In einem Hof der Berliner Kulturbrauerei warten überwiegend junge Leute vor dem Kulturzentrum "Panda Platforma" auf Einlass. Über dem Eingang hängt ein Transparent in den Farben der Ukraine. Panda Platforma war einmal ein Theater, heute ist es ein Treffpunkt für russischsprachige Liberale in Deutschland.
Arbeit für ein "freies Russland"
Julia Abdullajeva hat ein Tischchen aufgestellt, darauf liegt ein Stapel mit Fahnen: Weiß-Blau-Weiß. Die Farben stehen für ein „freies Russland“: „Vor ungefähr zwei Monaten gab es wieder eine große Diskussion unter russischsprachigen Migranten in Europa, dass die Russen, die gegen den Krieg in der Ukraine sind, ein Symbol brauchen. Und so ist die Idee geboren. Die klassische offizielle russische Fahne zu nehmen und die roten Streifen halt weiß zu machen. Also, die neue russische Fahne ist ohne Blut und ohne Gewalt.“
Zehn Euro kostet eine Fahne. Die Frau hat nur einen 20 Euro-Schein, verzichtet auf das Wechselgeld. Abdullajeva freut sich: „Der Erlös geht komplett an OVD-Info. Das ist ein Medienprojekt der Demonstranten in Russland, die verhaftet werden, und sie durch Rechtsberatung unterstützt.“
Abdullajewa ist schon seit zehn Jahren in Deutschland. Sie kam zum Studium aus Moskau. Seit dem groß angelegten Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine hat die Community in Deutschland vermehrten Zulauf von Emigrantinnen und Emigranten aus Russland. Eine von ihnen tritt an diesem Abend hier auf: Jekaterina Schulman. In Russland ist die Politologin eine Art Pop-Star. Mit ihren Vorträgen erreicht sie bei Youtube ein Millionenpublikum. Vor einem Monat wurde sie von russischen Stellen zur ausländischen Agentin erklärt.
Flucht vor verschärften Unterdrückungsmaßnahmen
Im Panda Platforma spricht Schulman über den Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoj. Die anschließenden Fragen aus dem Publikum drehen sich allerdings vor allem um den Krieg Russlands gegen die Ukraine.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sind zwischen 200.000 und 500.000 Russinnen und Russen in den letzten Wochen vor den verschärften Unterdrückungsmaßnahmen aus dem Land geflohen, viele nach Armenien, Georgien, ins Baltikum und auch nach Deutschland. Auch, weil sie es moralisch nicht mehr ausgehalten haben, in einem Land zu leben, das einen Vernichtungskrieg führt - es zugleich unter Strafe stellt, diesen überhaupt „Krieg“ zu nennen.
Die Zahlen sind schwer zu erfassen, weil viele Flüchtlinge mit Touristenvisa in den Schengenraum eingereist sind. Diese können von den ausländischen Vertretungen schnell und unbürokratisch erteilt werden. Manch andere, darunter Geschäftsleute, haben Dauervisa.
Moskau nimmt den intellektuellen Exodus in Kauf - anders als zu Sowjetzeiten
Die Folgen des Exodus für Russland seien dramatisch, erläutert die Politologin Schulman: „Das sind sehr unterschiedliche Leute mit sehr unterschiedlichen individuellen Umständen und Lebensplanungen. Dennoch kann man feststellen, dass ein spürbarer Teil der liberalen Klasse Russland tatsächlich verlassen hat: Menschen, die dort im Journalismus und in der Bildung, in der Wohltätigkeit, in der Kultur tätig waren. Sie sind gegangen, weil sie politische Verfolgung fürchteten. Weil sie mit der Politik nicht einverstanden waren. Weil sie Angst hatten, in die Armee eingezogen zu werden oder aus anderen Gründen. Für mich, die ich auch Teil dieser Fluchtwelle bin, ist es traurig, das zu sehen. Denn all diese Menschen haben Russland genützt. Es ist ein spürbarer Verlust.“
Ein Verlust allerdings, den die russische Führung billigend in Kauf nimmt, teils sogar vorantreibt. In Zeiten der Sowjetunion war das anders: „Aus der Sowjetunion auszureisen, war ziemlich schwierig. Es war ein Unterfangen, das Jahre dauerte und nicht allen gelang. Die Sowjetunion versuchte, ihre Bürger im Land zu halten. Die Russische Föderation tut das heute nicht. Autoritäre Regime fördern die Ausreise sogar. Sie können kritische Bürger nicht brauchen. Und wenn diese Bürger erst mal weg sind, dann kann der Staat ihnen vorwerfen, sie würden Schwierigkeiten scheuen, seien keine wahren Patrioten, würden sich im Ausland ein schönes Leben machen und hätten Angst, gemeinsam mit der ganzen Nation eine schwierige Zeit durchzustehen. Dies ist eine einfache, verständliche und recht überzeugende Propagandamethode, die natürlich auch weiterhin eingesetzt wird.“
Parallelen zu 1917?
