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Russische Rentenreform
Rückhalt der Regierung Putin schwindet

Die russische Rentenreform ist einschneidend - fünf Jahre länger arbeiten. Für viele Russen bedeutet das: Sie werden das Rentenalter nie erleben. Der Widerstand gegen die Reform ist groß und die Zahl derer, die von der Regierung Putin enttäuscht sind, wächst. Sie fühlen sich betrogen.

Von Thielko Grieß |
    Ein älterer Mann verfolgt im Fernsehen eine Ansprache des russischen Präsidenten Waldimir Putin zur Rentenreform. Vladimir Smirnov/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS08E561
    Die Skepsis ist groß: In einer Fernsehansprache verteidigt Präsident Putin die Rentenreform (imago stock&people)
    Sankt Petersburg vor fast zwei Wochen: Wenige hundert Demonstranten haben von den Behörden die Erlaubnis bekommen, sich in einem Park zu versammeln und gegen die geplante Rentenreform zu protestieren. Viele sind zwischen 30 und 50, einige auch jünger. Vorn steht eine Bühne, die Lautsprecher sind laut. Am Rande des Parks wachen Polizei und Einsatzgruppen.
    "Putin ist ein Dieb", rufen die Leute. Zur Demonstration haben verschiedene Oppositionsgruppen gemeinsam aufgerufen. Vielleicht wären mehr Menschen gekommen, wenn nicht erst gut eine Stunde vor ihrem Beginn bekannt geworden wäre, dass diese Demonstration überhaupt stattfinden darf. Wie es aussieht, wenn eine nicht genehmigte Demonstration mit Knüppeln aufgelöst wird und Hunderte, darunter viele Jugendliche, festgenommen werden, hatte die Stadt erst eine Woche zuvor erlebt. An diesem Tag sind Roman und Wadim trotzdem gekommen, 53 und 52 Jahre alt sind sie.
    "Wir sind aus einem einfachen Grund gegen die Rentenreform: Es gibt in diesem Land Geld im Überfluss, aber es wird unangemessen ausgegeben. Zum Beispiel sind 20 Prozent des Föderalen Haushalts für geheim erklärt worden!"
    "Sogar Putin sagt, dass jährlich zwei Trillionen Rubel gestohlen werden. Was wäre denn besser? Diebe und Korrumpierte zu bestrafen oder eine Reform zu machen und damit den einfachen Leuten Geld wegzunehmen? Unser Land ist das reichste Land auf der Welt. Wir haben Bodenschätze, alles. Aber es wird so viel gestohlen, dass das Geld nicht einmal für miserable Renten ausreicht. Unsere Renten sind doch lächerlich."
    Russische Rente heißt nicht Ruhestand
    Beide hatten sich darauf eingestellt, mit 60 Jahren ihre Rente beziehen zu können. Doch die Reform, von der vor der Präsidentschaftswahl im März keine Rede war, wirft ihre Planung nun über den Haufen: Denn das Renteneintrittsalter wird um fünf Jahre angehoben. Für Männer wie sie gilt der 65. Geburtstag als Beginn des Ruhestands, für Frauen der 60. Bereits ab nächstem Januar wird schrittweise angehoben. Es ist die größte Rentenreform seit den 1930er-Jahren. So hat es die Staatsduma am Donnerstag mit der klaren Mehrheit der Abgeordneten der Kreml-Partei Einiges Russland beschlossen.
    Die Regierenden argumentieren: Anders als früher finanzieren inzwischen weniger als zwei Arbeitnehmer mit ihren Rentenbeiträgen einen Rentner. Damit diese Beiträge nicht ungebremst in die Höhe schnellen, zahlt der Staat aus Steuermitteln schon heute dazu. In diesem Jahr beträgt der Zuschuss laut Staatsduma umgerechnet rund 42 Milliarden Euro, knapp ein Fünftel des föderalen Haushalts. Tendenz steigend.
    Wladimir Putin verteidigte die Reform Ende August in einer Fernsehansprache. Für ihn, der einst eine Erhöhung des Rentenalters abgelehnt hatte, ein überraschender Schritt: "Sollen wir uns mit niedrigen Renten abfinden und darauf warten, bis das Rentensystem endgültig zusammenbricht? Sollen wir unpopuläre, jedoch notwendige Entscheidungen auf die Schultern der nächsten Generation legen oder sollten wir nicht jetzt handeln, weil wir jetzt schon wissen, was das Land in 15 bis 20 Jahren erwartet?"
