Konkret verwies Ischinger auf Überflüge ohne Transponder, die zu Unfällen führen könnten und die auch die amerikanischen Streitkräfte und die NATO betrieben. Er forderte alle Beteiligten dazu auf, sich an frühere restriktive Regeln zu halten: "Es ist richtig, wenn wir den USA dazu raten, jetzt in dieser aufgeladenen Atmosphäre, keine Waffensysteme mit Angriffscharakter in die Ukraine zu verlagern."
In der NATO-Russland-Grundakte sei 1997 festgelegt worden, keine größeren Kampfverbände in den künftigen NATO-Staaten zu stationieren. Deutschland habe mit seiner Forderung recht, trotz der Annexion der Krim an diesen Bestimmungen festzuhalten, so Ischinger. Grundsätzlich plädierte der ehemalige Diplomat dafür, in der jetzigen Situation Ruhe zu bewahren. Sowohl bei den USA als auch aufseiten Russlands handele es sich lediglich um Überlegungen, auf die man nicht aufgeregt reagieren solle.
"Wir sollten Ruhe bewahren"
Nach den Worten von Russlands Präsident Wladimir Putin wird Russland noch in diesem Jahr mehr als 40 Interkontinental-Raketen anschaffen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Grund der Ankündigung sind offenbar Überlegungen der USA, schweres Militärgerät in mehrere Länder Osteuropas und des Baltikums zu verlegen. Polen und Litauen bestätigten, dass es diesbezüglich Gespräche mit der US-Regierung gibt.
US-Außenminister John Kerry warnte angesichts der russischen Pläne zur Aufstockung des Atomwaffenarsenals vor einem Rückfall in den Kalten Krieg. Einen solchen Schritt wolle keiner sehen, erklärte Kerry in Washington. NATO-Generalsekretär Stoltenberg sprach von einem nuklearen Säbelrasseln. Dieses sei nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch destabilisierend und gefährlich, sagte er in Brüssel. Die Ankündigung Moskaus sei ein Grund für die verstärkte Wachsamkeit der NATO.
Das Interview im Wortlaut
Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, die sich seit gestern mit ihrer Core Group, ihrer Kerngruppe zu einem ihrer Zwischentreffen in Wien zusammengefunden hat. Guten Morgen, Herr Ischinger.
Wolfgang Ischinger: Guten Morgen!
Klein: Beginnen wir mit den aktuellen Meldungen. Moskau droht damit, das Atomwaffenarsenal auszubauen, als Reaktion darauf, dass die USA nach Osteuropa schwere Waffen verlegen wollen. Wie besorgniserregend ist das Ihrer Meinung nach?
Ischinger: Ich rate beiden Seiten, sowohl rhetorisch wie auch inhaltlich nicht auf-, sondern abzurüsten. Was wir hier erleben - und zwar nicht erst seit gestern -, sind militärische Muskelspiele verschiedenster Art, nicht nur übrigens, nicht nur auf russischer Seite, die unnötig, gefährlich sind und sofort aufhören sollten.
Es wäre viel besser, wenn die NATO sofort der russischen Seite das Angebot machen würde, dass beide Seiten auf solche militärischen Muskelspiele, wie ich sie nenne, Überflüge ohne Transponder, also ohne auf den Radarschirmen aufzutauchen, wenn man diese Dinge entweder ganz einstellen, oder jedenfalls aufgrund einer Verabredung massiv reduzieren würde, damit es keine Unfälle, damit es keine Missverständnisse, damit es keine politische und militärische Eskalation gibt.
Klein: Wird die NATO diesen Vorschlag unterbreiten und wenn nicht, weshalb nicht?
Ischinger: Ich hatte selbst Gelegenheit, vor ganz wenigen Tagen mit dem Generalsekretär der NATO über diese Fragen zu sprechen. Ich weiß, dass er diese Überlegungen richtig findet. Ob sich das Bündnis zu einem solchen Schritt, zu einem solchen Angebot an die russische Seite durchringt, wird man sicherlich spätestens bei dem NATO-Verteidigungsministertreffen in wenigen Tagen sehen. Ich halte es jedenfalls für ein Gebot der Vernunft.
Ischinger warnt vor Verstößen gegen die NATO-Russland-Grundakte
Klein: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann halten Sie es auch für einen Fehler, dass die USA jetzt laut darüber nachgedacht haben und das offensichtlich auch auf Wunsch Osteuropas planen, schwere Waffen dorthin zu verlegen?