Schulman ist mit einem Stipendium der Bosch-Stiftung in Deutschland und hat ihre Familie mitbringen können. Das Angebot hatte sie bereits vor dem 24. Februar bekommen, also bevor Russland den Krieg gegen die Ukraine startete. Wie lange sie bleibt, weiß sie nicht: „Das Stipendium läuft ein Jahr. Ich bin Stipendiatin. Das ist mein Status. Alles Weitere sind Gedanken, Fantasien, Hoffnungen oder Ängste, die alle Menschen in so einer Extremsituation haben.“
Sergej Lukaschewskij ist Direktor des Sacharow-Zentrums in Moskau. Der Umgang der Sowjetunion mit Andersdenkenden ist dort eines der Hauptthemen. Als seine Töchter in Moskau bedroht wurden, weil sie Aufkleber gegen den Krieg trugen, floh Lukaschewskij mit seiner Familie nach Berlin: „Wenn wir nach historischen Analogien suchen, ähnelt diese Auswanderung natürlich am meisten der nach 1917. Denn diejenigen, die gehen, wissen, dass - ganz egal wie die militärische Konfrontation in der Ukraine endet – die Repressionen in jedem Fall radikal zunehmen werden. Entsprechend gehen die fort, die um ihre Sicherheit fürchten, und die, die verstehen, dass ihre Hoffnungen in Russland nicht erfüllt werden können - dass ihr Leben in Russland nicht mehr dasselbe sein wird.“
Flucht der Eliten
Auch nach der Revolution von 1917 verfolgte die Geheimpolizei Andersdenkende auf brutale Weise. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat ausführlich zu jener ersten Welle der russischen Emigration der 20er-Jahre geforscht. Er weist auf einen wichtigen Unterschied zu heute hin: „Das war der ganze Staatsapparat, Armee, Kunst der alten Zeit. Das war eine, ich würde sagen, Eliten-, nicht Emigration, sondern sie sind geflohen. Und sie hofften sehr, sehr lange, wieder zurückzukommen in ein Land, in dem der Bolschewismus abgewirtschaftet hat oder gestürzt ist.“
Hoffnungen, die sich bekanntlich nicht erfüllten. Anschließend habe es noch weitere Migrationswellen aus der Sowjetunion gegeben, erläutert Schlögel, unter anderem hätten Juden und Deutschstämmige ab den 80er-Jahren mit ihren Angehörigen das Land verlassen können.
