"Im Jahre 1989 nach Geburt unseres Herrn Jesus Christus und nach 68 Jahren Sowjetmacht passierte in Moskau etwas, womit keiner mehr gerechnet hatte:
die Bürger konnten das laut sagen, was sie immer nur geflüstert haben, die Schriftsteller - ihre versteckten Manuskripte publizieren, und die Künstler - ihre verborgenen Bilder ausstellen."
So beginnt Maxim Kantors "Lehrbuch der Malerei" - das Buch, das das lesende Russland in den vergangenen Sommermonaten empörte, begeisterte und erschütterte. Der Anspruch Kantors besteht darin, nicht nur die russische Gesellschaft - mit ihrer ganzen postsowjetischen Perversität - zu porträtieren, sondern auch die historischen Mechanismen nachzuzeichnen, die die moderne Welt von der Euphorie der 80er ins heutige Desaster geführt haben:
"Das ist in der Tat keine strahlende Zeit, die wir jetzt erleben. Es ist eine Zeit der bitteren Enttäuschung, und nicht nur für Russland, sondern vor allem - für Europa. Das, was vor 20 Jahren passierte, den Zusammenbruch des Sowjetsystems, erlebten wir alle als einen Sieg der europäischen Ideen, des Humanismus und der Aufklärung. Heute sehen wir, dass es keine europäische Moral gibt - in deren Namen die Sowjetunion mit seinen totalitären Konstruktionen vernichtet wurde."
Das Drama der zerstörten Hoffnungen ist für Kantor ein sehr persönliches.
Nicht zufällig setzt er ins Zentrum des Romans seine eigene Familie - drei Generationen deutsch-argentinischer Juden, die nach dem spanischen Bürgerkrieg in der Sowjetunion landen. Und schließlich sich selbst - unter dem Namen Pavel Richter. Der auch über sich selbst richtet:
"Ich habe gegen die Sowjetmacht gekämpft, habe Tausende von antisowjetischen Bildern gemalt. Nun sehe ich, das sämtliche liberale Ideen meiner Generation, unser Protestpathos gegen soziale Vorteile umgetauscht wurden, dass die Kluft zwischen der dünnen quasi-liberalen Schicht, der Elite, und dem Volk, noch viel tiefer ist, als früher. Ich schäme mich."
Wer die 1500 Seiten gelesen hat, kann sich als ein Diplom als Experte für die russische Gesellschaft ausstellen lassen. Er weiß alles und kennt jeden: den Oligarchen, dem sein Brioni-Anzug noch nicht richtig passt, den respektablen Apparatchik, dem es immer gut geht, den jungen Politiker, der vom "Spätkomsomolzen" zum liberalen Hoffnungsträger im nu konvertierte, den Künstler, der sich mit der Aufgabe des Clowns zufrieden gibt, den Kofferträger mit seinen alkoholisierten Volksweisheiten, und auch den kleinen blonden KGB-Oberst mit immer schütterer werdendem Haar und stacheligen Wolfsaugen - den Präsidenten.
Die Karikaturen sind dermaßen präzise (Kantor ist schließlich ein guter Zeichner), dass den Porträtierten der Atem stockte. Der Ex-Kultusminister Michail Schwydkoj muss sich sogar mit einem Protestbrief gemeldet haben, es kamen zahlreiche Drohungen und Beschimpfungen von allen Seiten, auch von ganz oben.
Alles Nebenwirkungen, meint Kantor:
"Es war schwer zu schießen, ohne jemanden zu treffen."
Zugleich geht es ihm um mehr als nur Politik: um die Krise der christlichen Ethik, den Untergang des europäischen Humanismus - der sich im Zusammenbruch der russischen Gesellschaft nur widerspiegelt. Übrigens, spielt sein Roman fast zur Hälfte in westlichen Ländern.
Kantors großes Vorbild ist dabei der russische Denker Alexander Sinowjew. Er war die Galionsfigur der russischen Dissidentenbewegung. Er begriff sich im Grunde als Prophet, verbrachte mehr als 20 Jahre in Deutschland, kehrte nach Russland zurück und musste erkennen, dass das Ende des Kommunismus auch den Niedergang seiner Heimat bedeutete.
Man sagt, in Russland ist Literatur mehr als Literatur - und ein Dichter mehr, als ein Dichter. Kein anderes Volk schreibt wohl seine Geschichte so intensiv in Roman wie das russische: die epischen Kollektivportraits der Gesellschaft erstrecken sich von Puschkins "Eugen Onegin", einer " Enzyklopädie des russischen Lebens", über Gogols "Die Toten Seelen"; Tolstojs "Krieg und Frieden" und "Doktor Shivago" von Pasternak bis "Archipel Gulag" von Solschenizyn und eben "Homo soveticus" und "Gähnenden Höhen" von Sinowjew.
Das "Lehrbuch der Malerei" von Maxim Kantor reiht sich zwar nicht direkt in diese Folge großer Romane ein. Dafür fehlt dem Buch letztlich die literarische Qualität.
Aber die Reaktionen auf den Roman zeigen, dass Russland auf ihn gewartet hat und sich seines Schicksals bewusst sein will. Innerhalb des Sommers wurden drei Auflagen des Buches ausverkauft.