Ischinger: Das muss man differenziert betrachten. Wir haben 1997 in der sogenannten NATO-Russland-Grundakte festgelegt, dass wir keine größeren Kampfverbände in den künftigen, damals noch nicht genau definierten neuen NATO-Staaten dislozieren würden. Ich bin der Meinung, die Bundesregierung hat recht, wenn sie die Auffassung vertreten hat, dass wir trotz des russischen Verhaltens in der Ostukraine, trotz der Annexion der Krim an den Bestimmungen dieser NATO-Russland-Grundakte festhalten sollten, dass wir also keine solchen Kampfverbände trotz aller Bitten der Balten und der Polen in diesen Ländern stationieren sollten. Ob die Verbringung von Waffensystemen, die Lagerung von Waffensystemen diesen Bestimmungen widersprechen würde, bezweifele ich. Jedenfalls nach dem Wortlaut wäre das kein Verstoß.
Und, Frau Klein, es ist ein schwieriges Thema. Was wirkt denn mehr eskalierend, die Verbringung von solchen Waffensystemen als Mittel der Rückversicherung in einer Zeit doch relativen Friedens, oder wenn tatsächlich eine Krise dringender werden sollte, dann die Anlieferung von schwerem Kriegsgerät nach Osteuropa, was wirkt denn eher krisenverschärfend? Insoweit kann man durchaus auch argumentieren, dass eine solche Lagerung vielleicht gar nicht so unvernünftig wäre.
Klein: Ich habe Sie deswegen gefragt, Herr Ischinger, weil Sie ja zu Beginn gesagt haben, Sie raten beiden Seiten dazu, aufzuhören mit den Muskelspielen und einem möglichen Wettrüsten. Was meinen Sie denn aufseiten der USA mit Wettrüsten oder Muskelspielen, wenn Sie nicht das meinen, dass sozusagen Waffen nach Osteuropa verlegt werden?
Ischinger: Auch die amerikanischen Streitkräfte, auch die NATO betreibt ähnliche Überflüge. Man begründet das immer mit der Notwendigkeit, für den Ernstfall zu trainieren. Aber wie gesagt: Ich bin der Meinung, hier hat es früher restriktive Regeln gegeben. Die muss man aus der Schublade holen, man muss sie bekräftigen, man muss sie den neuen Waffensystemen anpassen. Es ist auch richtig, wenn wir den USA dazu raten, jetzt in dieser aufgeladenen Atmosphäre keine Waffensysteme, die Angriffs-Charakter haben könnten, an die Ukraine zu liefern. Auch das wäre eher vertrauensbildend und nicht vertrauenzerstörend.
Ein Signal der Deeskalation
Klein: Ist denn das, was jetzt geplant ist vonseiten der USA, im Einvernehmen und in Abstimmung mit der NATO geschehen, weil Sie ja auch gesagt haben, die NATO wird da auch einen Appell oder einen Vorschlag darbringen, der sich auch an die USA dann richtet in dem Fall?
Ischinger: Was wir in den Schlagzeilen zurzeit lesen, sind nach meiner Kenntnis amerikanische Überlegungen. Die sind noch nicht einmal innerhalb der amerikanischen Regierung beschlossen. Ich gehe davon aus, dass die amerikanische Regierung, wenn sie sich entschließen sollte, diese Verlagerungsentscheidung zu treffen, dies natürlich, wie sich das gehört, im Bündnis mit den Partnern bespricht, und dann wird man bei dieser Gelegenheit noch einmal genau besprechen können, ob es dabei bleibt, dass das Bündnis als einen Schritt des Vertrauens, als ein Signal der Deeskalation, dass das Bündnis daran festhält, dass es die NATO-Russland-Grundakte nicht verletzt, trotz der massiven Verletzungen auf russischer Seite.
Denn, Frau Klein, lassen Sie es mal ein bisschen salopp so formulieren: Russland verbringt militärisches Gerät gegen den Willen seines Nachbarlandes auf das Territorium seines Nachbarlandes. Wenn die USA einige Panzer nach Estland verbringen würde, dann würde es diese Panzer auf das Territorium eines Bündnispartners verbringen auf ausdrücklichen Wunsch dieses Bündnispartners. Das ist der kleine Unterschied.
Klein: Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann würde das die bestehenden NATO-Regelungen und Verträge mit Russland nicht verletzen.
Ischinger: Jedenfalls dann nicht, wenn das nicht verbunden ist mit der Dislozierung, mit der Stationierung von Truppen, von Soldaten.