    Protestveranstaltung gegen die Rentenreform mit duma-Abgeordneten in Moskau. Stanislav Krasilnikov/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS0913B2
    Protestveranstaltung gegen die Rentenreform mit Duma-Abgeordneten in Moskau (imago stock&people)
    Die Diskussion um den Ruhestand ist für ein Land, dessen Führung sonst viele Debatten gar nicht erst aufkommen lässt, eine Zäsur. Dabei ist das deutsche Wort "Ruhestand" für die Beschreibung russischer Verhältnisse unpassend: Denn mehr als jeder fünfte der aktuell insgesamt 46 Millionen Rentner arbeitet auch nach Renteneintritt erst einmal weiter, meist solange es die Gesundheit erlaubt. Häufig erledigen Senioren gering entlohnte Jobs, arbeiten als Wachmänner, im Reinigungsgewerbe oder als Kurier, um nur drei von vielen Möglichkeiten zu nennen. Zuverdienst-Grenzen gibt es nicht. Mit ihrem Einkommen unterstützen sie häufig die gesamte Familie. Zusätzlich übernehmen viele Rentner, wenn sie Großvater und Großmutter geworden sind, die Betreuung ihrer Enkel.
    Das russische Rentensystem ist, wie das deutsche, im Wesentlichen ein Umlagesystem. Rente aus Kapitalanlagen spielt in Russland so gut wie keine Rolle. Die arbeitenden Generationen zahlen also in eine staatliche Rentenkasse ein, die in Russland Pensionsfonds heißt. Der zahlt das Geld im Handumdrehen an die Rentner aus. Damit diese Rechnung aufgeht, braucht es genügend Einzahler.
    Niedrige Löhne – niedrige Renten
    Doch die meisten Ökonomen verweisen wie Präsident Putin auf die ungünstige Demographie. So auch Lilija Owtscharowa, Direktorin für Sozialforschung an der staatlichen Moskauer Hochschule für Wirtschaft. Sie hat die Arbeitsgruppe im Parlament beraten, die das Reformgesetz erarbeitet hat und spricht sich grundsätzlich für die Reform aus: "Das Rentensystem in unserem Land ist aus der Balance geraten. Wenn sich nichts ändert, wird im Jahr 2030 die durchschnittliche Rente 25 Prozent des Durchschnittslohns betragen. Heute sind es 32 Prozent. Das würde eine drastische Rentenkürzung bedeuten. Außerdem gehen zurzeit im Vergleich zu früheren Jahrgängen und denjenigen, die in fünf Jahren in Ruhestand gehen, nur wenige in Rente."
    Auch in Russland gilt: Wer in das Rentensystem einzahlt, erhält Rentenpunkte gutgeschrieben, die später in Rentenrubel umgerechnet werden. Wie viele es sind, hängt vor allem davon ab, wie lange jemand eingezahlt hat und wie viel er oder sie verdient hat. Die niedrigen Renten sind daher eine Folge vielfach niedriger Löhne. Dies hat sich in den vergangenen Jahren sogar verschärft, weil große und mittelständische Firmen Arbeitsplätze gestrichen haben. Stattdessen sind weniger gut bezahlte Jobs entstanden.
    Wie umstritten die Reform ist, illustriert auch der Besuch eines Marktes in Rjasan. Die Stadt von knapp 540.000 Einwohnern liegt etwa 200 Kilometer südöstlich von Moskau. Händler bieten Pilze, Karotten, Kartoffeln und anderes Gemüse an. Rjasan ist ein Beispiel für den Durchschnitt. Ein Aushang an einer Brotfabrik schreibt Jobs aus: Ein Verkäufer im unternehmenseigenen Laden erhält 15.000 Rubel. Das sind umgerechnet weniger als 200 Euro. Nach Angaben der regionalen Zweigstelle des Pensionsfonds liegt die durchschnittliche Rente etwa im russlandweiten Mittel ebenfalls bei weniger als 200 Euro monatlich.
    Vor dem Eingang zum Markt, wo zu sitzen es nichts kostet, bieten alte Frauen ihr Obst und Gemüse aus dem Garten oder von der Datsche an. Irina versucht, Äpfel zu verkaufen. Das Kilo für rund 40 Cents. "Sehen Sie, dass alle viele Äpfel haben? Sie verkaufen sich schlecht. Und wir sitzen hier." Die 76-Jährige gibt ihre Rente mit 126 Euro monatlich an. Ihr Mann bekommt auch Rente, aber beide finanzieren auch noch einen Enkel, der bei ihnen wohnt. Irina arbeitet nicht mehr regelmäßig.
