgang mit verheerenden Krisen auch gefährlich werden, doch in diesem Fall bewirke das Bild aktives Handeln, sagte der Vorsitzende des Friedenscorps Grünhelme im Deutschlandfunk.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Der Grünhelme-Vorsitzende Rupert Neudeck
    Der Grünhelme-Vorsitzende Rupert Neudeck (dpa / Rainer Jensen)
    "Kindheitseindrücke sind für jeden Menschen von gewaltiger Bedeutung", sagte Rupert Neudeck. Insofern könne man sich leicht ausmalen, wie grässlich Erfahrungen von Krieg und Flucht auf Hunderttausende Kinder alleine in Syrien wirkten.
    Um eine aufrüttelnde Wirkung zu erzielen, müssten manchmal eben auch unerwartete Bilder gezeigt werden, wie das des kleinen toten Jungen.
    Neudeck betonte, dass bereits die Hälfte der syrischen Gesamtbevölkerung außer Landes geflüchtet sei - oder auf dem Weg dorthin.
    "Es scheint, als ob dem Regime in Damaskus und dem IS das Schicksal der Zivilbevölkerung total egal ist."

    Das Interview in voler Länge:
    Christoph Heinemann: Wahrscheinlich ging es vielen so. Als ich das Bild gestern gesehen habe, fiel mir als Erstes ein: Das könnte mein Jüngster sein am Strand von Bodrum, nicht schwimmend, in den Wellen tobend oder beim Bau einer der vielen Sandburgen, die wir gemeinsam errichtet haben, sondern am Boden liegend, das Gesicht dem Wasser zugewendet, tot. Auch sein Bruder und seine Mutter ertranken auf der Flucht. Der französische Premierminister Manuel Valls twitterte gestern, "er hatte einen Namen: Ailan Kurdi. Höchste Zeit zu handeln. Höchste Zeit für eine europäische Mobilisierung." - Vielleicht bewirkt das Bild wirklich etwas in Frankreich.
    Der Blick nach Ungarn stimmt nicht optimistisch. Die "Bild"-Zeitung hatte das Foto gestern auf ihrer letzten Seite gedruckt, britische Zeitungen auf den Titelseiten.
    Mitgehört hat Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Kap Anamur und Grünhelme. Guten Morgen.
    Rupert Neudeck: Guten Morgen!
    "Syrien ist die verlassenste Nation der Welt"
    Heinemann: Herr Neudeck, was zeigt dieses Foto im übertragenen Sinne?
    Neudeck: Das zeigt den Zustand der verlassensten Nation der Welt: Der Syrer, die jetzt seit vier Jahren ununterbrochen von mehreren Regimen, von mehreren Armeen außer Atem gehalten werden, zur Hälfte aus dem Land herausgejagt wurden.
    Man muss sich mal vorstellen: 22 Millionen Syrer. Von denen sind elf Millionen Syrer entweder außerhalb des Landes schon, oder auf dem Wege dorthin. Und es kann auch sein, dass noch mehr, dass nicht nur die Hälfte im Lande bleibt, sondern dass noch mehr herauskommen. Es scheint so, dass dem Regime in Damaskus und der IS, die in gewisser Weise an einem Arm dabei ziehen, dass denen das Schicksal der Zivilgesellschaft in Syrien total egal ist.
    Es gibt in diesem verlassensten aller Dramen, die wir in den letzten Lebensjahren erlebt haben, es gibt neue Bomben dort, es gibt neue Waffen, es gibt Fassbomben, die auf Ortschaften, auf Großagglomerationen von Bevölkerung runtergeworfen werden aus Hubschraubern - Fassbomben deshalb, weil in Fässer geht mehr TNT hinein, um Menschen zu ermorden, und das ist alles eine ganz furchtbare Katastrophe.
    "Es muss auch mal das Bild eines kleinen Kindes sein"
    Heinemann: Seit Jahren sehen wir ja Bilder, Filmberichte, die das Elend und den Tot von Menschen auf der Flucht zeigen. Wieso wirkt dieses Bild so stark?
    Neudeck: Das hat manchmal eine Vorlaufzeit. Wir alle sind uns klar durch die Fülle der Bilder, die wir ja haben in unserer Lebenszeit jetzt, durch das Fernsehen, durch die sozialen Medien, durch die digitale Kommunikation, dass es ganz viele Bilder schon gab.
    Aber es muss manchmal dann noch so ein Bild kommen, das unerwartet ist, das uns dann zeigt, was wir nicht immer aktiv bewusst haben in unserem Kopf und in unserem Gedächtnis, es muss auch mal das Bild eines kleinen Kindes sein, das unschuldig, wie man gut sagt auf der Welt, am Strand von Bodrum am Mittelmeer verendet.
    Das ist dann der Klick, das ist auf einmal der Moment, wo das Ganze Drama, diese Tragödie des syrischen Volkes, das wir seit vier Jahren passiv miterleben, wie auf einmal das umkippt in ein aktives Tun, sogar die "Bild"-Zeitung dazu animiert, die ganze letzte Seite ihrer Zeitung gestern damit zu belichten.
