Frederik Rother: Es war ein politischer Paukenschlag, mit dem der russische Präsident das neue Jahr eingeläutet hat. Wladimir Putin ernannte Mitte Januar einen neuen Premierminister und er setzte – für viele überraschend – eine Verfassungsreform auf die politische Tagesordnung. Die geplanten Änderungen sind in den letzten Wochen immer konkreter geworden, heute und morgen finden im russischen Parlament die finalen Lesungen des entsprechenden Gesetzentwurfes statt. Damit befindet sich das Projekt auf der politischen Zielgeraden. Was steht im Gesetzentwurf, der jetzt in der Staatduma behandelt wird, drin?
Thielko Grieß: Es ist ein ziemlich dickes Paket, 200 Änderungen sind darin enthalten, laut dem Parlamentsvorsitzenden Wolodin. Sehr vieles davon betrifft das Amt des Präsidenten und wie dessen Kompetenzen verändert werden. Die wichtigsten Veränderungen: Künftig kann ein russischer Präsident maximal zwei Amtszeiten absolvieren à sechs Jahre, macht in Summe zwölf Jahre. Er wird mächtiger, er bekommt mehr Macht zum Beispiel bei der Bestellung der Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gericht. Er bekommt mehr Möglichkeiten, das Parlament zu überstimmen, falls das mal auf die Idee kommen sollte, ein Veto einzulegen. Das ist in den vergangenen Jahren nicht mehr passiert, aber grundsätzlich ist das möglich, und auch die Immunität des Präsidenten soll festgeschrieben werden in der Verfassung.
Identitäts- und Geschichtspolitik in der Verfassung
Klar wird jetzt auch, nachdem der Text vorliegt, der in der Staatsduma zur Abstimmung steht, dass von einer Parlamentarisierung, die wir vielleicht noch vermutet hatten, nach der Rede Putins an die Nation, dass von dieser Parlamentarisierung eigentlich keine Rede mehr sein kann. Und es gibt noch einen ganzen großen weiteren Block. Der dreht sich um Identitätspolitik und Geschichtspolitik. Der Staat will die sogenannte historische Wahrheit definieren, also das, was Inhalt historischer Erinnerungen bleiben und sein soll.
Rother: Wie sind in diesen gesellschaftspolitischen Vorschläge, die Sie jetzt zuletzt kurz skizziert haben, wie sind denn die einzuordnen? Wer soll damit angesprochen werden?
Grieß: Ganz verschiedene Zielgruppen, um ihnen einen Grund zu geben, ich denke, dass ist das Kalkül, zur Volksabstimmung zu gehen und abzustimmen, die ist geplant für den 22. April. Kleine Fußnote: Niemand weiß, wie sich das mit dem Coronavirus in Russland weiter verhalten wird, und das ist ja eine Massenveranstaltung, und manch einer überlegt schon laut, ob man dann eine solche Volksabstimmung überhaupt machen kann, aber so weit ist es noch nicht.
Also, es gibt die Festschreibung der Ehe auf Mann und Frau, das spricht konservative Kreise an. Es wird die Erhöhung der Rente festgeschrieben oder die Anpassung an die Inflation, das ist in der Regel eine Erhöhung. Das spricht die große Gruppe der Rentner an oder ganze Familien und ist ein Stück Besänftigung auch nach der harten Rentenreform. Der Mindestlohn wird festgeschrieben, ein Zeichen gegen Armut. Und vielleicht auch ein interessantes Beispiel, die Erwähnung des Gottesglaubens. Das spricht natürlich religiöse Menschen an, die orthodoxe Kirche, aber es ist so neutral gehalten, dass es auch etwa Buddhisten und Muslime ansprechen kann,
Wenig Kritik an der Verfassungsreform
Rother: Diese Maßnahmen könnten also die Zustimmung zu dem Reformprojekt erhöhen. Gibt es denn auch Kritik an den geplanten Änderungen von der Bevölkerung oder der Opposition?
Grieß: Es gibt wenig breite Kritik. Es gab vor kurzem eine Umfrage des Lewada-Zentrums. Ein Ergebnis: Acht Prozent der Russen kennen die Verfassung überhaupt nur gut. Das ist vielleicht ein Indikator dafür, dass auch die zur Zeit gültige Verfassung nicht allzu viele Menschen wirklich interessiert. Dazu kommt: Es gibt ja nun keine ganz breite Diskussion, es gibt auch wenig artikulierte Gegenstimmen in der Öffentlichkeit. Die Systemopposition fällt ohnehin flach, sie wird zustimmen in der Staatsduma, und die außerparlamentarische Opposition ist gespalten. Eine der Führungsfiguren, Alexej Nawalny, hat sehr früh schon gesagt, die geltende Verfassung sei nicht schützenswert, er werde sich also aus der Diskussion weitgehend heraushalten, damit ist die Opposition gespalten. Und es gibt darüber hinaus nur sehr kleine Gruppen, die dazu aufrufen, nicht zur Abstimmung zu gehen oder mit Nein zu stimmen.
Machtzuwachs für den Präsidenten
Rother: Seit dem Beginn dieses Reformprozesses steht eine These im Raum, und zwar die, dass Putin seine Macht erhalten will, auch über 2024 hinaus, wenn seine Amtszeit regulär endet. Wie schätzen Sie das ein, auch auf Basis der aktuellen Änderungsvorschläge?
Grieß: Halten wir noch mal fest, dass die Kompetenzen und die Macht des Präsidenten gegenüber dem jetzigen und heutigen Zustand noch einmal deutlich wachsen. Und Wladimir Putin hat vor wenigen Tagen gesagt, er sehe zurzeit nicht die Zeit für einen Machtwechsel gekommen, Russland brauche Stabilität und die zu erhalten, betrachte er als sein – Zitat – Schicksal. Welchen Reim machen wir uns daraus? Es gibt verschiedene Möglichkeiten.
Vielleicht wird die Zählweise der Amtszeiten wieder auf null gesetzt, und Wladimir Putin nimmt noch einmal zwei Amtszeiten in Anspruch. Vielleicht ist aber auch das Zusammengehen mit dem Nachbarland Belarus noch nicht ganz vom Tisch, auch dann könnte man noch einmal auf null setzen. Er hat zumindest geäußert, er sehe sich nicht als Vorsitzender des neuen Staatsrates, das ist ein neues Gremium, das auch Verfassungsrang erhält. Also was bleibt übrig? Vielleicht gibt es noch als letzte Möglichkeit eine Variante, die wir jetzt noch gar nicht kennen, und von der wir irgendwie in der Zukunft ganz überraschend erfahren werden.