"Am Ostermontag, dem 9. April, versammelten sich die Passagiere auf dem Platz außerhalb des pseudoklassischen Züricher Bahnhofs. Zweiunddreißig Erwachsene sollten die Reise antreten. Es war bloß ein Schweizer Nahverkehrszug nach Schaffhausen und zum Grenzposten Gottmadingen, aber die Russen erweckten den Anschein, sie näherten sich dem Schafott."
So beschreibt die englische Historikerin Catherine Merridale die Abfahrt Wladimir Iljitsch Lenins und seiner Entourage aus Zürich. In Lenins Heimat Russland war kurz zuvor die Februarrevolution ausgebrochen. Hungersnöte und der zermürbende Krieg hatten zu Massenprotesten und schließlich zur Abdankung des Zaren geführt. Lenin lebte jedoch fernab vom Geschehen im Schweizer Exil.
Fahrt durch deutsches Feindesland
"Sie können sich vorstellen, welche Qual es für uns alle ist, in einer Zeit wie dieser hier festzusitzen. Wir müssen irgendwie aufbrechen, und wenn es durch die Hölle ist", klagte Wladimir Iljitsch Lenin im März 1917 in einem Brief an einen Weggefährten. Als Führer der militantesten revolutionären Partei Russlands wollte er unbedingt heimkehren, und sei es "durch die Hölle". Eine Rückkehr über deutsches Territorium schien jedoch aussichtslos, denn Deutschland und Russland waren erbitterte Kriegsgegner. Der russische Außenminister hatte sogar gedroht, jeden Exilanten, der mit deutscher Hilfe heimkehre, an der Grenze verhaften zu lassen. Gleichwohl nahmen Mittelsmänner geheime Verhandlungen auf, da die deutsche Regierung mit Hilfe "extremistischer Elemente", wie es in Berlin hieß, Russland noch weiter ins Chaos stürzen wollte.
"Als ihnen Lenin empfohlen wurde, begriffen deutsche Staatsdiener rasch, welches Potential für die Störung der russischen Kriegsbemühungen darin lag, ihn zu unterstützen. Angesichts dieses erfreulichen Gedankens hatten sie nichts dagegen, die sichere Durchfahrt des Bolschewikenführers durch ihr Land zu organisieren."
Eine bunt gemischte Gesellschaft
Catherine Merridale, eine renommierte Russland-Expertin, beschreibt minutiös Lenins Fahrt in die Revolution. Dazu studierte die Autorin alte Fahrpläne und legte selber noch einmal die Strecke zwischen Zürich und St. Petersburg zurück.
"Ich hatte vor, sowohl Lenins Fahrplan als auch seine genaue Route einzuhalten. Die meisten Experten lassen ihn auf einer Bahnlinie nach Norden reisen, die 1917 noch gar nicht gebaut war."
Aber auch die Autorin hält sich nicht an die Vorgaben einer nüchternen, quellengesicherten Geschichtsschreibung. Sie erzählt das Geschehen hautnah im Reportagestil einer teilnehmenden Beobachterin und suggeriert eine besondere Nähe zu Personen und Schauplätzen. Die Brötchen und Schokoladenriegel in den Körben der Reisenden werden ebenso erwähnt wie die Diskussionen, wer wo im Abteil sitzt. Zur Gruppe gehörten unter anderen Lenins Ehefrau und Geliebte, der Parteifreund Sinowjew mit Gattin, neunjährigem Sohn und erster Ehefrau sowie junge Schriftsteller und altgediente Aktivisten, eine bunt gemischte Gesellschaft.
"Während sich der Zug langsam nach Norden in Bewegung setzte, stand Lenin an seinem dunklen Fenster – eine bescheidene Gestalt in einem verstaubten Anzug und mit den Daumen in den Westentaschen. Jenseits seines Spiegelbilds konnte er sehen, dass die Erlenwälder grün wurden."
