Lasnamäe ist ein Stadtteil im Osten von Tallinn: Das schmucke Zentrum der alten Hansestadt liegt nur wenige Kilometer entfernt - gefühlt liegen dazwischen jedoch Welten. Denn Lasnamäe, das sind vor allem Plattenbauten aus jener Zeit, als Estland noch Teil der Sowjetunion war. Mit Estnisch kommt man hier schlecht oder gar nicht durch – stattdessen spricht man Russisch: Mehr als drei Viertel der Bewohner hier gehören zur russischsprachigen Minderheit im Land.
Edgar Kellmann hat es eilig, der drahtige 24-Jährige mit dunklen langen Haaren ist auf dem Weg zur Arbeit. Die Krise in der Ukraine und die Krim sind ihm aber so wichtig, dass er stehen bleibt und sich schnell in Fahrt redet:
"Die Krim ist wieder russisch, und das ist absolut gerechtfertigt! Historisch war das ja immer ein Teil Russlands, über viele Jahrhunderte. Wissen Sie, meine Großmutter lebt dort, in Jalta, andere Verwandte von mir wohnen in Donezk in der Ostukraine. Und alle Leute dort sind mehr als glücklich, weil die Krim wieder russisch ist. Die Menschen verbinden das mit großen Hoffnungen für ihre Zukunft."
Die Reaktion des Westens, sagt Edgar, sei doch ein gegen Putin gerichtetes politisches Spiel, ein sehr durchsichtiges Spiel, wie er findet, mit dem Ziel Russland zu schwächen und westliche Interessen in der die Ukraine zu sichern.
Das sieht auch Olga Leontjewa so, die gerade mit Tüten beladen vom Großeinkauf im Supermarkt kommt. Olga wurde in St. Petersburg geboren, sie lebt seit 40 Jahren in Estland und hat wie Edgar Kellmann einen estnischen Pass. Das ist nicht selbstverständlich: In Estland leben rund 400.000 Russischstämmige. Nur jeder zweite ist estnischer Staatsbürger. Viele sind staatenlos oder gelten als Ausländer, obwohl sie zum Teil schon sehr lange hier leben.
"Der Anschluss an Russland, das war doch der freie Wille der Menschen auf der Krim. Das muss man akzeptieren! Ich fühle und denke eigentlich sehr international, aber in Kiew sind jetzt Nationalisten und Faschisten an der Macht, und die EU tanzt in der ganzen Geschichte doch nur nach der Pfeife Amerikas."
Keine Lust, mit Esten über die aktuelle Politik zu diskutieren
Die meisten Russischstämmigen sehen die Entwicklung in der Ukraine mit völlig anderen Augen als die estnische Kernbevölkerung, das bestätigt auch Alexej Semjonow. Der Soziologe leitet das russischsprachige Informationszentrum für Menschenrechte in Tallinn:
"Ehrlich gesagt: Ich habe aufgehört mit Esten über aktuelle Politik zu diskutieren, viele haben einfach keine Ahnung von der Geschichte, das zeigt sich auch jetzt ganz deutlich wieder. Dass die Krim zum Beispiel unter Chruschtschow ukrainisch wurde, war noch nicht einmal mit geltendem sowjetischen Recht vereinbar. Es gibt da einen deutlich spürbaren Graben zwischen Esten und Russischstämmigen im Land, keine Feindschaft, aber eine deutliche Entfremdung.
Dabei hat diese Entfremdung laut Alexej Semjonow nur am Rande mit den aktuellen Vorkommnissen in der Ukraine zu tun. Viel entscheidender sei die Tatsache, dass die russischsprachige Minderheit sich seit der estnischen Unabhängigkeit 1991 drangsaliert fühle, vor allem durch die rigide Sprachpolitik Estlands. Seit 2011 etwa muss ein Großteil des Unterrichts auch an russischen Oberschulen im Land auf Estnisch erfolgen – selbst, wenn Lehrer, Schüler oder deren Eltern nur Russisch beherrschen.
Edgar Kellmann aus dem Stadtteil Lasnamäe arbeitet in seiner Firma vor allem mit Esten zusammen. Da gebe es keine Probleme, sagt er, ob man sich verstehe oder nicht, sei doch eher eine menschliche Frage, keine kulturelle oder sprachliche.
"Ich habe schon darüber nachgedacht nach Russland zu ziehen, wo ich viele Verwandte habe. Vor allem 2007 kam mir dieser Gedanke, damals gab es Straßenschlachten zwischen jungen Russen und der estnischen Polizei hier in Tallinn, es ging um die Verlegung eines sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Stadtzentrum. Aber ich bleibe hier, denke ich, der Mensch fühlt sich doch sehr verbunden mit seiner Heimaterde, und das ist bei mir nun mal Estland."