Die „Entnazifizierung der Ukraine“, eine „spezielle Militäroperation“ – in Russland werden solche Narrative rund um die Uhr online, in Talkshows und Nachrichtensendungen verbreitet. Damit diese Propaganda ihren Weg nicht nach Europa findet, reagierte die EU mit Sanktionen schon kurz nach Beginn des Krieges. Staatsmedien wie „Sputnik“ und „RT“, ehemals „Russia Today“, wurden hierzulande verboten.
Trotzdem bleibt russische Propaganda und Desinformation in Reichweite: in unseren Social-Media-Feeds. So ist gerade das bei Jugendlichen beliebte TikTok ein gern genutztes Sprachrohr für Russland. Denn dort lassen sich sehr viele Nutzerinnen und Nutzer weltweit erreichen und man profitiert vom „algorithmischen Empfehlungssystem“, erklärt der TikTok-Experte Marcus Bösch.
„Wenn ich einen neuen Account anlege und ein Video veröffentliche, dann kann bereits mein erstes Video viral gehen. Auf anderen Plattformen, die eher einer sozialen Verteilungslogik untergeordnet sind, da ist es halt nicht so einfach. Das heißt, TikTok ermöglicht es halt, zumindest in der Theorie, dass frische Accounts sehr schnell viral gehen können – und das ist für Propaganda natürlich super.“
TikTok-Experte Bösch: Propaganda ist oft schwer zu erkennen
Die beobachtet Bösch in verschiedenen Formen, zugeschnitten auf jüngere, aber auch ältere Zielgruppen. Denn Propaganda und Destabilisierungskampagnen sollen ein möglichst breites Publikum erreichen. Mal sind es sogenannte „Thirst Traps“, in denen leicht bekleidete Männer und Frauen über das Visuelle zum Content locken; dann wieder ältere vermeintliche Experten in Videocall-ähnlichen Clips oder tanzende Influencer.
Marcus Bösch: „Das Problem ist, dass man viele Sachen einfach eben nicht erkennt, weil sie gut gemacht sind. Und wenn ich jetzt eine russische Influencerin sehe, die zu einem populären Stück performt, ist halt eben nicht von vornherein klar, dass hier gerade eine Propagandabotschaft verbreitet wird. Denn das ist ja gerade die Idee von Propaganda, dass ich sie nicht sofort erkenne, sondern dass sie sich irgendwie reinschleicht und irgendwo im Hinterkopf festsetzt.“
„Sputnik“ steckt hinter Kanal „Bloß mit Biss“
Auch beim deutschsprachigen TikTok-Kanal „Bloß mit Biss“ – seine Posts haben oft tausende bis mehrere Millionen Aufrufe – wird die Verbindung zu Russland nicht direkt deutlich. In kurzen Clips werden Zitate und Patzer von Politikerinnen und Politikern zusammengeschnitten, besonders der Grünen und weiblicher Akteurinnen wie Annalena Baerbock. Die deutsche Innenpolitik ist hier das Hauptthema. Mit polemischen, Ängste schürenden Kommentaren zu Energiewende, Inflation oder Heizreform.
Bloß mit Biss: „Plant Habeck eine Heiz-Stasi? Wie jetzt bekannt wurde, will der in volle Fahrt gekommene und Wärmepumpen-besessene Habeck ein Kataster mit allen Informationen zu jedem einzelnen Haus deutschlandweiter anlegen, um dann fürs Nichtbefolgen seiner außer Rand und Band gekommenen Heizungsgebote die Bürger abzukassieren. Grenzt das nicht schon an Überwachung?“
Eine Auswertung des Instituts für strategischen Dialog, kurz ISD, zeigt: Produziert wird der Kanal eigentlich von „SNA News“, dem deutschen Arm des russischen Staatssenders „Sputnik“.
Analystin Smirnova: Ziel ist, die Bundesregierung zu diskreditieren
Mit neuen Logos und Namen umgehen russische Staatsmedien die europäischen Sanktionen, so Julia Smirnova, Senior Analystin beim ISD. „Bei diesen Videos geht es darum, die deutsche Bundesregierung zu diskreditieren. Und es geht darum, Politiker und Politikerinnen von etablierten Parteien ins Lächerliche zu ziehen und sie als inkompetent darzustellen.“
Gezielt werden Inhalte geteilt, die beim Publikum Stimmung machen. Und gerade über kurze, auf den ersten Blick lustige Videos versucht Russland dabei Jugendliche zu erreichen, so Smirnova.
„Es geht auch darum, Medienkompetenz zu stärken“
TikTok selbst begegnet den Kampagnen bisher wenig konsequent: Manche Staatsmedien wurden zwar gesperrt oder gelabelt, aber viele Inhalte sind immer noch frei verfügbar, auch offensichtliche Fälle.
Julia Smirnova betont: „Die Verbreitung von Desinformationen ist ein Problem, für dessen Lösung ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz nötig ist. Es geht zum einen um die Regulierung von Social Media-Plattformen. Es geht darum, dass Social-Media-Plattformen die Verantwortung darüber übernehmen, welche Inhalte von Algorithmen empfohlen werden. Aber es geht auch darum, Medienkompetenz zu stärken.“
Gerade bei Jugendlichen, die etwa Nachrichten über Social Media konsumieren, aber auch bei erwachsenen Usern und Eltern. Denn wenn Propaganda schneller als solche erkannt wird, richtet sie weniger Schaden an.