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Russische Geschichte
Mit den Augen einer Siebenjährigen

Einhundert Jahre russische Geschichte in einem Bilderbuch: Das ist der Autorin Alexandra Litwina und der Illustratorin Anna Desnitzkaya gelungen. "In einem alten Haus in Moskau" heißt ihr Buch, das historische Meilensteine im Leben einer Familie zeigt.

Von Frederik Rother |
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    100 Jahre russische Geschichte für Kinder. (Foto: imago / Cover: Gerstenberg-Verlag)
    Am 5. März 1953 stirbt Stalin. Es gibt nur wenige Daten in der sowjetischen Geschichte, die so einen Einschnitt markieren, wie der Tod des Diktators. Die siebenjährige Lena erinnert sich:
    "In der Schule hat die Lehrerin mitten in der Stunde losgeheult und ist rausgelaufen, wir sind sitzen geblieben, mucksmäuschenstill. Geht das denn? Stalin ist doch unser geliebter Führer. Der beste Freund der sowjetischen Kinder. Der nachts im Kreml nicht schläft, weil er an uns denkt. Wie kann er da tot sein? Abends versammelt sich die ganze Familie in der Stube. Im Radio läuft traurige Musik."
    Aber: Während die einen trauern, sind andere erleichtert.
    "Endlich kommt Papa. Er stürmt richtig ins Zimmer. Da steht er, ringt nach Luft und schmeißt das Radio auf den Boden. 'Was soll das Gejammer? Wisst ihr, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat?'"
    Stalin war ein Diktator, ein grausamer noch dazu, doch das weiß Lena nicht. Sie spricht einfach aus, was sie erlebt und fühlt. Russische Geschichte, gesehen mit den Augen einer Siebenjährigen.
    Mikrokosmos Wohnung
    Lena ist eine von vielen fiktiven Figuren in diesem schönen, großformatigen Buch. Es sind nur Kinder, die hier erzählen. Lena ist die Enkelin von Ilja Muromzew, der bezieht um die Jahrhundertwende mit seiner Ehefrau eine große Wohnung in Moskau.
    Die Wohnung und die Familie sind der Fixpunkt dieses Bilderbuches. Es beginnt 1902 und führt zu den wichtigsten Stationen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert: Revolution, Zweiter Weltkrieg, Stalins Tod, Perestroika, das Ende der Sowjetunion. All das spiegelt sich im Mikrokosmos der Familie Muromzew – und ihrer Wohnung, deren Zimmer im Wandel der Zeiten dargestellt sind.
    "Weihnachten! Aus der Küche duftet es nach Plätzchen und am Tannenbaum brennen schon die Lichter. Draußen fällt Schnee. Wir haben kein großes Kinderfest dieses Jahr, nur Marussjas Freundinnen sind mit ihrer Kinderfrau gekommen. Die ist gleich zum Teetrinken in die Küche. Mama sitzt am Klavier, die Mädchen singen: 'Ein Männlein steht im Walde'. Langweilig! Und alles nur, weil Krieg ist und Papa als Arzt an der Front. Wie soll man ohne ihn richtig feiern?"
    Fragt sich im Dezember 1914 der siebenjährige Nikolai, Sohn von Ilja Muromzew. Papa Ilja ist Arzt und versorgt russische Soldaten an der Front, die gegen die Deutschen im Ersten Weltkrieg kämpfen:
    "Wir sind gerade beim Tischdecken, da geht plötzlich die Türglocke. Wer kann das sein? Das Dienstmädchen macht auf, ein spitzer Schrei, schwere Schritte im Flur, und dann steht er im Zimmer: Papa!"
    Was Nikolai erzählt, ist detailgetreu auf der gleichen Seite abgebildet: Der Weihnachtsbaum, das Klavier, die Menschen – alles sorgfältig und der Zeit entsprechend illustriert. Auf jede Geschichtssequenz im Buch folgt eine erklärende Doppelseite.
    Stolz und Terror
    Hier, für das Jahr 1914, sieht man zum Beispiel die Münzen, mit denen damals in Russland bezahlt wurde, die Zinnsoldaten, mit denen die Kinder gespielt haben, und immer wieder auch Fotos, Postkarten oder Zeitungsausschnitte: "Spendet Bücher für Soldaten", steht da etwa.
