"Im Grunde genommen gibt es zum ersten Mal in Polen ein Gefühl, dass die Sicherheit bedroht ist", sagte Reiter im DLF. "Das Sicherheitsgefühl ist wieder fragil." Daher sei es auch eine "gute Idee", dass in diesen Zeiten US-Soldaten im NATO-Mitgliedsland Polen stationiert werden. "Ich weiß nicht, warum das als Provokation empfunden werden könnte" in Moskau, sagte der ehemalige polnische Botschafter. Dieser Schritt sei eine "symbolische Präsenz" und "kein Säbelrasseln, kein Wettbewerb von zwei Großmächten". Der Kreml könne diese militärische Maßnahme als "Teil einer Antwort auf die neue bedrohliche Situation östlich der NATO, östlich der polnischen Grenze" verstehen.
Für Polen sei Russlands derzeitige Außenpolitik unberechenbar, sagte Reiter. Die Lesart des Kremls der Unruhen in der Ukraine habe jeder, der in einem ehemaligen Land des Warschauer Paktes lebte, noch im Ohr. "Jeder Versuch einer Emanzipation wurde begleitet von derselben Melodie: Es waren immer Faschisten, Imperialisten, Agenten von CIA am Werke; das war das gleiche bei der polnischen Solidarność, Solidaritätsbewegung."
Das Interview mit Janusz Reiter in voller Länge:
Christoph Heinemann: Russland hat gestern neue Militärmanöver an der Grenze zur Ukraine angekündigt, als Reaktion auf den ukrainischen Militäreinsatz im Osten des Landes. Russland sei "gezwungen", dieses Wort kann man getrost in Anführungszeichen setzen, auf die Entwicklungen in der Ukraine zu reagieren, hieß es in Moskau. In der Ukraine gibt es unterdessen eine neue Entwicklung, berichtet Markus Sambale:
Aktuelle Lage in der Ost-Ukraine (Audio)
Markus Sambale berichtete, und US-Außenminister Kerry hat das Verhalten Russlands in der Krise als "Sabotage" gebrandmarkt und weitere Sanktionen angedeutet. Angela Merkel, wie gesagt, trifft heute in Berlin ihren polnischen Amtskollegen Donald Tusk. Klaus Remme in unserem Hauptstadtstudio: Sind sich beide einig in der Bewertung dessen, was in Kiew, in Donezk, in Moskau vor sich geht?
Klaus Remme aus unserem Hauptstadtstudio. Wir haben vor dieser Sendung mit Janusz Reiter gesprochen, dem ehemaligen Botschafter Polens in den USA und in Deutschland. Washington droht mit Sanktionen, Moskau rasselt mit dem Säbel. Ich habe Janusz Reiter gefragt, wie bedrohlich das für ihn und für seine Landsleute klingt.
Janusz Reiter: Die Situation in der Ukraine ist schon ein Einschnitt in der Geschichte Polens seit 1989. Im Grunde genommen gibt es zum ersten Mal in Polen ein Gefühl, dass die Sicherheit bedroht ist. Das ist kein Gefühl, dass Polen jetzt unmittelbar von einer militärischen Bedrohung betroffen sein könnte, aber das Sicherheitsgefühl ist wieder fragil. Und das bedeutet auch, dass plötzlich die Sicherheitsfrage an Bedeutung gewinnt. Sie war in den vergangenen Jahren nicht mehr so die zentrale Frage.
"Symbolische Präsenz" der NATO ist wichtig
Heinemann: Ist es eine gute Idee, jetzt US-Soldaten nach Polen und in die baltischen Staaten zu schicken?
Reiter: Es ist eine gute Idee, zu demonstrieren, dass die NATO zu ihren östlichen Mitgliedern steht. Das sind NATO-Soldaten. Es ist eine symbolische Präsenz, die hat keine militärische Relevanz. Es geht um 150 Mann. Aber diese symbolische Präsenz ist ein Signal, dass die Sicherheit der östlichen NATO-Mitglieder von derselben Bedeutung ist und von derselben Qualität ist wie die Sicherheit der anderen, der sogenannten alten NATO-Mitglieder.
