Früher war alles einfacher. Zumindest auf den ersten Blick. 1937 zum Beispiel. Am 20. Jahrestag der Oktoberrevolution waren die Sieger an der Macht und ließen feiern. Sergej Prokofjew schrieb eine "Revolutions-Kantate" nach Texten von Marx, Lenin und Stalin.
Als Prokofjew seine Kantate präsentierte, wurde sie von der Kulturbürokratie abgelehnt. Wegen "Unverständlichkeit der Musik". Die Uraufführung erfolgte erst 30 Jahre später. Doch das waren im Vergleich zu heute kleine Irritationen. Die Oktoberrevolution blieb bis 1991 der wichtigste Feiertag der Sowjetunion. 26 Jahre später wittert der Staat in der eigenen Geschichte eine Gefahr und Präsident Putin predigt nationale Einheit:
"Wir brauchen die Lektionen der Geschichte vor allem für die Versöhnung. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Spaltungen und die Bitternis der Vergangenheit unser heutiges Leben treffen."
Netzwerk der Erinnerungen
Weil das Volk in Sachen 1917 in Wahrheit tief gespalten ist, fallen die offiziellen Gedenkveranstaltungen spartanisch aus. Eine Kommission wurde eingerichtet, es wird ein paar Reden, Konferenzen und Ausstellungen geben. Mehr nicht. Das bislang eindrucksvollste Projekt rund um die Revolutionen geht auf private Initiative zurück. Und jeder hat es in der Hosentasche.
Projekt1917 ist das beste soziale Netzwerk der Welt. Alle Mitglieder sind schon lange tot! Hinter Project1917 steckt ein Team von Journalisten, Historikern und Programmieren, das angeführt wird von Michail Zygar. Der war lange Chefredakteur des unabhängigen Fernsehsenders Dozhd und hat eines der wenigen guten Putin-Bücher geschrieben. Der wichtigste Partner von project1917 ist der Yandex-Konzern, Russlands Google. Als Ausgangsmaterial dienen die Tagebücher, Briefe und Erinnerungen von hunderten Zeitgenossen.
Liken und Reposten
"So gewinnen die historischen Gestalten Tiefe. Wir sehen ihre Gesichter, ihre Gedanken. Schauen Sie hier: General Brusilow, Sergej Bulgakow, Bucharin. Hier, die gesamte Zarenfamilie. Obwohl die sich liest wie der Blog von unserm Premier Medwedjew. Ich habe das Gefühl, dass alle, die in Russland an der Macht waren, also diese Zaren, dass die eher unterbelichtet waren."
Wie auf Facebook können die Leser wählen, wem sie folgen wollen, Kommentare hinterlassen, liken und reposten. Sie erhalten Links zu Artikeln, zeitgenössische Kunst und Musik werden vorgestellt. Dazu die aktuellen Brotpreise und das Wetter. Tag für Tag erleben die Leser, wie Geschichte gemacht und erlebt wird. Als der Zar abdankt, schreibt Igor Strawinskij an seine Mutter:
"All meine Gedanken sind bei dir an diesen unvergesslichen Tagen des Glücks, die unser teures, befreites Russland erlebt."
Direkter Zugang
Aus Kronstadt wird gemeldet, dass Matrosen ihre Offiziere verprügeln und erschießen. Stefan Zweig hält die Revolution für eine Palastintrige. Und die Ballerina Matilda Kschesinskaja ängstigt sich in ihrer Wohnung:
"Wenn ein LKW vorbeifährt denke ich: Jetzt hält er an und das heißt: Durchsuchung, Arrest oder Schlimmeres."
Projekt1917 gibt seinen Usern direkten Zugang zu den Quellen und unterläuft so geschickt alle staatlichen Versuche, eine Generallinie des historischen Gedenkens zu etablieren.
Der 24-jährige Jewgenij meint: "Vielen gehen die offiziellen staatliche Vorgaben auf die Nerven. Ich find es gut, wenn die Leute selbständig analysieren und nachdenken, anstatt ihr Wissen aus dem Fernseher zu beziehen."
Fehler von 1917 wiederholt?
Falls das passiert, dann hat Project1917 sein Ziel erreicht. Auch wenn kluge Köpfe kritisieren, dass das Netzwerk einen Fehler von 1917 wiederholt: Es konzentriert sich auf die schreibende Elite in Kunst, Politik und Militär und vernachlässigt jene, die im Oktober den Bolschewiki zum Sieg verhelfen: die Arbeiter und Soldaten von Petrograd. Die Journalistin Katja zieht daraus Konsequenzen:
"Anstatt morgens beim Kaffeetrinken das nervige aktuelle Facebook zu lesen, kann man hier nachlesen, wie mehr oder weniger die gesamte Intelligenzija die Revolution freudig begrüßt. Mich hat das auf den Gedanken gebracht, dass ich mit Facebook aufhören muss. Damals haben alle viel geschrieben und nachgedacht, wir aber wissen, wie es ausging. Darum ist es so traurig, das zu lesen. Und das heutige Facebook ist noch trauriger. Damals haben die Leute immerhin noch Gedanken formuliert."