"Das Land der Lager ist in keiner sowjetischen Karte eingetragen, man findet es in keinem Atlas. Es ist das einzige Land der Welt, wo es über die Sowjetunion keinen Streit, keinen Irrtum und keine Illusion gibt."
1945 endet für Julius Margolin die Irrfahrt durch Stalins Straflager. Fünf Jahre hat der Journalist und Philosoph mit jüdisch-polnischen Wurzeln als Häftling im hohen Norden Russlands Bäume gefällt und Züge beladen - bei arktischen Temperaturen und quälendem Hunger. Sein Überleben - purer Zufall: Millionen Häftlinge starben in der Sowjetzeit in den Lagern, Margolin überlebte knapp. Bei seiner Entlassung nach Kriegsende ist aus dem 45-Jährigen ein alter Mann geworden. Noch auf dem Weg nach Hause beginnt er zu schreiben. Über seine Verhaftung, die Willkür im Lager, und den Druck, das wirtschaftliche Plansoll zu erfüllen. Doch zurück in Tel Aviv - der glühende Zionist Margolin war 1936 mit seiner Familie vom polnischen Lódz nach Palästina ausgewandert - will niemand seine präzisen, oft ironisch gefärbten Erinnerungen lesen - auch nicht, als sich ein Jahr später der Staat Israel gründet. Bis zu seinem Tod 1971 kämpft er um Gehör:
"Ich stellte fest, dass es in bestimmten Kreisen - und zwar gerade in denen, deren Hilfe in erster Linie nötig wäre - nicht üblich ist, gewisse Vorgänge in der Sowjetunion beim Namen zu nennen. Wer es dennoch tut, schockiert seine Zuhörer. Mehr noch, er kompromittiert sich selbst. Nicht ein, sondern zehnmal habe ich gehört, dass nur Feinde des Fortschritts und politische Reaktionäre Vorwürfe gegen die Sowjetunion erheben können."
In einer Reihe mit Solschenizyn und Schalamow
In Frankreich, den USA und in Deutschland waren in der Zeit des Kalten Krieges stark gekürzte Versionen seiner Erinnerungen erschienen. Der Suhrkamp Verlag hat nun Margolins "Reise in das Land der Lager" erstmals ungekürzt aufgelegt. Eine gute Entscheidung - obwohl von vielen bedeutenden Autoren das Wichtigste schon überliefert zu sein scheint. Von Alexander Solschenizyn etwa, der mit dem "Archipel Gulag" eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Aber auch von Warlam Schalamow und seinen "Erzählungen aus Kolyma". Doch Margolins Buch ist nicht nur Erinnerung, es ist vor allem Manifest.
"Jedes Verbrechen, das auf der Welt geschieht, muss unhörbar beim Namen genannt werden. Nur so kann man es bekämpfen. Kein Verstoß gegen die Rechte der Menschen darf anonym bleiben. Die Devise der Schwachen - „Nichts laut sagen! Nichts beim Namen nennen!“ - macht die, die ihr folgen, zu Komplizen des Verbrechens."
"Margolin hat eine Vorstellung davon gehabt, dass ein Bürger ein Individuum ist, mit einem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, um in seiner Arbeit auch ein Stück seiner Identität zu finden. In einem großen Kapitel des Buches beschreibt er den Prozess der Entmenschlichung und die Erkenntnisse, die er daraus gewinnt, lassen sich lesen wie eine Vorwegnahme dessen, was Historiker und Soziologen über die Pathologien einer traumatisierten sowjetischen Gesellschaft erforscht haben. Und was ihn am meisten verwundert hat, ist, dass die Menschen sich über nichts mehr wundern.", erklärt Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe den besonderen Blickwinkel des Autors.