"Es ist enorm wichtig, dass dieses Buch nun erschienen ist", schreibt einer der russischen Rezensenten. Und es ist wirklich fast egal, ob es nun gut oder schlecht ist.
die Bürger konnten das laut sagen, was sie immer nur geflüstert haben, die Schriftsteller - ihre versteckten Manuskripte publizieren, und die Künstler - ihre verborgenen Bilder ausstellen."
So beginnt Maxim Kantors "Lehrbuch der Malerei" - das Buch, das das lesende Russland in den vergangenen Sommermonaten empörte, begeisterte und erschütterte. Der Anspruch Kantors besteht darin, nicht nur die russische Gesellschaft - mit ihrer ganzen postsowjetischen Perversität - zu porträtieren, sondern auch die historischen Mechanismen nachzuzeichnen, die die moderne Welt von der Euphorie der 80er ins heutige Desaster geführt haben:
"Das ist in der Tat keine strahlende Zeit, die wir jetzt erleben. Es ist eine Zeit der bitteren Enttäuschung, und nicht nur für Russland, sondern vor allem - für Europa. Das, was vor 20 Jahren passierte, den Zusammenbruch des Sowjetsystems, erlebten wir alle als einen Sieg der europäischen Ideen, des Humanismus und der Aufklärung. Heute sehen wir, dass es keine europäische Moral gibt - in deren Namen die Sowjetunion mit seinen totalitären Konstruktionen vernichtet wurde."
Das Drama der zerstörten Hoffnungen ist für Kantor ein sehr persönliches.
Nicht zufällig setzt er ins Zentrum des Romans seine eigene Familie - drei Generationen deutsch-argentinischer Juden, die nach dem spanischen Bürgerkrieg in der Sowjetunion landen. Und schließlich sich selbst - unter dem Namen Pavel Richter. Der auch über sich selbst richtet:
"Ich habe gegen die Sowjetmacht gekämpft, habe Tausende von antisowjetischen Bildern gemalt. Nun sehe ich, das sämtliche liberale Ideen meiner Generation, unser Protestpathos gegen soziale Vorteile umgetauscht wurden, dass die Kluft zwischen der dünnen quasi-liberalen Schicht, der Elite, und dem Volk, noch viel tiefer ist, als früher. Ich schäme mich."
Wer die 1500 Seiten gelesen hat, kann sich als ein Diplom als Experte für die russische Gesellschaft ausstellen lassen. Er weiß alles und kennt jeden: den Oligarchen, dem sein Brioni-Anzug noch nicht richtig passt, den respektablen Apparatchik, dem es immer gut geht, den jungen Politiker, der vom "Spätkomsomolzen" zum liberalen Hoffnungsträger im nu konvertierte, den Künstler, der sich mit der Aufgabe des Clowns zufrieden gibt, den Kofferträger mit seinen alkoholisierten Volksweisheiten, und auch den kleinen blonden KGB-Oberst mit immer schütterer werdendem Haar und stacheligen Wolfsaugen - den Präsidenten.
Die Karikaturen sind dermaßen präzise (Kantor ist schließlich ein guter Zeichner), dass den Porträtierten der Atem stockte. Der Ex-Kultusminister Michail Schwydkoj muss sich sogar mit einem Protestbrief gemeldet haben, es kamen zahlreiche Drohungen und Beschimpfungen von allen Seiten, auch von ganz oben.
Alles Nebenwirkungen, meint Kantor:
"Es war schwer zu schießen, ohne jemanden zu treffen."
Zugleich geht es ihm um mehr als nur Politik: um die Krise der christlichen Ethik, den Untergang des europäischen Humanismus - der sich im Zusammenbruch der russischen Gesellschaft nur widerspiegelt. Übrigens, spielt sein Roman fast zur Hälfte in westlichen Ländern.
Kantors großes Vorbild ist dabei der russische Denker Alexander Sinowjew. Er war die Galionsfigur der russischen Dissidentenbewegung. Er begriff sich im Grunde als Prophet, verbrachte mehr als 20 Jahre in Deutschland, kehrte nach Russland zurück und musste erkennen, dass das Ende des Kommunismus auch den Niedergang seiner Heimat bedeutete.
Man sagt, in Russland ist Literatur mehr als Literatur - und ein Dichter mehr, als ein Dichter. Kein anderes Volk schreibt wohl seine Geschichte so intensiv in Roman wie das russische: die epischen Kollektivportraits der Gesellschaft erstrecken sich von Puschkins "Eugen Onegin", einer " Enzyklopädie des russischen Lebens", über Gogols "Die Toten Seelen"; Tolstojs "Krieg und Frieden" und "Doktor Shivago" von Pasternak bis "Archipel Gulag" von Solschenizyn und eben "Homo soveticus" und "Gähnenden Höhen" von Sinowjew.
Das "Lehrbuch der Malerei" von Maxim Kantor reiht sich zwar nicht direkt in diese Folge großer Romane ein. Dafür fehlt dem Buch letztlich die literarische Qualität.
Aber die Reaktionen auf den Roman zeigen, dass Russland auf ihn gewartet hat und sich seines Schicksals bewusst sein will. Innerhalb des Sommers wurden drei Auflagen des Buches ausverkauft.
"Es ist enorm wichtig, dass dieses Buch nun erschienen ist", schreibt einer der russischen Rezensenten. Und es ist wirklich fast egal, ob es nun gut oder schlecht ist.