Andersdenkende meiden Putin-Freunde
Die, die heute fliehen, treffen in Westeuropa auf Menschen, die Russland also deutlich früher verlassen haben. Auch da gibt es keine genauen Zahlen. Ein großer Teil von ihnen ist längst in der deutschen Gesellschaft aufgegangen, nur eine Minderheit unterstützt die Politik der russischen Regierung, ist teils gut vernetzt mit der russischen Botschaft und anderen staatlich gelenkten Stellen in Deutschland. Was nicht erstaunt: Die politisch anders denkenden neuen Migrantinnen und Migranten meiden die Nähe der Putin-Freunde. Historiker Schlögel hofft, dass die „Neuen“ ein Gegengewicht setzen: „Diese Leute, die jetzt geflüchtet sind, haben eine ungeheure Bedeutung mit ihrer Kompetenz, ihrer Verbundenheit mit beiden Welten. Ich würde sie sehr hoch schätzen.“
Einer, der geflüchtet ist, aber unermüdlich nach Russland hineinsendet, ist der Journalist Maksim Kurnikov. Er ist stellvertretender Chefredakteur des seit Anfang März in Russland verbotenen Radiosenders Echo Moskwy. Die Mitarbeiter machten auf Youtube weiter, in Telegram-Kanälen. Eigentlich wollte Kurnikov in Moskau bleiben. Doch bald wurde ihm klar, dass er als Reservist eingezogen werden könnte, um dann in den Krieg geschickt zu werden.
Arbeit auf Youtube und Telegram
Kurnikov lebt in Berlin, konnte dort an ein Netzwerk aus Journalisten anknüpfen. Dort produziert er eine You-Tube-Sendung und beantwortet Fragen. Zum Beispiel nach dem imperialen Bewusstsein der Russen. Ein Thema, das ihn beschäftigt: „Ich versuche, die Russen verstehen zu lassen, dass sie ein imperiales Bewusstsein haben. Ich möchte den Menschen, die demokratisch, die liberal sind, zeigen, dass und inwiefern auch sie imperialistisch sind - ohne dass sie sich dessen bewusst wären. Wir hoffen sehr, dass wir hier in Europa unsere eigenen Medien aufbauen können. Ich sehe meine Aufgabe darin, gute, qualitativ hochwertige, interessante Inhalte aufzubereiten, in russischer Sprache, für Russischsprachige - in Russland und außerhalb Russlands.“ Für Geld arbeiten darf Kurnikov nicht, denn er kam mit einem Touristenvisum und hat keine Arbeitsgenehmigung.
Peter Franck, Russlandexperte von Amnesty International unterstreicht die Bedeutung, die Arbeitsgenehmigungen haben: für Journalisten und Menschenrechtler aus Russland. „Es geht ja darum, dass sie ihre Arbeit zu Russland und an der Entwicklung Russlands trotz aller Schwierigkeiten, die es da im Moment gibt, die wollen die ja weitertreiben. Es wird eine Zeit nach Putin geben. Und da ist es eben wichtig, dass wir hier die Voraussetzungen schaffen, dass die Zusammenarbeit von den Leuten im Exil mit denen, die in Russland verblieben sind, auch wirklich möglich sind.“
Arbeitsmöglichkeiten und Visa für russische Oppositionelle
Abgesehen von der Unsicherheit, die durch den Aufenthaltsstatus und die fehlende Arbeitserlaubnis bedingt ist, haben russische Geflüchtete wie Maksim Kurnikov ein weiteres Problem: Sie sind von denselben Sanktionen betroffen wie auch die Menschen in Russland. „Diejenigen, die Russland verlassen haben, kommen an ihr eigenes Geld nicht ran. Das macht das Ankommen im Ausland noch schwieriger. Ich habe Bekannte, die hatten ein Konto bei der Deutschen Bank. Und als sie hierherkamen, waren sie überzeugt, dass sie die Sanktionen nicht treffen. Aber auch ihr Konto bei der Deutschen Bank war blockiert, weil sie russische Staatsbürger sind.“