Anders als Solschenizyn oder Schalamow definiert sich Margolin als Bürger des Westens. Er wurde 1900 in Pinsk geboren, das damals noch zum russischen Zarenreich gehörte und 1918 nach dem Ersten Weltkrieg an Polen fiel, eine multiethnische Region, die zwischen den Gewaltexzessen Hitlers und Stalins zerrieben wurde. Die "Bloodlands", wie der britische Historiker Timothy Snyder sie nennt, sie waren Margolins Heimat. Aus ihr entwuchs seine vielfältige Identität. Russisch, Jiddisch, Polnisch: Julius Margolin waren alle drei Sprachen und die jeweiligen kulturellen Eigenheiten bestens vertraut.
"Er ist deswegen so eine ganz besonders interessante Figur, weil er ein jüdischer Intellektueller war, er hatte in Berlin Philosophie studiert und dort 1929 auch promoviert über ein phänomenologisches Thema. Und als er, das Unglück wollte es, dass er bei Kriegsausbruch 1939 in Łódź war, dort hatte er geschäftlich zu tun, nützte ihm sein polnischer und sein britischer Mandatspass, überhaupt nichts. Er hatte noch gehofft, sich in Rumänien, in Konstanza in Richtung Haifa einschiffen zu lassen, aber durch den Überfall der Sowjets am 17. September, war ihm der Weg dorthin abgeschnitten."
Zwischen Hitler und Stalin
Margolins Flucht vor den Nationalsozialisten endet in seiner Geburtsstadt Pinsk, doch Stalins Truppen haben mittlerweile Ostpolen besetzt und er steckt fest. Dieser erste Teil des Buches - der die Reise ins Lager beschreibt - ist besonders lesenswert. Denn Margolin beobachtet detailliert die dramatischen Folgen des Hitler-Stalin-Paktes und die doppelte Verfolgung, der Juden wie er ausgesetzt sind. Nach einem quälenden Verhör wird er im Juni 1940 als "sozial-gefährliches Element" eingestuft und in ein Straflager am Weißmeer-Ostseekanal deportiert. Wie viele andere Juden hatte er sich geweigert, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Immer noch glaubt er daran, nach Palästina ausreisen zu können. Auch die angebotene Alternative kommt für ihn nicht in Frage: eine Rückkehr in die Fänge der Nazis:
"Und die tragische Entscheidung mussten alle Juden in diesem Korridor, in diesen "Bloodlands" treffen, entweder sich nach Sibirien transportieren lassen oder sich ins Generalgouvernement oder bzw. ins Deutsche Reich. Und man kann schon sagen, das wurde mir bei der Lektüre dann auch wie so ein Schock klar, dass die Aufnahme in den Gulag Margolin das Leben gerettet hat.", so Katharina Raabe.
"Die Fähigkeit zu Leiden ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Aber es kommt die Zeit, da ihm alles gleichgültig wird, er stumpft ab bis zur völligen Taubheit gegenüber allem, was nicht mit seinen niedrigsten Körperfunktionen zu tun hat. … Ein Mensch, der fünf oder zehn Jahre im Lager war, kann bedenkenlos entlassen werden: Er wird sich der Sowjetmacht nicht in den Weg stellen. Er ist "belehrt", und diese Belehrung reicht für viele Jahre. In seiner Seele ist ein dunkles Fundament der Angst gelegt.", schreibt Margolin.
Und Margolins Erinnerungen sind erstaunlich aktuell. Denn im Land der Lager arbeiten heute immer noch rund 600.000 Menschen. Die jüngst entlassenen Mitglieder der Gruppe Pussy Riot oder der Ex-Oligarch Michail Chodorkowski sind dabei nur die prominentesten Beispiele. Wer wissen will, warum Apathie, politische Indifferenz und Fatalismus bis heute die russische Gesellschaft prägen, der findet eine Antwort darauf in diesem Buch. Stellenweise wird Margolin etwas pathetisch, trotzdem gelingt es ihm mit aller Deutlichkeit, das Trauma dieser Gesellschaft zu offenbaren.
Julius Margolin: Reise in das Land der Lager. Suhrkamp Verlag, 638 Seiten, 39,00 €. ISBN: 978-3-518-42406-3