"Die NATO ist weit stärker als Russland"
Klein: Gleichzeitig, um das auch noch mal konkret zu machen, haben Sie aber auch davor gewarnt, im Augenblick Waffen direkt an die Ukraine zu liefern, und Sie sagen auch, diese Überflüge ohne Transponder müssen aufhören, damit wir das noch mal klargezogen haben. - Was soll denn jetzt die Reaktion sein, wenn Putin damit droht, das Atomwaffenarsenal auszubauen, jetzt mal unabhängig davon, dass die NATO irgendwann mal irgendetwas dazu sagen könnte?
Ischinger: Ich plädiere dafür, hier Ruhe zu bewahren. Es ist nicht gesagt worden von russischer Seite, dass man hier etwa aus den bestehenden Rüstungskontrollverträgen mit den USA - denken Sie an das neue START-Abkommen, das ja erst vor wenigen Jahren abgeschlossen wurde - ausbricht.
Das was hier geplant ist, ist nach meiner Interpretation eine Modernisierung, die nicht verboten ist. Ich empfinde es als unschön, als nicht hilfreich, dass Russland solche Meldungen in diese aufgeladene Atmosphäre hinein platziert. Wir sollten jetzt aber nicht aufgeregt mit ähnlichen, mit Gegenmaßnahmen reagieren, sondern wir sollten Ruhe bewahren.
Die NATO ist weit stärker als Russland. Wir geben viel mehr Geld aus für unsere Verteidigung, auch jetzt noch, trotz der russischen Mehrausgaben, als die russische Seite. Wir können diese Fragen mit Ruhe und Selbstvertrauen behandeln und müssen jetzt nicht nervös reagieren.
Krise im Südosten Europas
Klein: Sicherlich immer ein guter Hinweis, Herr Ischinger. - Wir wollten auch noch auf einen anderen Aspekt schauen in dem Zusammenhang. Ein Argument, das in den aktuellen Debatten, wenn es um Griechenland geht, zumindest hierzulande öffentlich eigentlich weniger eine Rolle spielt, dafür eher bei den Außenpolitikern, nämlich ein Argument gegen den Grexit, gegen das Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro: Man dürfe keine "strategische Flanke" im Südosten Europas in Richtung Russland eröffnen. Wie viel Gewicht besitzt dieses Argument nach Ihrer Meinung?
Klein: Aus rein außenpolitisch strategischer Sicht, ausdrücklich nicht aus finanzieller Eurosicht, aus außenpolitisch strategischer Sicht hat dieses Argument großes Gewicht. Vergessen Sie bitte nicht, dass in Südosteuropa der ewige Landfrieden noch lange nicht ausgebrochen ist. Wir haben vor Kurzem beunruhigende Nachrichten aus Mazedonien gehabt. Die Lage zwischen Serbien und Kosovo ist auch noch nicht so, dass sie dauerhaft stabil ist. Wir haben nach wie vor auch NATO-Truppen im Kosovo, wenn auch weniger als bisher. Der Wegfall Griechenlands, das Herausfallen Griechenlands aus dem EU-Verbund wäre eine Tragödie für unsere Bemühungen, den Südosten Europas weiter und dauerhaft und endgültig zu stabilisieren. Insoweit wäre das schon verhängnisvoll, wenn der Grexit passieren würde, aus außenpolitischer Sicht.
Klein: Herr Ischinger, wir haben noch ungefähr eine Minute. Eine Bitte an Sie, vielleicht ein Beispiel. Was ist denn die größte Befürchtung, was praktisch passieren würde, wenn das eintreten sollte?
Ischinger: Die Befürchtung, die allenthalben diskutiert wird, ist natürlich, dass bei einer Entfremdung, die ja zweifellos passieren würde, wenn Griechenland fallen gelassen würde von der Europäischen Union, dass in diese Lücke die russische Politik hineinstoßen würde und dass wir Bemühungen erleben würden, die eben nicht aus unserer Sicht dazu beitragen, im Südosten Europas Ruhe zu schaffen.
Die Versuchungen sind bestimmt gerade auf der griechischen Linken, aufseiten der gegenwärtigen Regierungspartei nicht unerheblich, sich Unterstützung in Moskau zu suchen. Das würde doch ins Aschgraue wachsen, wenn es jetzt zum Grexit kommen würde. Das ist die Hauptsorge.
Klein: Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, die sich in diesen Tagen mit ihrer Kerngruppe in Wien zusammengefunden hat. Vielen Dank für diese Einschätzung heute Morgen im Deutschlandfunk, Herr Ischinger.
Ischinger: Danke schön, Frau Klein! Auf Wiederhören!
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