    Dieser Gruppe von Rentnern verspricht die Regierung sogar eine Rentenerhöhung von durchschnittlich 1.000 Rubel monatlich, etwa 12,50 Euro. Eine solche Steigerung soll es auch in den nächsten Jahren geben. "Was sind schon 1.000 Rubel? Brot für drei Personen kostet 50 Rubel: ein Weißbrot und ein Roggenbrot. Ein Liter Milch kostet 50 Rubel. Ein Kilo Quark 250 Rubel."
    Viele werden die Rente nicht erleben
    Auch in Russland gilt: Wer wenig verdient, hat mehr Mühe, gesund zu leben und gesund zu bleiben. Das staatliche Gesundheitssystem bietet zwar viele unentgeltliche Leistungen. Aber damit sind oft lange Wartezeiten und oft auch falsche Diagnosen verbunden, vom Verschwinden vieler Polikliniken auf dem Land ganz zu schweigen. Und viele kompliziertere Maßnahmen müssen Patienten selbst zahlen.
    Eine Folge ist, dass die Lebenserwartung in Russland viel niedriger liegt als etwa in Deutschland. Ein Mann, der 1963 geboren wurde, gehört laut Reform zum ersten Jahrgang, der bis zum 65. Geburtstag arbeiten muss. Jedoch: Ein Durchschnittsrusse dieses Jahrgangs wird nach einer Statistik der Weltbank nur gut 63 Jahre alt. Viele werden die Rente also nicht erleben. Eine Frau, die 1968 geboren wurde, gehört auch zum ersten Jahrgang, der Rente künftig erst mit 60 Jahren bekommen wird. Eine solche Frau wird laut Weltbank fast 73 Jahre alt und erhält somit gut 13 Jahre lang Rente. Vor der Reform waren es fünf Jahre mehr.
    Eine russische Ärztin untersucht einen Mann aus der Region Novosibirsk. Kirill Kukhmar/TASS
    Die durchschnittliche Lebenserwartung der russischen Männer, die als erste von der Rentenreform betroffen sind, beträgt lediglich 63 Jahre (imago stock&people)
    Jedoch sind diese Durchschnittswerte für ein Land der Größe Russlands nur wenig aussagekräftig. Denn in manchen Regionen, etwa in den kalten nördlichen, liegt die Lebenserwartung weit niedriger. Dagegen fällt sie in Moskau, wo die Gesundheitsversorgung besser ist, höher aus. Doch manche Berufe schädigen Arbeitnehmer dort so sehr, dass auch sie im statistischen Durchschnitt jünger sterben.
    Bei der Demonstration gegen die Rentenreform in Sankt Petersburg stellt sich auch ein Notarzt ans Mikrofon: Grigorij Bobinow von der Gewerkschaft "Dejstwije" für medizinisches Personal. Er ruft, er solidarisiere sich mit den Demonstranten, und steht danach etwas abseits der Bühne: "Krankenschwestern in der Chirurgie sterben häufiger vor ihrem 50. Lebensjahr als Menschen in anderen medizinischen Berufen. Ärzte können von ihrem Gehalt nicht leben. Sie haben anderthalb oder sogar zwei Vollzeitjobs. Ich kenne Menschen, die wöchentlich nicht 40, sondern 120 Stunden arbeiten. Sie schlafen nicht, sondern arbeiten rund um die Uhr."
    Der Arzt ergänzt: In Sankt Petersburg sei die Lage vieler Arbeitnehmer nicht ganz so schlimm, weil eine Reihe alter Fabriken geschlossen worden seien: "Aber in der Peripherie, in Fabriken, wo zum Beispiel mit Schwefelsäure gearbeitet wird, ist es anders. Lassen sie dort mal alle lächeln. Die Leute haben keine Zähne mehr. Oder Schweißer, die mit 40 Jahren ihre Lungen ausspucken. Die Regierenden begreifen nicht, dass Menschen nur mit Mühe bis zur Rente durchhalten."