    Alexandra Litwina und Anna Desnitzkaya ist in es ihrem Buch gelungen, russische Geschichte auf einer persönlichen Ebene zu erzählen. Exemplarisch stehen die Muromzews dabei für Millionen anderer Familien im Land - so auch im Oktober 1937, der Zeit des Großen Terrors, als Hunderttausende willkürlich verhaftet und hingerichtet werden.
    Tamara Muromzewa, acht Jahre alt, erinnert sich:
    "Plötzlich klingelt es. Zweimal lang, einmal kurz, also nicht für uns, sondern für die Orliks nebenan. Mitten in der Nacht? Vielleicht ein Blitztelegramm? Schwere Stiefel poltern an unserer Tür vorbei, mehr als ein Paar. Bei den Orliks geht etwas zu Bruch. Dann kann ich endlich schlafen. Morgens sagt irgendwie niemand ein Wort. Nicht mal Mama meckert, als ich meine Grütze nicht aufesse. Papa und Opa streiten sich nicht um die Zeitung. Da kommt Oma rein. Alle warten gebannt, was sie sagen wird. 'Die armen Orliks. Lew Jakowlewitsch ist verhaftet worden.'"
    Auch hier eine erklärende Doppelseite: Die wahnhafte Angst Stalins vor Spionen und Saboteuren wird eingeordnet. Die Erwachsenen diskutieren über die Festnahmen; es werden Familienfotos mit ausgeschnitten Gesichtern gezeigt, von denen jedes für einen Verhafteten steht. In einem Zeitungsausschnitt heißt es: "Das Geschmeiß zertreten!". Gemeint sind die vermeintlichen Feinde des Volkes.
    "In erster Linie soll das Buch Kinder ermuntern, nach der eigenen Familiengeschichte zu fragen. Kindern kann man Geschichte leichter durch Personen und Gegenstände näherbringen, dann lernen sie auch, dass Geschichte nichts Abstraktes sein muss, was aus Lehrbüchern kommt, sondern dass sich Geschichte sogar in der eigenen Wohnung erleben lässt."
    Erzählt Autorin Alexandra Litwina zur Idee hinter dem Buch.
    Schweigende Generation
    "Nicht ohne Grund spricht man in der Sowjetunion und in anderen Ländern von der 'schweigenden Generation'. Über vieles wurde einfach nicht geredet, in vielen Familien gibt es richtige Lücken in der Geschichte, die wollen wir füllen."
    Neben Weltkriegen und dunklen Stalin-Jahren gibt es auch positive Momente in diesem Buch, das Anna Desnitzkaya liebevoll illustriert hat: 1961 etwa. Tauwetterzeit und das Jahr, in dem Juri Gagarin als erster Mensch ins All flog. Darauf waren die Menschen stolz.
    Das Buch endet 2002. Mehrere Generationen der Muromzews feiern zusammen – noch immer in derselben Wohnung. Iljuscha erzählt:
    "Unsere Großmutter wird heute 92! Na, eigentlich ist sie sogar schon Ururgroßmutter. Mama hat alle Leute aus Großmutters Adressbuch angerufen oder ihnen E-Mails geschickt: nach Frankreich und Amerika, Georgien und Belarus, nach Besboshnik und Uljanowsk. Überallhin hat es die Muromzews verschlagen!"
    Höhen und Tiefen eines Jahrhunderts
    Denn einige von ihnen wollten mehr Freiheit, als der Staat ihnen zugestand. Das ist der einzige Kritikpunkt: Entwicklungen wie etwa die sowjetische Dissidentenbewegung werden nur angeschnitten. Trotz eines informativen und gut recherchierten Glossars fehlt manchmal die historische Tiefe. Aber es ist eben ein Kinderbuch.
    Die Autorinnen blicken mit charmanter Distanz auf die russische Geschichte und überlassen es den Lesern selbst, sich ein Urteil zu bilden. Dabei schaffen es Litwina und Desnitzkaya, die Höhen und Tiefen dieses für Russland so wichtigen Jahrhunderts sichtbar zu machen: in Form der sympathischen Familie Muromzew und in einem absolut lesens- und sehenswerten Buch.
    Alexandra Litwina: "In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte."
    Gerstenberg Verlag, 60 Seiten, 24,95 Euro.