Die Politologin Jekaterina Schulman mahnt zur Eile: „Das sind ja vor allem Menschen, die in ihrer Heimat ziemlich aktiv waren. Sie haben gearbeitet, sie haben öffentlich Stellung bezogen, haben kommuniziert, haben neue Strukturen gebildet und sich vernetzt. Es sind Menschen mit Überzeugungen, mit Positionen, mit einer Geschichte, die das Leben für sie in Russland schwierig oder gefährlich gemacht hat. Daraus kann man schließen, dass sie auch an ihrem neuen Aufenthaltsort versuchen werden, weiterzumachen - die sozialen Aufgaben, die sie in der Heimat wahrgenommen haben, auch weiterhin wahrzunehmen.“
Damit die Oppositionellen möglichst schnell weiterarbeiten können, müsse man Kriterien für ihren Aufenthalt schaffen, die das Ausländerrecht in der Form noch nicht kennt, meint Peter Franck von Amnesty International. Die jetzige Regelung hindere sie an ihrer wichtigen Arbeit: „Die sind seit Jahren mit Schengen-Visa dauernd hin und her gereist, auch immer wieder nach Russland zurückgekehrt, übrigens auch in gefährlichen Situationen. Jüngstes Beispiel ist ja auch Kara-Murza, der Oppositionspolitiker, der hier in Berlin noch gegen den Krieg aufgetreten ist und dann nach Russland zurückgekommen ist und jetzt in Haft ist, in Untersuchungshaft, und dem eben eine hohe Haftstrafe jetzt auch droht wegen Verbreitung falscher Informationen über den Krieg.“
Vladimir Kara-Murza sprach in einem Vortrag in den USA über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Zurück in Russland wurde er wegen des Verstoßes gegen das neue sogenannte Fake-Gesetz angeklagt. Dieses Gesetz verbietet, den Krieg gegen die Ukraine „Krieg“ zu nennen. Kara-Murza drohen viele Jahre Haft. Er hat bereits zwei Giftanschläge überlebt. Mehrfach hatte er die Möglichkeit, Russland zu verlassen, denn seine Frau und seine Kinder sind in den USA in Sicherheit. Doch er ist immer wieder nach Russland zurückgekehrt, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden. Peter Franck: „Das heißt, die Leute gehen diese Risiken ja teilweise ein, wollen hin und her fahren und dafür müssen wir jetzt wirklich, und zwar sehr schnell eine angemessene Lösung finden.“
Reisen in die Heimat erlaubt das Asylrecht nicht
Die touristischen Schengen-Visa der Dissidenten laufen nach drei Monaten ab. Um sie zu erneuern, müssten sie erst ausreisen. Eine unbrauchbare Regelung, so Flüchtlingsexperte Franck von Amnesty International, ebenso wie der Vorschlag, dass sie politisches Asyl beantragen sollten: „Die Lösung, die in der Öffentlichkeit immer wieder genannt wird, dass Leute, die verfolgt werden, ja auch ins Asylverfahren gehen könnten, ist eben für die Leute keine in der Regel zumindest keine Lösung, weil sie ja reisen wollen. Sie nehmen ja an internationalen Konferenzen in Brüssel, Oslo, sonst wo teil. Wenn Sie hier im laufenden Asylverfahren sind, ist Ihnen das nicht möglich.“
Reisen, schon gar in das Land, aus dem man geflüchtet ist – das erlaubt das Asylrecht nicht. „Wir haben uns im Laufe des April an fünf Bundesministerien gewandt. Eigentlich alle hatten sich öffentlich geäußert, dass das sehr leicht sein soll, dass es jetzt darauf ankommt, die russische Zivilgesellschaft auch zu unterstützen. Auf den Brief, ich glaube, der datiert vom 21. April, sind wir noch ohne Antwort. Wir haben eine Eingangsbestätigung aus dem Innenministerium bekommen, wo uns signalisiert wurde, die Sache sei in der politischen Diskussion, man sehe das Problem und wolle hier zu unbürokratischen Lösungen kommen. Aber offenbar streitet man hinter den Kulissen um den Weg, wie diese Lösung aussehen könnte.“
Bundesinnenministerium will weitere Einreisen ermöglichen
Auf Anfrage des Deutschlandfunks teilt das Bundesinnenministerium mit, dass man in der Bundesregierung intensiv berate, um besonders gefährdeten Menschen aus Russland weitere Einreisemöglichkeiten zu geben. Dazu zählten Journalistinnen und Journalisten, Oppositionelle, Künstlerinnen und Künstler.
Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit in der vergangenen Woche hat sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser zum Thema geäußert: „Der furchtbare russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch ein Informationskrieg, wie wir ihn noch nicht zuvor erlebt haben. Das zeigt, von welch fundamentaler Bedeutung freie und unabhängige Berichterstattung ist, die auch die russische Bevölkerung noch erreichen kann. Wir wollen russischen Journalistinnen und Journalisten, die verfolgt und bedroht werden, in Deutschland Schutz bieten. Und wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, von Deutschland aus frei und unabhängig zu berichten. Wir wollen die Einreise erleichtern und Verfahren beschleunigen. Selbstverständlich werden Personen, die wir so aufnehmen, von den Sicherheitsbehörden überprüft.“
Publizistische Gegenstimmen zur russischen Propaganda
Es geht im Wesentlichen darum, publizistische Gegengewichte zur russischen Regierungspropaganda zu setzen. Und zwar nicht allein in Russland, auch in allen ehemaligen Sowjetstaaten, wo die russischsprachigen Fernsehsender gerne gesehen werden. Denn Russland investiert in Studioausstattung, Bildqualität, Filme. Das macht die Fernsehsender beliebt. Können kritische Stimmen die Menschen dennoch erreichen?
Jekaterina Schulman hofft es. Denn Journalisten wie Maksim Kurnikov seien glaubwürdig: „Wenn künftig Plattformen entstehen, Medien in russischer Sprache für ein russischsprachiges Publikum, dann kann das die Lage vielleicht nicht grundlegend ändern, aber es gäbe wenigstens ein Medium, um die Leute anzusprechen, die bisher nur der Pervyj Kanal angesprochen hat.“
Der Pervyj Kanal, der Erste Kanal, ist ein russischer Staatssender. Sergej Guriev hat Russland bereits vor neun Jahren verlassen, nachdem unter anderem seine Computer beschlagnahmt wurden. Er ist einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler Russlands, war Rektor der einst als liberal geltenden Higher School of Economics. Guriev mahnte kürzlich in einem Gastbeitrag im Economist und auf Twitter zur Selbstkritik: „Geflüchtete aus Russland verdienen Unterstützung, denn sie werden später gebraucht. Anti-Putin-Russen haben versucht, Putin aufzuhalten, sind aber gescheitert. Damit sind sie mit dafür verantwortlich, dass dieser Krieg nicht verhindert werden konnte. Die Anti-Putin-Russen verdienen dennoch Unterstützung - nicht aus Mitleid, sondern um der Sicherheit der Ukraine und Europas willen. Denn Russland wird ihr Nachbar bleiben. Ein friedliches und demokratisches Russland ist daher im Interesse der Ukraine und Europas. Ein solches Russland kann aber nur von den Russen selbst aufgebaut werden."
"Große politische Katastrophe"
Doch dafür müssten sie arbeitsfähig sein. Die Politologin Jekaterina Schulman: „Ich will der Bundesregierung keine Ratschläge erteilen. Ich bin noch zu neu hier. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sich im nördlichen Eurasien eine große politische Katastrophe und ein großes Unglück ereignet. Sie betrifft jedes Land in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenen Formen. Ja, natürlich haben die Menschen, die vor den Bombenangriffen auf ihre Städte fliehen, Priorität. Ihr Leben ist direkt und unmittelbar bedroht. Aber auch die Menschen, die Angst haben vor Repressalien, vor Haft oder vor Angriffen durch extremistische Gruppen, die mit Erlaubnis der lokalen Regierungen operieren, gehen, weil sie sich bedroht fühlen. Und eine Priorisierung nach dem Prinzip, wessen Elend ist größer, ist moralisch schwierig."
Schulman weiter: "Es ist wie das Sortieren Verwundeter auf dem Schlachtfeld. Wen soll man medizinisch versorgen, wen im Stich lassen. Ich hoffe, dass es eine Möglichkeit gibt, eine vernünftige Rangfolge aufzustellen, auf der Basis, wer wirklich was benötigt: Wer sofort einen Status braucht, wer sofort materielle Unterstützung braucht, wer eine Arbeitserlaubnis braucht, und wer arbeiten kann und keine Sozialhilfe braucht. Ich denke, bei denen die aus der Russischen Föderation kommen, muss man das individuell entscheiden.“