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Rush-Schlagzeuger Neil Peart
Im Zentrum des Song-Kosmos

Anfang 2020 starb Neil Peart von der kanadischen Band Rush. Er gilt als einer der besten Rock-Schlagzeuger, doch auch als Texter prägte er das Progrock-Trio wesentlich. Der leidenschaftliche Leser verarbeitete komplexe Themen zu Songtexten: von Zeitgeschichte bis Science Fiction.

Von Fabian Elsäßer | 27.12.2020
Ein Mann mit Kopftuch sitzt an einem Schlagzeug.
Anfang 2020 verstorben: der Schlagzeuger Neil Peart. (imago / Erik Kabik Photography /MediaPunch)
Musik: "Lakeside Park"
Mit Anfang 20 hatte Neil Peart seine Träume vom Leben als Berufsmusiker fast schon begraben. Nach ersten Erfahrungen mit lokalen Bands in seiner Heimatstadt Hamilton, Ontario, war er wagemutig nach London gezogen, um Profimusiker zu werden. Dort hatte aber niemand auf das Landei aus Kanada gewartet. Peart schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, und landete schließlich in der Traktorenwerkstatt, in der sein Vater arbeitete. Hätten Bassist Geddy Lee und Gitarrist Alex Lifeson von Rush nicht nach dem Ausstieg ihres Schlagzeugers John Rutsey einen Nachfolger gesucht und das Talent von Neil Peart erkannt, wäre die Geschichte von Peart UND Rush an dieser Stelle zu Ende, bevor sie angefangen hatte.
Musik: "The Temples of Syrinx"
Ohne akademische Vorbildung aufgeblüht
Da Lifeson und Lee am Texteschreiben wenig Freude fanden, überließen sie das bald ihrem neuen Bandkollegen. Und der blühte dabei regelrecht auf. Neil Peart war ohne akademische Vorbildung wohl immer schon ein wissbegieriger, leidenschaftlicher Leser gewesen. Die ersten vier bis fünf Rush-Alben mit ihm spiegeln das deutlich wider: Peart schrieb beispielsweise Science-Fiction-Rock-Opern wie "2112", in der ein junger Mann in einem autokratischen Staat in ferner Zukunft eine alte Gitarre findet und bis zum bitteren Ende mit der Schönheit ihrer Klänge aufbegehrt gegen das System und die Musik der Tempel von Syrinx – was übrigens in der griechischen Mythologie der Name einer Wasserfee ist, die in eine Panflöte verwandelt wird, aber das nur am Rande.
Musik: "Xanadu"
Und er verwandelte sogar das Gedicht des britischen Romantikers und "Lake Poets" Samuel Taylor Coleridge über den mongolischen Herrscher "Kublai Khan" in einen Rock-Songtext. Doch ebenso elegant konnte er die Sehnsüchte der Ausgegrenzten und Missverstandenen beschreiben, der grauen Mäuse in den Kleinstädten, der Gemobbten auf den Schulhöfen. Die Vororte haben nichts, was die rastlosen Träume der Jugend lindern könnte, heißt es in "Subdivisions" von 1982.
Musik: "Subdivions"
Aus heutiger Sicht etwas befremdlich wirkt Neil Pearts zeitweilige Begeisterung für die Gedankenwelt der russisch-amerikanischen Philosophin Ayn Rand. Deren Philosophie des Objektivismus mutet inzwischen wie das Grundgesetz der Trump-Wählerschaft an: der Stärkere setzt sich durch, der Staat hat sich zurückzuhalten, Sozialleistungen sind unredlich, denn die freien Kräfte des Marktes werden alles zum Guten regeln.
Musik: "Free Will"
Späte Distanzierung
Was Peart daraus in seiner 20er-Jahren hörte, war: Ich entscheide mich für den freien Willen. "I will choose Free Will". Später distanzierte er sich von Ayn Rand und bezeichnete sich selbst als linksliberal.
Musik: "Marathon"
Die interessanteste Phase im Schaffen des Texters Neil Peart sind wohl die Jahre 1981 bis 1989, von den Alben "Moving Pictures" bis "Presto". Peart scheint in dieser Zeit aus allem, was er liest, sieht, oder hört einen Text machen zu können. Das Atombombenprogramm der USA im zweiten Weltkrieg wird zum Song Manhattan Project. Hochleistungssport? – Marathon. Der Start der ersten Challenger-Fähre? – Countdown. Verschmutzung der Weltmeere? – Red Tide.
Musik: "Red Sector A"
Sogar die Familiengeschichte seines Bandfreundes und Bassisten Geddy Lee, dessen Eltern den Holocaust überlebten, verarbeitet er. "Red Sector A" vom 1984er – Album "Grace under pressure" schildert das Grauen der Konzentrationslager aus Sicht eines Häftlings, aber eben im Moment der Befreiung, in der aus Angst Hoffnung werden könnte: "The sound of gunfires at the prison gates, are the liberators here, do I hope or do I fear?"
Musik: "Ghost ("It was late after midnight, when we made unconditional love…"
Ab Mitte der 90er dichtete Rush-Schlagzeuger und Texter Neil Peart, inzwischen Ende 30, verheiratet und Vater, eher über das Private und die unterschwellige Dynamik von Beziehungsgeflechten. Bis er 1997 jäh verstummte. In diesem Jahr kam seine gerade volljährige Tochter bei einem Autounfall ums Leben, ein Jahr später starb seine Frau – offenbar seelisch gebrochen – an Krebs. "Consider me retired", soll er seinen Band-Freunden gesagt und dann lange über Selbsttötung nachgedacht haben. Stattdessen fuhr er mit seinem Motorrad 50.000 Meilen von Alaska bis Feuerland, ein Akt der Befreiung, über den er später das Buch "Ghost Rider" schrieb. 2002 waren Rush wieder da und veröffentlichten noch drei weitere Alben mit neuem Material. Die Texte waren klug, wie immer, doch die Musik drehte sich ins Schroffe, wurde überlaut abgemischt, schien sich nach der Erschütterung alter Gewissheiten in den Händen ihrer Schöpfer nicht mehr wohl zu fühlen oder umgekehrt.
Musik: "The Wreckers oder Garden oder NN"
Das letzte Rush-Album erschien 2012, und auch wenn es musikalisch nicht an die Werke der 70er bis 90er heranreichte, entwarf der Texter Neil Peart noch einmal ein großes Tableau für seine gedankengeschulte Hörerschaft. "Clockwork Angels" erzählte von der Heldenreise eines jungen Mannes, dem der elterliche Bauernhof zu eng wird, und der hinauszieht in eine unruhige Welt, um Abenteuer und Erfüllung zu finden. Findige Fans vermuteten Anspielungen auf Voltaire’s Candide, auf Joseph Conrad, Daphne du Maurier bis hin zu Michael Ondaatje. Dabei hat Neil Ellwood Peart, der Sohn eines Landmaschinenmechanikers aus Hamilton, Ontario, jener Schlagzeuger also, der die größten Konzerthallen der Welt bespielt und dessen Band Millionen Platten verkauft hat, womöglich einfach – sich selbst gemeint.
Musik: "LIMELIGHT" . I can’t pretend a stranger is a long awaited friend