Heinemann: Ist es nicht ein Signal, das in Moskau als Provokation empfunden wird?
Reiter: Ich weiß nicht, warum das als Provokation empfunden werden könnte.
Heinemann: Weil die NATO als etwas Feindliches empfunden wird in Moskau oder in Russland.
Reiter: Aber es ist doch hier kein Säbelrasseln, es ist auch kein Wettbewerb von zwei Großmächten. Das Ganze begann mit der Annexion der Krim. Das ist Teil einer Antwort auf die neue bedrohliche Situation östlich der NATO, östlich der polnischen Grenze.
Heinemann: Wie weit geht die Bedrohung? Wird Russland nach der Krim auch Teile der Ukraine besetzen?
Reiter: Das wissen wir nicht. Und das ist ein unangenehmes Gefühl, einen großen Nachbarn zu haben, dessen Verhalten man nicht vorhersehen kann, der unberechenbar ist. Bedenken Sie bitte, Polen ist ein Land, das eine lange Grenze hat mit der Ukraine und auch ein Stück gemeinsame Grenze hat mit Russland. Die Geografie hat hier auch ihre Bedeutung.
Russlands Propaganda: "Ich kenne diese Melodie"
Heinemann: Sie haben eben von der Unberechenbarkeit Russlands gesprochen. Herr Reiter, wenn Sie sich für einen Augenblick in die Lage der politisch Verantwortlichen in Moskau hineinversetzen: In Kiew sind Faschisten an der Regierung beteiligt, nach russischer Lesart. Eine erste Amtshandlung der neuen Regierung war das Verbot der russischen Sprache, das ist inzwischen wieder zurückgenommen worden. In Kiew wurde Präsident Janukowitsch mit den gleichen Mitteln gestürzt, die prorussische Milizen im Osten der Ukraine anwenden, und die Putschisten in Kiew gelten im Westen als Freiheitshelden und die im Osten als Unruhestifter. Können Sie verstehen, dass Moskau vor der eigenen Haustür für Ordnung sorgen möchte?
Reiter: Ich kenne diese Melodie, ich kenne diese Melodie sehr gut. Diese Melodie kennt jeder hier gut, der in einem Land des Warschauer Paktes lebte. Jeder Versuch einer Emanzipation wurde begleitet von derselben Melodie. Es waren immer Faschisten, Imperialisten, Agenten von der CIA am Werke. Das war das Gleiche bei der polnischen Solidarnocz, Solidaritätsbewegung. Ich kenne diese Melodie. Das war auch bei den Prag-Ereignissen. Das ist nichts Neues, das hat eine lange Tradition. Und auch der sogenannte "Minderheitenschutz": Schon im 18. Jahrhundert, da gab es noch nicht den Begriff "russische Minderheit", aber bevor es zu den Teilungen Polens kam, hat die russische Zarin interveniert zugunsten der Russisch-orthodoxen in Polen. Und da gibt es eine lange Tradition der Politik. Und ich glaube, es hilft sehr, die Geschichte zu kennen. Sie zeigt, dass es eben in der Politik vieler Länder doch eine erstaunliche Kontinuität gibt. Und diese Kontinuität geht hinaus über die Zeit des Kalten Krieges. Europäische Geschichte ist länger als die des Kalten Krieges und des Zweiten Weltkrieges. Sie hat mehr Deutungsmuster zu bieten. Also ich empfehle sehr, in diesen Tagen Geschichte zu studieren.
Heinemann: Wie sollte man mit dieser Kontinuität und dieser Melodie, die Sie angesprochen haben, umgehen?