    Allerdings wächst die Lebenserwartung für beide Geschlechter seit einem Einbruch in den 90er Jahren drastisch an. Nach Daten der Weltbank kann ein im Jahr 2016 geborenes Mädchen mit einer Lebenszeit von fast 77 Jahren rechnen, ein Junge jedoch nur mit knapp 67 Jahren, nur zwei Jahre über dem neuen Rentenalter und unter deutschen Werten. Diese Sachverhalte erklären einen wichtigen Teil des Unmuts in Russland, wenn von der Rentenreform die Rede ist: Viele Menschen erleben jetzt und voraussichtlich auch in Zukunft keinen langen goldenen Lebensabend. Denn um die Lebenserwartung weiter spürbar weiter zu steigern, wären große Investitionen in das Gesundheitssystem notwendig. Die sind zwar vage angekündigt, aber ob und wann sie kommen, weiß niemand. Die Kürzungspläne bei der Rente sind dagegen bereits beschlossen.
    Putins Kalkül geht nicht auf
    "Ich begrüße alle Gäste des legendären Stadion Luschniki. Herzlich willkommen in Russland!" Wladimir Putin eröffnet am 14. Juni die Fußball-Weltmeisterschaft. Sie versetzt Teile seines Landes in Euphorie, zumal sich die Nationalmannschaft im eigenen Land bis ins Viertelfinale vorspielt. Zwei Tage nach dem Eröffnungsspiel gelangt der Gesetzentwurf der Rentenreform an die Öffentlichkeit.
    Das Kalkül ging nicht auf: Die Zustimmungsraten für die Arbeit des Präsidenten sind nach Zahlen des unabhängigen Lewada-Zentrums deutlich gefallen: Zuletzt wurden rund 70 Prozent gemessen, das ist deutlich weniger als kurz nach der Präsidentschaftswahl vor einem halben Jahr. Schlechter waren Putins demoskopische Werte zuletzt 2013, also vor der Krim-Annexion, die Wladimir Putin von weiten Teilen der Bevölkerung Russlands hoch angerechnet wird. Seither ist die wirtschaftliche Lage für viele aber schlechter geworden. Die Reallöhne sind um mehr als elf Prozent gesunken. Gründe sind niedrigere Öl- und Gaspreise, Russlands Hauptexportgüter, und die Sanktionen sowie eigene, russische Gegensanktionen. Ungefähr jeder fünfte Russe gilt nach russischen Maßstäben als arm.
    Der Staatsapparat reagiert. Dass er reagiert, zeigt, dass die Proteste und sinkende Zustimmungsraten im Kreml registriert worden sind. Dessen Antwort besteht erstens darin, dass manche Gruppen von der Rentenreform verschont bleiben, zweitens bleiben Ausnahmen bestehen, die zum Teil schon seit Sowjetzeiten gelten. Es war der Präsident selbst, der Erleichterungen im Fernsehen verkündete: Frauen müssen, wie Männer, nur fünf Jahre mehr arbeiten. Zuvor war die Rede von acht Jahren gewesen: "Wir haben in unserem Land ein besonders sorgsames Verhältnis zu Frauen. Uns ist klar, dass sie nicht nur an ihrem Arbeitsplatz Leistung zeigen, sondern in der Regel auch durch Haushalt, Familie, Kindererziehung und Enkelbetreuung belastet sind."
    Transparent auf einer Demonstration gegen die russische Rentenreform zeigt Präsident Putin als Dieb. Copyright: xVictorxKruchininx
    Das Kalkül von Wladimir Putin, mit der Fußball-Weltmeisterschaft von der Rentenreform abzulenken, ging nicht auf (imago stock&people)
    Außerdem dürfen kinderreiche Mütter früher in Rente gehen dürfen, ebenso die ersten von der Reform betroffenen Jahrgänge. Für Arbeitnehmer kurz vor der Rente gilt ein schärferer Kündigungsschutz. Statistiken zeigen, dass schon heute ältere Arbeitnehmer große Schwierigkeiten haben, gut bezahlte Stellen zu finden. Es gilt außerdem das Prinzip der Berufsjahre: Frauen mit 37 Berufsjahren dürfen in Rente gehen. Männer mit 42.
    Ausgenommen von der Reform bleiben, wie schon seit Jahrzehnten, Militärs, Geheimdienstler und Polizisten. Für sie gilt: Wer 20 Jahre gedient hat, kann Rente beziehen. Zivile Staatsdiener mit 20 Dienstjahren hingegen dürfen erst später in Rente gehen, Frauen mit 63 und Männer mit 65. Das ist bereits beschlossen und wird schrittweise umgesetzt. Ausgenommen bleiben auch Menschen in nördlich gelegenen Regionen mit harschem Klima, es gibt Sonderregeln für manche Ethnien und eine lange Reihe von Berufen, darunter Ballerinen, Forstarbeiter, unter Tage Arbeitende. Die Liste ist lang.
