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Russische Klaviermusik
Im Zauberwald der Klänge

Schillernd, farbenreich und klug zusammengestellt präsentiert sich die neue Doppel-CD des Pianisten Daniil Trifonov. Auf "Silver Age" spielt er Werke von Prokofjew, Strawinsky und Skrjabin. Mit von der Partie sind das St. Petersburger Mariinsky Orchester und dessen Chefdirigent Valery Gergiev.

Am Mikrofon: Christoph Vratz |
    Der Pianist Daniil Trifonov
    Daniil Trifonov wurde 1991 im russischen Nischni Nowgorod geboren (Deutsche Grammophon)
    Musik: Sergei Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll, op. 16
    "Auf dem Podium erschien ein Jüngling, der wie ein Gymnasiast aussah", heißt es im September 1913 in einer Sankt Petersburger Zeitung: "Er setzte sich ans Klavier. Es war, als ob er die Tasten abstaubte und manche dabei, je nach Zufall, hart und trocken niederdrückte. Das Publikum wusste nicht, was es davon halten sollte. Man hörte unwilliges Gemurmel. Ein Paar stand auf und eilte zum Ausgang: "Eine solche Musik kann einen wahnsinnig machen!" Der Raum wurde immer leerer. […] Die Hörer waren entsetzt."
    Ein Skandal im noblen Sommerkurort Pawlowsk. Doch so viel Tumult konnte Sergei Prokofjew nur Recht sein, denn dieser Auftritt brachte ihn seinem eigentlichen Ziel ein deutliches Stück näher: Anerkennung in Kreisen der russischen Moderne.
    Musik: Sergei Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll, op. 16
    Sergei Prokofjews zweites Klavierkonzert. An der Seite von Daniil Trifonov spielt das Mariinsky Orchester aus St. Petersburg unter seinem langjährigen Chefdirigenten Valery Gergiev. Neuland? Mitnichten. Das Orchester ist seit langem mit dieser Musik vertraut. Prokofjew scheint in der "Mariinsky-DNA" tief verankert. Ob die rhythmischen Strukturen, die knifflige Balance der einzelnen Stimmen, die sich manchmal auch kammermusikalisch herausschälen, vor allem aber die kurzen, beißend-ironisch wirkenden Aufschreie – all das gelingt äußerst souverän. Nicht einmal spektakulär, sondern einfach sehr vertraut. Wohl auch, weil die Musik mehr als hundert Jahre nach ihrer Uraufführung ihren anfänglichen Schrecken verloren hat. Das damals Neue wirkt eben längst nicht mehr verstörend, sondern hat Platz gefunden in unserem kulturellen Verständnis. Gut so!
    Auch Daniil Trifonov spielt dieses Konzert, in Einheit mit dem Orchester, nicht schrill. Er achtet vor allem auf Farben, in ihrer dynamischen Abstufung, in ihren Verläufen, in ihren Charaktereigenschaften, wie hier beim Nebenthema im Finalsatz des zweiten Prokofjew-Klavierkonzertes.
    Musik: Sergei Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll, op. 16
    Es ist ein Grundmerkmal von Daniil Trifonovs Spiel insgesamt und auch auf dieser CD: er kann am Klavier Klänge erzeugen, die andere Pianisten nicht zustande bringen. Nun könnte man Erklärungsversuche in alle Richtungen starten: Hängt es mit seiner Ausbildung, seiner engen Zusammenarbeit mit Sergei Babayan, zusammen, mit seinen speziellen Dehnübungen oder eher mit der Kraftverteilung in Armen und Fingern, oder ist vielmehr der Druckpunkt an den Tasten entscheidend? Diese Fragen können wir natürlich an dieser Stelle nicht beantworten. Aber wir können hören, dass Daniil Trifonov etwas Außergewöhnliches gelingt. Etwa am Beginn der achten Klaviersonate von Sergei Prokofjew, der letzten der drei so genannten "Kriegs-Sonaten". Sie lässt die brutalen Bilder der sechsten und siebten hinter sich. Die hier hörbare melancholische, vielleicht sogar versöhnliche Distanz verleiht dem Werk ein besonderes Gewicht. Trifonov hält die langgezogenen Linien zusammen, sie werden nicht unterbrochen, sondern fließen ineinander. Die melancholischen Verläufe dürfen nicht zu süß, nicht zu traurig daherkommen, sie brauchen eine gewisse volksliedhafte Schlichtheit. Genau das erreicht Trifonov in diesem "Andante dolce". Gehend und weich soll es klingen.
    Musik: Sergei Prokofjew: Klaviersonate Nr. 8 B-Dur, op. 84
    Der dritte Satz von Prokofjews achter Sonate erscheint wie ein finales Aufatmen nach all den Kriegsschrecken. Er gelingt auf Trifonovs neuer CD gelöst und befreit. Irrlichternde Bewegungen, Glocken-Assoziationen, Fanfaren-Anklänge, all das kommt hier sehr unmittelbar zur Geltung. Der Pianist spielt das orchestral. Die einzelnen Stimmen wägt er genau ab, die spieltechnischen Schwierigkeiten stellt er nicht demonstrativ ins Schaufenster.
    Musik: Sergei Prokofjew: Klaviersonate Nr. 8 B-Dur, op. 84
    Ironie und Energie
    "Silver Age" – "Silbernes Zeitalter" ist diese Doppel-CD benannt. Eigentlich bezieht sich dieser Begriff auf die russische Literatur Anfang der 1920er Jahre. Doch auch in der russischen Musik des frühen 20. Jahrhunderts lassen sich, bei aller Unterschiedlichkeit, gemeinsame Linien finden: der Wunsch nach Erneuerung, ein Hang zur Ironie, die Nähe zu Volksmusik-Elementen und eine ungeheure, schier berstende Energie.
