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Russische Geschichte
Stalin und die Folgen als Familienchronik

Die russische Journalistin und Historikerin Irina Scherbakowa befasst sich seit Langem mit der Aufarbeitung des Stalinismus. Sie ist Mitbegründerin der Organisation "Memorial" für historische Aufklärung und Menschenrechte. Scherbakowas Buch "Die Hände meines Vaters" ist die Geschichte ihrer Familie - vom 19. Jahrhundert bis zum Ukraine-Konflikt.

Von Bernd Sobolla |
    Irina Scherbakowa
    Irina Scherbakowa von der Organisation Memorial, hier im Oktober 2015 auf der Frankfurter Buchmesse. (imago / Sven Simon)
    "So viel Neues, Aufregendes! Das Leben klopft an die Türe, das neue Leben. Man muss die Türen weit aufreißen und dem neuen Gast mutig und freudig entgegentreten. Ich bin unendlich glücklich, dass ich jetzt lebe, jetzt Zeitung lese!"
    Mit diesen Worten beschrieb Irina Scherbakowas Großmutter, Mira Skepner, im April 1917 ihre Gefühle: Zar Nikolaus II. hatte abgedankt und eine provisorische Regierung die Presse- und Versammlungsfreiheit verkündet sowie die Gleichheit aller Bürger. Für die damals 19-jährige Jüdin Mira Skepner, die mit ihrer Familie im Südwesten Russlands lebte, schien eine hoffnungsvolle Zeit angebrochen. Alle Einschränkungen, die die Juden 120 Jahre lang im Zarenreich erlitten hatten, schienen aufgehoben, die vielen Pogrome Teil der Vergangenheit. Mit dieser Aufbruchsstimmung beginnt Irina Scherbakowa ihr Buch, das aus der Perspektive ihrer Familie die russische bzw. sowjetische Geschichte der letzten rund 100 Jahre schildert. Eine jüdische, aber fast völlig assimilierte Familie.
    Buchcover "Die Hände meines Vaters" von Irina Scherbakowa, im Hintergrund der Rote Platz in Moskau
    Buchcover "Die Hände meines Vaters" von Irina Scherbakowa, im Hintergrund der Rote Platz in Moskau (Droemer Knaur Verlag / AFP / Vasily Maximov)
    1917 zogen ihre Großeltern nach Moskau, wo sie von 1924 bis 1945 im legendären Hotel Lux lebten.
    "In seinen 300 Zimmern lebten zu Zeiten an die 600 Menschen, vor allem politische Emigranten, die in die UDSSR geflüchtet waren. Dieser Ort lebte in der Erinnerung der Familie wie ein Mythos. Für meine Mutter vielleicht, weil das ehemalige Lux die Kulisse für die längst verschwundene Welt ihrer Kindheit gebildet hatte, mit ihrem romantischen Glauben an die Weltrevolution und den Kommunismus."
    Die ambivalente Familiengeschichte
    Scherbakowa beschreibt ihre Familiengeschichte mit vielen kleinen Zeit- und Geographie-Sprüngen. Das lockert das Buch stilistisch auf. Wobei es rein inhaltlich oft um Armut, Gewalt und Unterdrückung geht. Und man ist der Autorin dankbar, dass sie die Ereignisse relativ nüchtern schildert. Ihr Großvater sympathisierte mit den linken Sozialisten, begann 1919 in der Partei zu arbeiten und wurde Herausgeber der Zeitung "Kommunist" - ein großer Idealist. Wobei nicht klar wird, wie er die Zeit des großen Terrors 1937-38 wahrnahm. Die schlimmste Periode der Stalin-Repression, als rund 1,5 Millionen Menschen verhaftet und rund 700.000 von ihnen ermordet wurden. Gerade dazu hätte Irina Scherbakowa noch heute Fragen an ihn.
    "Was er sich dabei gedacht hat, als so viele Freunde und Kollegen verhaftet waren. Aber die wichtigste Frage, die ich ihm wahrscheinlich stellen würde: Wie konnte man diesen Glauben, den er hatte, an die Revolution und an den Kommunismus, mit diesen schrecklichen Opfern noch bewahren? Wie hat er sich das alles erklärt?"
    Den Zweiten Weltkrieg überlebte Scherbakowas Vater wie durch ein Wunder, verlor aber mehrere Finger. Der Buchtitel, "Die Hände meines Vaters", sollte jedoch nicht als individuelle Beschreibung verstanden werden. Vielmehr geht es darum, wie die Menschen in der Sowjetunion insgesamt eine Epoche der Verletzungen und Ermordungen durchlitten.