    "Das Schiff Kap Anamur war ein Bild in allen Köpfen"
    Heinemann: Hat Ihnen die Macht der Bilder geholfen, als Sie mit Kap Anamur die vietnamesischen Flüchtlinge gerettet haben?
    Neudeck: Ja. Man muss immer sagen, Bilder sowohl reproduziert über die Kamera seiner Zeit noch und jetzt auch über die digitalen Medien, aber auch Bilder in der Wirklichkeit. Ein Bild in der Wirklichkeit, was man gar nicht mehr fotografieren musste, was ein Ausdruck ist dessen, was sofort die Gefühle von Menschen animiert, ist ein Schiff, das in der Lage ist, Menschen aus Seenot zu retten, und das ausdrücklich und dann noch von der eigenen Bevölkerung seinerzeit dafür ausgerüstet wurde.
    Das Schiff Kap Anamur war ein Bild in allen Köpfen meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger und war ein Synonym für Lebensrettung, die organisiert wurde aus der eigenen Bevölkerung, und deshalb brauchten wir die Bilder im Fernsehen gar nicht, die dann einfach dazukamen.
    Die Macht der Bilder
    Heinemann: Nun gab es schon Bilder, die eine enorme Wirkung entfaltet haben und die sich dann später als montiert oder in einen falschen Zusammenhang gestellt erwiesen haben. Ist der emotionale Zugang zu oder der Umgang mit solchen Krisen nicht auch gefährlich?
    Neudeck: Das kann natürlich gefährlich sein. Aber ich denke, dass wir in den wenigen Fällen, wo wir diese dramatischenemotionsauslösenden Bilder bekommen haben, dass wir immer auch gleich gewusst haben, ob es ein Fake ist, ein betrügerisches Bild.
    Wir hatten das seinerzeit 2003 beim amerikanischen Angriff in Bagdad, als organisiert wurde, sichtbar organisiert wurde der Sturz des Denkmals von Saddam Hussein in Bagdad, mitten in Bagdad. Das war erkennbar als eine organisierte Demonstration in Bild.
    Wir haben aber auch Bilder, die ganz eindeutig sich als wahrhaftig dargestellt haben. Es hat ein Bild gegeben, drei Jahre vor dem endgültigen Ende des Vietnam-Krieges 1972, das alle Menschen kennen, von dem wir sogar das Opfer noch kennen. Es sind fünf Kinder, die nach einem Napalm-Angriff, eine der furchtbarsten Waffen, die man sich vorstellen kann. Nach einem Napalm-Angriff laufen fünf Kinder eine Straße in der Nähe von Dalat herunter Trang Bang. Da ist in der Mitte ein nacktes Mädchen, ein junges nacktes Mädchen, das weinend, heulend und auch schon sichtbar mit Verbrennungsfolgen an der Haut zu sehen ist.
    Diese Kinder laufen dem Fotografen entgegen. Wir kennen den Fotografen auch, der hat danach den Pulitzerpreis bekommen in Amerika. Dieses Mädchen, Kim Phuc, ist nach Kanada später gekommen und hat immer wieder davon auch gesprochen, wie bewegend diese Situation war.
    Der Fotograf hat sich - das will ich noch schnell sagen - danach sofort um das Mädchen gekümmert, es in ein Krankenhaus gebracht. Es hatte 60 Prozent Hautverlust durch den Napalm-Bombenangriff und konnte durch 17 Operationen gerettet werden. Das ist zum Beispiel ein klares Bild dafür, dass man auch entscheiden kann, dass ein Bild nicht eine Propaganda, eine PR-Maßnahme der kriegführenden Nation ist.
    Heinemann: Wenn Sie Pech gehabt hätten, Herr Neudeck, hätte Ihr Leben vor rund 70 Jahren so geendet wie das von Ailan Kurdi. Sie befanden sich auf der Flucht von Westpreußen über die Ostsee Richtung Westfalen und Sie waren damals nur wenig älter als der Junge in dem roten T-Shirt. Wie erlebt ein Kind Flucht?
    "Kindheitseindrücke sind für Menschen von gewaltiger Bedeutung"
    Neudeck: Das kann man überhaupt nicht überschätzen, was das für Menschen bedeutet.
    Kindheitseindrücke - das wissen wir ja - sind für jeden Menschen von gewaltiger Bedeutung und deshalb sind solche Kindheitseindrücke wie der Verlust des Vertrauens in die Mutter und den Vater, der Verlust des Vertrauens in die Macht der Eltern, die beschützen, die bisher immer nur Beschützer waren, das ist etwas ganz Furchtbares für solche jungen Menschen.
    Und wenn man sich das klar macht, dann wird einem auch klar, wie grässlich die Folgen gerade solcher Kriege und Konflikte, die wir jetzt auch in Syrien und im Nordirak haben, wie grässlich die Folgen solcher Erfahrungen und Erlebnisse auf Hundertausende von jungen Menschen jetzt gerade aus Syrien sind, die keine Schule jetzt haben, die nicht einen geregelten Arbeitstag haben, die immer nur warten darauf, dass das Vertrauen in die Menschheit, das ihnen verloren gegangen ist, wieder zurückkommen kann, möglicherweise, hoffentlich.
    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Kap Anamur und Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Neudeck: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.