Manche Historiker werden angesichts solcher Passagen die Nase rümpfen, aber der Autorin gelingt es, unterhaltsame Episoden mit relevanten Informationen, amüsante Anekdoten mit fundierten Einsichten zu verbinden. Allerdings kann auch Merridale keine grundlegend neuen Erkenntnisse präsentieren, sind doch die Umstände der Fahrt weitgehend erforscht. Der Militärhistoriker Werner Hahlweg hat bereits 1957 in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte akribisch Lenins Reise durch Deutschland beschrieben. Merridale kann dem wenig Erhellendes hinzufügen, liefert dafür aber eine kurzweilige Geschichte der Zugfahrt in die Revolution.
Reise in Abteilen der zweiten und dritten Klasse
"Lenin hatte das Rauchen in den Abteilen und Korridoren von Anfang an verboten, und da niemand rasch draußen ein wenig paffen konnte, waren alle auf die einzige Toilette in der russischen Zone angewiesen. Sehr schnell bildete sich eine unglaublich lange Schlange, und die Passagiere, welche die Toilette zu ihrem eigentlichen Zweck benutzen wollten, mussten hinter einer Schar von Rauchern warten. Lenins Lösung bestand darin, den Rauchern Passierscheine 'zweiter Klasse' für die Toilette auszuhändigen, die von den Scheinen 'erster Klasse' anderer Interessenten übertrumpft werden konnten."
Lenins Einfall lobte der mitreisende Genosse Karl Radek als "organisatorische Parteiarbeit".
Ganz dem proletarischen Ethos verpflichtet, reisten die Exilanten nur in Abteilen zweiter und dritter Klasse. Im Inneren des plombierten Waggons markierte ein Kreidestrich auf dem Boden symbolisch die Grenze, die das deutsche Begleitpersonal nicht übertreten durfte, damit die russischen Revolutionäre später zu Hause behaupten konnten, sie hätten jede Berührung mit dem deutschen Feind vermieden.
Ohne Kontakt zur Bevölkerung passierten die Russen die Bahnhöfe Stuttgart, Frankfurt am Main und Berlin, bevor sie Saßnitz auf Rügen erreichten, mit der Fähre übersetzten und über Schweden und Finnland weiterfuhren Richtung Heimat.
"Man hat Lenin wie einen Pestbazillus in einem plombierten Waggon von der Schweiz nach Russland befördert."
Kommentierte später Winston Churchill die Zugfahrt durch Deutschland. In der Hauptstadt Petrograd, dem heutigen St. Petersburg, bereiteten Sympathisanten Lenin am 16. April einen begeisterten Empfang.
Lenins Mitreisende wurden ermordet
Eine Geschichte, die als abenteuerliche Zugfahrt begann, wurde bald zu einer Tragödie für alle Beteiligten, so Catherine Merridale.
"Das Auswärtige Amt in Berlin hatte geplant, Lenin nur so lange zu benutzen, bis das russische Heer scheiterte; sobald er seinen Zweck erfüllt habe, könne er den Wölfen zum Fraß vorgeworfen werden."
Doch es kam bekanntlich anders. Die revolutionären Geister, die die Reichsregierung gerufen hatte, wurde sie nicht mehr los. Lenin, ein Mann der Tat, leitete ein neues Kapitel der Geschichte ein, das nicht nur Russland, sondern die Welt erschütterte. Anderthalb Jahre nach Lenins Zugfahrt durch Deutschland besiegelte die Novemberrevolution 1918 den Untergang des Kaiserreichs. In Russland fraß die Revolution ihre Kinder. Im Schlusskapitel beschreibt Merridale ausführlich, wie Stalin im Zuge der "großen Säuberungen" Lenins Mitreisende umbringen ließ: Sinowjew wurde 1936 erschossen, Sohn und zweite Ehefrau kurz darauf, Sinowjews erste Frau verschwand für zwei Jahrzehnte im Gulag. Karl Radek und Grigori Sokolnikow wurden 1939 in Arbeitslagern zu Tode geprügelt.
Catherine Merridale: "Lenins Zug. Die Reise in die Revolution"
S. Fischer Verlag, 384 Seiten, 25,00 Euro.
S. Fischer Verlag, 384 Seiten, 25,00 Euro.