    Die Zeit nach Stalin
    Auch das Ende des Krieges bedeutete keine grundlegende Besserung. 1948 wurden in der UDSSR jüdische Organisationen geschlossen, Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees gefoltert und hingerichtet.
    "Die Repressalien waren Hauptmechanismus dieser Diktatur. Und nach dem Bruch mit den Alliierten, mit denen man zusammen im Zweiten Weltkrieg war, musste man den Menschen immer wieder erklären: 'Das sind ja Agenten, es sind Spione, es sind Volksfeinde.' Und vor allem wurde es eine neue Kampagne gegen diejenigen, die angeblich nicht wirklich Patrioten sind. Und das sind die Juden."
    Die Phase nach Stalins Tod 1953 erlebte nicht nur die Familie Scherbakowas als Erleichterung. Auch wenn am Begräbnis des Massenmörders Zehntausende teilnahmen. Mit dabei auch Irina Scherbakowas Mutter.
    "Ich fragte sie später, warum. Glaubte sie denn wirklich immer noch an Stalin? Meine Mutter hatte eine andere Erklärung für ihr Ansinnen. Sein Begräbnis erschien ihr einfach als bedeutsames Ende einer ganzen Epoche, und sie fand, dass sie deshalb daran teilhaben müsse."
    Nikita Chruschtschow übernahm die Partei und wurde 1958 Regierungschef. Mit ihm setzte eine Phase der Entspannung ein.
    "Diese Zeit nannte man Tauwetter nach dieser Eiszeit der Stalinschen Zeit. Und das wichtigste Zeichen dieses Auftauens war, dass die Menschen aus dem Gulag entlassen worden sind. Und dass das Gulag-System sich auflöste."
    Zum ersten Mal konnte über den Terror der Jahre 1937/38 gesprochen werden und von der Verantwortung Stalins für den katastrophalen Kriegsbeginn.
    Das gescheiterte Experiment
    Doch 1964 endete diese Tauwetterperiode: Chruschtschow wurde abgesetzt und Breschnew Parteichef der KPDSU. Fortan wurde der Große Vaterländische Krieg zum bedeutendsten staatlichen Mythos glorifiziert. Das ganze Land machte eine Rolle rückwärts, und vier Jahre später rollten die russischen Panzer den Prager Frühling nieder. Scherbakowa betrank sich vor Ohnmacht. In dieser Zeit studierte sie Geschichte und Germanistik und wurde Dolmetscherin. Oft begleitete sie ausländische Künstler, reiste mit ihnen durch die Sowjetunion, konnte mit ihnen diskutierten. So auch mit Christa Wolf, die noch 1987 an den "wahren" Sozialismus und Reformen glaubt.
    "Und ich war eigentlich sehr erstaunt, dass sie mir immer wieder gesagt hat: 'Also wir müssen eigentlich zu den Idealen der Revolution zurück' - also sie meinte ja Russland, aber wahrscheinlich nicht nur Russland. Und das war für mich eigentlich ein gescheitertes Experiment."
    1985 wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPDSU. Er rief Glasnost und Perestroika aus, Offenheit und Reformen. Zwei Jahre später konnte Irina Scherbakowa die Menschenrechtsgesellschaft "Memorial" gründen, die die Verbrechen des Stalinismus aufarbeitet - das Lebenswerk der Autorin.
    "Die Hände meines Vaters", das sind die Erlebnisse einer Familie in einem Land, in dem die Vereinigung von Macht, Willkür und Unterdrückung zum kulturellen Selbstverständnis gehören. Scherbakowa gelingt es, die komplizierten Verhältnisse und Ereignisse mit einfachen Worten zu schildern. Und ihr familiärer Blick sorgt dafür, dass ihre Beschreibungen nie distanziert oder gar abstrakt wirken. Kein Stoff zum Wohlfühlen - zugegeben! Aber ein wichtiges Werk über die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Russlands, das dem Leser vor Augen führt, unter welchen Bedingungen seit über 100 Jahren die Menschen in dem Riesenreich leben und wie unberechenbar es vielleicht immer bleiben wird.
    Irina Scherbakowa: "Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte"
    Droemer Verlag, 416 Seiten, 22,99 Euro.