Nachdem das Oberste Gericht Russlands am 28.12.2021 ein Verbot der Dachorganisation Memorial International verfügt hatte, erging am Tag danach ebenfalls in Moskau das Urteil zur Auflösung des Menschenrechtszentrums, das sich für die Rechte politischer Gefangener in Russland sowie von Minderheiten, Migranten und Homosexuellen eingesetzt hatte. Begründet wurden die Urteile mit dem Verstoß gegen das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz. Zur Begründung hieß es außerdem: Memorial erzeuge ein falsches Bild der früheren UdSSR als terroristischen Staat.
Memorial will sowohl gegen die Entscheidung des Stadtgerichts als auch den Auflösungsbeschluss des Obersten Gerichtshofs für die Dachorganisation Berufung einlegen. Wenn nötig, werde man bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen.
Russland-Korrespondent Florian Kellermann spricht von einer Machtdemonstration: "Man zeigt, selbst eine so verdiente und im Ausland hoch angesehene Organisation, kann man im Handstreich ohne großes Federlesen und auch ohne große Begründung verbieten."
Russland-Korrespondent zur Einordnung des Urteils gegen Memorial (29.12.2021)
Wofür steht Memorial, was wurde der Organisation vorgeworfen und wie geht es weiter?
Für was steht die Nichtregierungsorganisation Memorial?
Die Menschenrechtsorganisation wurde 1988 in Moskau von Menschenrechtlern um den Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründet. Die NGO setzt sich dafür ein, dass die politische Verfolgung und der Terror der Sowjetzeit, insbesondere unter Stalin, aufgearbeitet und die Opfer dieser Verbrechen nicht vergessen werden.
Daneben tritt sie für die Wahrung der Menschenrechte im heutigen Russland ein. Beispielsweise führt die Organisation Listen mit Gefangenen in Russland, die aus politischen oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung inhaftiert wurden.
Außerdem unterstützen Anwälte von Memorial Menschen, die politisch verfolgt werden und die sich bisher nicht in Haft befinden.
Die Vorwürfe der russischen Justiz
Die russische Justiz berief sich gegenüber Memorial auf wiederholte Verstöße gegen das Gesetz über ausländische Agenten vor. Dieses sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als "Agenten" bezeichnet werden können. Memorial ist seit 2016 in Russland als "ausländischer Agent" registriert, weil die Organisation teilweise aus dem Ausland finanziert wird. Die Dachorganisation von Memorial soll in einigen Publikationen nicht darauf hingewiesen haben als „ausländischer Agent“ tätig zu sein. Betroffen sind vor allem ältere Bücher, die nicht mit einem entsprechenden Stempel versehen worden sind. Auch auf einigen alten Internetseiten hat dieser Hinweis ebenfalls gefehlt, so der Vorwurf. Daraus wurden weitere Vorwürfe konstruiert: Etwa, dass durch diesen Mangel an Informationen der Schutz der Kinder nicht gewährleistet gewesen sei. In der Anklageschrift hieß es außerdem, die Menschenrechtszentrum verherrliche Terrorismus und Extremismus.
Die Historikerin und Mitbegründerin der Organisation, Irina Scherbakowa, beklagte am 29.08.2021 im Dlf, die NGO habe schon seit 2016 mit Druck und Strafen seitens des russischen Staates zu kämpfen. Das Vorgehen gegen Memorial sei einerseits ein Signal an die Innenpolitik, „also für diejenigen, die in Russland unabhängig arbeiten, Kritiker, ‚wenn schon Memorial liquidiert wird, dann müsst ihr sehen, was mit euch passiert.‘ Und natürlich ist es ein Signal an den Westen.“
Welche Aussichten hat das angekündigte Berufungsverfahren?
"Natürlich werden wir die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF auf jede erdenkliche Weise anfechten. Und wir werden legale Möglichkeiten finden, um unsere Arbeit fortzusetzen", heißt es auf der deutschsprachigen Website von Memorial.
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde nicht nur von der Staatsanwaltschaft, sondern auch vom Justizministerium vorangetrieben. "Das heißt, dass es von ganz oben gewollt ist. Und man kann sich nicht vorstellen, dass das noch irgendwie gekippt wird," so die Einschätzung von Russland-Korrespondent Florian Kellermann.
Die Leitung von Memorial kündigte außerdem an, gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen. Hier ist eine positive Entscheidung für die NGO wahrscheinlicher. Dass das Konsequenzen in Russland haben würde, ist angesichts der politischen Konstellation kaum denkbar.
Quellen: Florian Kellermann, dpa, Dlf, epd