    Musik: Sergei Prokofjew: Sarkasmen, op. 17 Nr. 1
    Schroffe Akkorde, wilde Sprünge und keine klar erkennbare Melodie: "Sarkasmen" hat Sergei Prokofjew diese Sammlung mit fünf Klavierstücken genannt, Musik aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, entstanden zwischen 1912 und 1914.
    Musik: Sergei Prokofjew: Sarkasmen, op. 17 Nr. 5
    Eine kaltherzige Musik: sehr motorisch, harmonisch kühn, und vom Gestus her metallisch. Aber dank ihrer fast brutalen Gegensätze wirkt sie kaum später humorvoll und beinahe sinnlich!
    Musik: Sergei Prokofjew: Sarkasmen, op. 17 Nr. 5
    Neben Prokofjew gehört Igor Strawinsky zu den zentralen Komponisten auf Daniil Trifonovs neuem Doppel-Album. Der italienische Pianist Guido Agosti hat 1928 drei Sätze aus Strawinskys "Feuervogel"-Ballett für Klavier eingerichtet, hochvirtuose Musik, die Trifonov mühelos und mit geradezu unglaublicher Wucht und Präzision einfängt.
    Musik: Igor Strawinsky: "Der Feuervogel" – Suite für Klavier
    Nervös und ruhelos gelingt Trifonov dieser pianistische Funkenflug. Lyrische Erholungspausen münden sehr bald wieder in den lavaähnlichen Strom des Erzählvorgangs. Daniil Trifonov sucht nicht nach Kompromissen, er geht aufs Ganze, so dass der Hörer von heute eine Ahnung davon bekommt, wie revolutionär diese Musik auf die Hörer von damals gewirkt haben muss.
    Musik: Igor Strawinsky: "Der Feuervogel" – Suite für Klavier
    Strawinsky goes Pop
    Auf der zweiten CD begegnen wir noch einmal Musik von Igor Strawinsky: drei Sätzen aus "Petruschka", eines der technisch schwierigsten Werke der gesamten Klavierliteratur. Doch Trifonov schafft es vom ersten Takt an, das Schwere ungemein leicht erscheinen zu lassen.
    Musik: Igor Strawinsky: Drei Sätze aus "Petruschka" für Klavier
    Inzwischen hat Daniil Trifonov die "Petruschka"-Sätze schon oft im Konzert gespielt. Vieles von dieser Vertrautheit vermittelt sich auch auf der neuen CD. Das klingt alles genau ausbalanciert und geprägt von klugem Timing. Alles klingt so selbstverständlich. Hier, im letzten der drei Sätze, hat man den Eindruck, als würden ein imaginärer Chor und ein komplettes Orchester in diesem Klavier-Satz verschmelzen, füllig und transparent zugleich, getragen in der Tiefe von einem pulsierenden Bass, der den Bogen direkt von Strawinsky zur späteren Rock- und Popmusik schlägt.
    Musik: Igor Strawinsky: Drei Sätze aus "Petruschka" für Klavier
    Am Schluss der neuen Doppel-CD betreten mit Daniil Trifonov noch einmal das Mariinsky Orchestra und Dirigent Valery Gergiev die Bühne – mit dem fis-Moll-Konzert von Alexander Skrjabin, ein eher lyrisch-intimes Konzert, keine auf Effekte ausgerichtete Virtuosen-Nummer.
    Musik: Alexander Skrjabin, Klavierkonzert fis-Moll, op. 20
    Dass Solist Daniil Trifonov und das Mariinsky-Orchester zu einer Einheit verschmelzen, kennt man bereits von früheren Aufnahmen bzw. Mitschnitten mit Konzerten von Tschaikowsky oder Schostakowitsch. Das Ergebnis ist hier nicht viel anders. Man atmet gemeinsam und findet immer wieder zu einem sehr unmittelbaren, intimen musikalischen Miteinander. Wie hier im zweiten Satz von Skrjabins einzigem Klavierkonzert, der aus einem langsamen Thema und vier Variationen besteht.
    Musik: Alexander Skrjabin, Klavierkonzert fis-Moll, op. 20
    Hauchfeine Töne, sanft im Anschlag, geheimnisvoll in ihrer Atmosphäre. Melodie und Begleitung fließen bei Daniil Trifonov so organisch ineinander, dass an einigen Stellen kaum auszumachen ist, welche Hand gerade welche Rolle übernimmt. Und wenn die Verteilung einmal klar scheint, so bekommt die Begleitung so viel Mitspracherecht, dass sie Skrjabins ganzen harmonischen Reichtum hörbar macht. "Cantabile" schreibt Skrjabin im folgenden Ausschnitt, gesanglich soll es klingen. Dazu notiert er einige Vorgaben zu kleinen Beschleunigungen und Verlangsamungen. Das Klavier darf sich hier piano, leise entfalten, während das Orchester sich fast scheu im Hintergrund hält, bevor sich das Geschehen verdichtet und die Lautstärke anschwillt. Eine Musik zwischen Realität und Traum, ein Zwischenreich voller Andeutungen, und Daniil Trifonov ist der Zeremonienmeister im Zauberwald der Klänge.
    "Daniil Trifonov - Silver Age" (2CD)
    Prokofieff: Klavierkonzert Nr. 2 op. 16; Sarkasmen op. 17; Klaviersonate Nr. 8; Gavotte aus Cinderella op. 95
    Scriabin: Klavierkonzert fis-moll op. 20
    Strawinsky: Serenade A-Dur für Klavier; Der Feuervogel-Suite für Klavier; 3 Sätze aus Petruschka für Klavier
    Daniil Trifonov, Klavier
    Mariinsky Orchestra
    Leitung: Valery Gergiev
    Deutsche Grammophon EAN: 0028948353316