Reiter: Man muss vor allem wissen, was man selber will. Man muss Entschlossenheit zeigen. Denn nur Entschlossenheit - es geht nicht darum, jetzt Muskeln spielen zu lassen. Nein, es geht darum, Entschlossenheit zu zeigen und deutlich zu sagen, was man akzeptieren und was man nicht akzeptieren kann. Nur das wird respektiert.
Energieunion: "Die Europäische Union besser aufstellen"
Heinemann: Ministerpräsident Donald Tusk hat eine europäische Energieunion vorgeschlagen. Mit welchem Ziel?
Reiter: Mit dem Ziel, gerade eben hier auch eine potenzielle Stärke der Europäischen Union zu nutzen. Als großer Käufer von Energie, Importeur von Energie, und als ein großer Wirtschaftsblock. Die Europäische Union hat doch eine Wirtschaftsstärke, die ist viel größer als die von Russland, und trotzdem bekommen wir Angst, wenn zumindest bei uns der Gedanke aufgeht, wir könnten von Russland bedroht werden, indem die Gaslieferungen gestoppt werden könnten. Also, es geht nur darum, die Europäische Union besser aufzustellen. Das kann man nur erreichen, wenn sie gemeinsam auftritt gegenüber ihren äußeren Partnern, Energiepartnern und Energielieferanten. Und Russland ist eben der wichtigste und der schwierigste unter ihnen.
Heinemann: Heißt das, Herr Reiter, für die deutsche Energiepolitik weniger Ideologie, mehr strategische Überlegungen?
Reiter: Ich glaube, das ist ein Grund, der gilt für alle Länder. Wir brauchen eine pragmatische Energiepolitik, und wir brauchen eine Energiepolitik, die sich den Realitäten stellt. Das sagt nichts aus darüber, wie viel das eine oder andere Land an erneuerbarer Energie haben soll oder an Kohle im polnischen Fall oder an Gas. Ich bin überzeugt, dass die erneuerbaren Energien ein wichtiger Teil des europäischen Energiemixes ist und sein wird -
Heinemann: Aber konkret gefragt, Entschuldigung. Kann man sich ohne Kohle und ohne Atomenergie von Russland unabhängig machen, energiepolitisch?
Reiter: Im Falle von Polen kann man auf Kohle jedenfalls nicht mittelfristig verzichten.
Abhängigkeit von Russland: "Eine Schieflage, die korrigiert werden muss"
Heinemann: Und im Fall von Deutschland?
Reiter: Im Fall von Deutschland, da kann ich nur Äußerungen von deutschen Spitzenpolitikern zitieren, die sagen, Kohle bleibt ein Teil des deutschen Energiemixes, nur natürlich in einem ganz anderen Umfang, als das in Polen der Fall sein wird. Ich will niemandem empfehlen, auf Atomenergie zu setzen, und ich will nicht, dass irgendjemand meinem Land empfiehlt, auf Atomenergie nicht zu setzen. Das sind Entscheidungen, die die Nationalstaaten treffen müssen. Dort, wo wir von äußeren Lieferanten abhängig sind, da müssen wir aber geschlossen auftreten, und das ist eben der Fall bei den Gaslieferungen. Die Europäische Union bezieht eben über 30 Prozent ihrer Gaslieferungen - es gibt Länder, die 100 Prozent ihrer Gaslieferungen bekommen von Russland. Das schafft eine Schieflage, das muss man korrigieren.
Heinemann: Herr Reiter, Sie haben eben die Notwendigkeit der Geschichte oder von Geschichtskenntnissen betont. Erinnert Sie 2014 an 1914?
Reiter: Nein, das glaube ich nicht. Es ist nur ein Zeichen, dass wir in dem Europa 25 Jahre nach dem Kalten Krieg mit einem Phänomen zu tun haben, das viele "Rückkehr der Geschichte" nennen. Also die Traditionen, die man für überwunden hält, gewinnen plötzlich an Bedeutung. Und das muss man einfach wissen.
Heinemann: Janusz Reiter, der ehemalige Botschafter der Republik Polen in den USA und in Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.