    Gleichzeitig wird versucht, die Schwarzarbeit zurückzudrängen. Die Anzahl der Jobs im Schwarzmarkt wird von Ökonomen auf rund 20 Millionen geschätzt. Falls das gelingt, hätte der Pensionsfonds mehr Einnahmen und dadurch mehr Menschen Aussicht auf eine höhere Rente. Wladislaw Manow, Sprecher des Pensionsfonds in der Stadt Rjasan, schildert seine Bemühungen, wenn er in Schulen Überzeugungsarbeit leisten will.
    "Zuerst hören die Kinder mit großer Skepsis zu und widmen sich lieber ihrem Smartphone. Aber dann beginnst du, reale Beispiele anzuführen: Jemand hat lebenslang irgendwie irgendwo gearbeitet, hat nicht schlecht verdient und trotzdem kann er, nachdem Augen, Hände und Kopf nicht mehr so gut funktionieren, kaum existieren. Solche Beispiele haben eine sehr starke emotionale Wirkung." Was er beschreibt, trifft ein tiefer liegendes Phänomen: Viele Russinnen und Russen richten an staatliche Leistungen keine großen Erwartungen. Denn im Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat fehlt das Vertrauen.
    "Entschuldigung, aber ich glaube Euch nicht mehr"
    Vor dem Sacharow-Zentrum, einem der wenigen verbliebenen Orte Moskaus, an dem gesellschaftliche Diskurse frei geführt werden können, ist gerade eine zweistündige Debatte zu Ende gegangen. Befürworter und Gegner der Reform haben sachlich miteinander gestritten. Und nun geht es, bei einer Zigarette, vor der Tür weiter. Neben Zahlen und Demographie bleiben von der Veranstaltung Einwürfe von Zuhörern hängen, wie dieser: "Beim Thema Geld geht es nicht nur um Zahlen, sondern um Vertrauen. Meine Rubel, die ich eingezahlt habe, wurden in Punkte umgewandelt. Wie sie gezählt werden, weiß keiner. Jungs, Entschuldigung, aber ich glaube Euch nicht mehr. Laut Internet-Enthüllungen ist der Chef des Rentenfonds ein Dieb. Und Sie wollen, dass diese Menschen uns sagen, wie wir im Alter leben sollen? Wie wollen Sie Vertrauen wieder herstellen?"
    Zum Vertrauensschwund hat auch die Geschichte des Nationalen Wohlfahrtsfonds beigetragen: Der wurde vor zehn Jahren mit großen Worten eröffnet und aus Milliardengewinnen des Öl- und Gasverkaufs gespeist. Anfang September wies er knapp 76 Milliarden US-Dollar auf, was nach zehnjährigem Einzahlen wenig Geld ist. Die russische Regierung hat Medienberichten zufolge Milliarden zweckentfremdet und für Rüstung oder Infrastrukturprojekte ausgegeben wie etwa die neue Brücke zwischen russischem Festland und der Halbinsel Krim. Sie ist bereits teilweise in Betrieb. Gebaut hat sie ein Konsortium unter Führung des Putin-Freunds Arkadij Rotenberg. Diese Zusammenhänge werden in Russland nicht breit diskutiert, nicht transparent gemacht und folglich auch nicht infrage gestellt, weil Regierung, Systemopposition und staatliche Medien zu ihnen weitgehend schweigen.
    Das gilt auch für eine bereits beschlossene Steuererhöhung, die zu Jahresbeginn 2019 ansteht: Die Mehrwertsteuer steigt dann für die meisten Produkte und Dienstleistungen um zwei Punkte auf dann 20 Prozent. Ökonomin Owtscharowa von der Hochschule für Wirtschaft in Moskau: "Die Erhöhung der Mehrwertsteuer führt letztlich immer zu einem Aufschlag auf Preise. Den bezahlt immer die Bevölkerung. Höhere Preise führen zu Inflation. Deshalb: Für die Leute wird das schlecht sein."
    Viel spricht dafür, dass dies und die Rentenreform die Zahl der von der Regierungspolitik Enttäuschten weiter wachsen lässt. Politische Veränderungen ergeben sich daraus aber noch längst nicht. Dazu fehlen freie und faire Wahlen, politische Alternativen - und ein mehrheitlicher Wunsch, das geltende System verändern zu wollen. Die Rentenreform ist zwar beschlossen, doch ein Ruhestand für den Präsidenten ist mit ihr nicht verbunden.