Der Abschied von Boris Nemzow, an dem vor genau zwei Wochen Zehntausende Menschen teilnahmen, geriet zur Kundgebung. Unter denen, die zum letzten Mal zu dem ermordeten Oppositionspolitiker kamen, waren zahlreiche Journalisten. Auch Ksenia Sobtschak und Alexej Wenediktow, die eine arbeitet bei dem einzigen kritischen Fernsehsender "Doschd", der andere beim noch geduldeten Radio "Echo Moskwy".
Beide sind sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Ksenia Sobtschak hat Russland am Samstag verlassen nach Drohungen, die ein Unbekannter noch am Sarg von Nemzow an sie richtete. Wenediktow von "Echo Moskwy" war Zeuge und wurde jetzt von der Polizei befragt.
"Ich habe gesagt, dass ich gesehen habe, wie am Ende des Saals, in dem Boris Nemzow aufgebahrt war, ein Mann zu ihr trat und sagte: "Ksenia, Sie sind die nächste." Sie hat ihm gesagt, dass er gehen soll und weiter mit Leuten gesprochen, da kam er wieder auf sie zu. Als das noch einmal geschah, habe ich ihm gesagt, dass er gehen soll. In dem Saal waren viele Polizisten, er ist schließlich verschwunden. Die Ermittler fragten mich jetzt, ob ich bei einem Phantombild helfen könnte. Das wird schwer, denn ich habe an dem Tag mit so vielen Menschen gesprochen. Aber dass sie solch ein Bild machen wollen, bedeutet, dass sie den Mann weiter suchen."
Ksenia Sobtschak, aber auch Wendiktow stehen auf einer sogenannten Todesliste.
"Solche Bedrohungen muss man ernst nehmen. Boris hat das nicht getan. Er ist am Abend ohne Personenschutz unterwegs gewesen und dass als Oppositionsführer, der gehasst wird von einem bestimmten Teil der Bevölkerung. Er wusste es und sagte: 'Was soll ich machen, ich kann doch nicht davonlaufen?' Genau das hat er an dem Tag, an dem er getötet wurde, noch Ksenia Sobtschak gesagt."
Oppositionszeitung finanziell ausgetrocknet
Auch Dmitiri Muratow, Chefredakteur der einzigen Oppositionszeitung, der "Nowaja Gazeta", lebt gefährlich. Die Redaktion hat bereits sechs Kollegen verloren, unter ihnen Anna Politkowskaja. Dass Muratow jetzt das Ende der gedruckten Ausgabe seines Blattes ankündigt, hat zwar wirtschaftliche Gründe, doch die sind wiederum sehr politisch. Ende voriger Woche bekalgte er sich gegenüber Kollegen, dass die "Nowaja Gazeta" nicht mehr mit anderen Häusern konkurrieren könne, die der Staat subventioniere.
"Reklame ist zum politischen Bonus geworden. Wer Werbeaufträge erhält, bekommt sie für seine Loyalität."
Russlands Wirtschaft steckt in der Krise, ein neues Gesetz, das ausländische Anteile auf 20 Prozent an russischen Medienunternehmen begrenzt, verschreckt Investoren.
"Die Aktionäre haben das Gefühl, dass sie als Oppositionspolitiker gelten, wenn sie unsere Zeitung unterstützen."
Deswegen erwägt einer der Großaktionäre den Verkauf seiner Anteile. Welcher von beiden, Michail Gorbatschow oder der Geschäftsmann Alexander Lebedjew, ist unklar. Gemessen an ihren Leserzahlen sei sein Blatt so erfolgreich wie nie, sagt der Chefredakteur, die Mitarbeiter hätten in diesen Zeiten nicht die geringsten Probleme, die Zeitung mit interessanten Inhalten zu füllen. In der Ausgabe zum 9. Mai, dem 70. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, will die Redaktion über die berichten, die gegen tatsächliche Faschisten kämpfen und nicht gegen vermeintliche wie derzeit in Ostukraine, kündigt Dmitri Muratow an.
Im heutigen Russland werde von einer Zeitung erwartet, dass sie eine Werkstatt sei, die Loyalität produziere. Wenn die 200.000 Exemplare nicht mehr wie bisher dreimal pro Woche gedruckt werden können, wird die "Nowaja Gazeta" nur noch im Internet zu lesen sein. Ein Kommentator der vergleichsweise zurückhaltenden Zeitung "Kommersant" prophezeit, dass in Zeiten, da sich die Gesellschaft immer dichter um die Macht versammle, nicht mehr mit steigenden Leserzahlen für kritische Zeitungen zu rechnen ist.