Wassilij Buchtin war 19 Jahre alt, als er im September 1941 bei Kachowlaja als Soldat in einen deutschen Kessel geriet. Ab da begann sein Martyrium: Lager, Hunger, Schläge, jahrelange Zwangsarbeit in Deutschland. "Das Schlimmste ist, dass ich bis heute träume, und zwar fast immer von der Gefangenschaft. Meine Familie sagt mir, dass ich nachts vor Angst schreie. Damit lebe ich jetzt schon mein ganzes Leben", schreibt er in einem Brief an den Verein Kontakte-Kontakty. Eberhard Radczuweit hat viele solcher Briefe bekommen. 2003 hat er angefangen, private Spenden zu sammeln, um ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen symbolisch 300 Euro auszahlen zu können, zusammen mit einem Brief, in dem sich der Verein für das erlittene Unrecht entschuldigt. Von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben drei Millionen in deutschen Lagern, mehr als die Hälfte.
"Man kann sagen, dass sie mit über drei Millionen Toten die größte Opfergruppe der Nazis nach den Juden Europas waren. Und während diese natürlich anerkannt werden, die Leugnung des Holocaust ist zurecht strafbar, hat man den sowjetischen Kriegsgefangenen "allgemeines Kriegsunrecht" attestiert. Das empfinden wir als schlimm."
Ein Schock für die Betroffenen
In den Augen der NS-Rassenideologie waren die gefangenen Russen slawische Untermenschen, für die, anders als für die Westalliierten, die Genfer Konvention nicht galt. Auch sie wurden erschossen und vergast, allein im Kriegswinter 1941 ließ man zwei Millionen planmäßig verhungern. Hunderttausende schufteten als Zwangsarbeiter unter barbarischen Bedingungen. Entschädigt wurden sie für dieses Unrecht nie. Schließlich, so die formale Argumentation der Bundesregierung, habe die Sowjetunion bereits 1953 auf weitere Reparationszahlungen verzichtet. Alle weiteren Ansprüche seien mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag 1990 abgegolten worden. Als im Jahr 2000 die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" anfing, Geld an die ehemaligen zivilen Zwangsarbeiter auszuzahlen, gingen die sowjetischen Kriegsgefangenen wieder leer aus. Das Stiftungsgesetz legte fest: "Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung". Für die Betroffenen war das ein Schock.
"Sie hatten einen Riesenaufwand erledigt, und bekamen dann ein halbes Jahr später, manche erst ein Jahr später, zur Antwort: Paragraf 3, Absatz 2. Viele sagten, das sei für sie der letzte deutsche Fußtritt gewesen."
Während die letzten hochbetagten Überlebenden sterben, beschäftigt sich – mal wieder - der Bundestag mit dem Thema. Und möglicherweise wird derzeit die letzte Chance auf Anerkennung des Unrechts gegenüber den Betroffenen vertan. Zur Debatte standen vergangene Woche zwei Anträge der Opposition, den ehemaligen Rotarmisten außergesetzlich eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen – 2500 Euro, schlugen die Grünen vor, 7500 Euro die Linksfraktion. Peanuts, angesichts von vielleicht 4000 noch lebenden Betroffenen. Doch die Union bleibt bei ihrem Nein. Der Abgeordnete André Berghegger.
"Das Unrecht im Zweiten Weltkrieg können wir, glaube ich, nicht in Worte fassen. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, insbesondere die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden. Die menschenunwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen war dabei jedoch nur eine von zahllosen Menschenrechtsverletzungen, die sich die Kriegsgegner gegenseitig zugefügt haben."
Erika Steinbach, Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der Unions-Fraktion, räumte zwar deutsches Unrecht bei der Behandlung der Rotarmisten ein, sieht jedoch Moskau in der Pflicht - schließlich seien die Kriegsgefangenen nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion vielfach als Verräter angesehen worden.
"Sie wurden stigmatisiert, sie wurden entrechtet, sie wurden umgebracht, in Lager verschleppt, und Russland hätte, statt die Ukraine zu überfallen, lieber seine ehemaligen noch lebenden Kriegsgefangenen entschädigen sollen, das wäre eine humane Geste gewesen."
"Gesamtlösung"
Für die Sozialdemokraten ist der Vorstoß der Opposition nicht frei von Peinlichkeit. Denn die Grünen brachten wortgleich den Antrag ein, den die SPD schon einmal mitgetragen hatte – damals als sie noch in der Opposition war. Jetzt aber gelten Koalitionszwänge. In den kommenden Wochen wird sich federführend der Haushaltsausschuss mit dem neuen Antrag beschäftigen. Die Union, heißt es, bestehe auf einer "Gesamtlösung", die auch das Unrecht mit einbeziehe, das deutschen Kriegsgefangenen in Russland widerfahren sei. Das wird sicher keiner der Betroffenen mehr erleben.
Unterdessen arbeiten Eberhard Radczuweit und seine Mitarbeiter weiter. 7383 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene hat der Verein Kontakte-Kontakty bereits mit symbolischen 300 Euro bedacht, manchmal legen sie auch einen Brief der Spender bei. Denn im Gegensatz zur Mehrheit im Bundestag ist die Anteilnahme und Spendenbereitschaft vor allem der älteren Deutschen groß. Viele erinnern sich durchaus an die zerlumpten, abgemagerten Menschenkolonnen – und an das Gefühl von Unrecht, was sie dabei empfanden.
"Nachdem wir über die Medien sie in Erinnerung gerufen haben, kamen plötzlich von Rentnerinnen und Rentnern Berichte, ja wir haben damals als Kinder, oder was besonders eindrücklich war, auf Wunsch der Mutter heimlich ein Stück Brot an den Straßenrand gelegt, wo sie arbeiteten im Straßenbau. Es tauchte eben in den Briefen unserer Landsleute so viel Menschlichkeit auf, und das muss man rüberbringen."
Für die ehemaligen Kriegsgefangenen, die seit fast 70 Jahren auf ein Zeichen aus Deutschland warten, ist diese Geste sehr wichtig. Es habe sich bei ihm die Meinung herausgebildet, dass alle Deutsche herzlose Menschen seien, die Russen nur als Vieh betrachteten, schreibt ein Betroffener. "Doch nun stellt sich heraus, dass es bei Ihnen auch aufrichtige Menschen gibt, die sich unserer erinnern".