"Gestern waren wir mit dem Hubschrauber unterwegs, ein Dienstflug nach Troizk. Plötzlich ist einer der beiden Motoren ausgefallen. Einfach so: Gasexplosion. Wir sind fast abgestürzt. Ich sah schon mein Leben vor den Augen ablaufen – fum-fum-fum. Irgendwie sind wir notgelandet. Das wäre fast schief gegangen, Gott sei Dank hatte unser Pilot schon Erfahrungen mit solchen Notsituationen."
Der Mann wirft einen unsicheren Blick auf das Mikrofon. Er ist Major, Ende 30. Als Armee-Angehöriger ist es ihm verboten, Interviews zu geben. Doch wenn er unter Freunden ist, dann kann es dennoch vorkommen, dass er aus seinem Berufsleben bei der russischen Luftwaffe erzählt. Das Treffen findet in seiner Privatwohnung statt: Ein Wohnheim-Zimmer, 14 Quadratmeter, mit Küchenzeile und Etagenklo. Das teilt er sich mit seiner Frau. Er wohnt in Jekaterinburg, einer Schwerindustrie-Metropole am Ural. Dort kann er sich von seinem Sold nichts besseres leisten: Mit 500 Euro im Monat verdient er in etwa so viel wie ein Supermarkt-Verkäufer. Dabei ist er studierter Ingenieur, verantwortlich für die Wartung und Instandhaltung der Militärflugzeuge und -hubschrauber. Seine Arbeit soll die Sicherheit der Piloten garantieren – und das so gut wie ohne jedes Budget.
"25 oder 30 Jahre, das ist die normale Betriebsdauer für ein Militärflugzeug. Unsere aber sind 40 Jahre, 50 Jahre oder älter. Zwar hat Moskau jetzt den Verteidigungshaushalt erhöht. Aber bei uns, in Jekaterinburg, wird davon nicht viel ankommen. Die Inflation frisst alles auf. Ich glaube, ich werde die Armee bald verlassen. Dann ziehe ich irgendwo in die Steppe und baue mir dort ein Häuschen. Und dort werde ich dann einfach nur in Ruhe leben."
Russland, die einstige Militärsupermacht. Heute schreibt sie in der Auslandspresse immer dann Schlagzeilen, wenn wieder einmal ein Kampfjet verrostet vom Himmel stürzt, oder wenn ein besonders brutaler Fall von Rekrutenschinderei den schlimmen Befürchtungen über den Armeealltag neue Nahrung gibt. Im russischen Staatsfernsehen dagegen erwachsen die Streitkräfte zu alter Größe: Fast wöchentlich zeigen die Nachrichtensendungen Präsident Medwedew auf einem Raketenkreuzer im Nordmeer, beim Test einer strategischen Topol-M-Atomrakete in der Taiga, beim Besuch eines Manövers mit Panzern und Haubitzen im Ural. Vor seinem Wahlvolk gibt sich Dmitri Medwedew als entschlossener Oberkommandierender, der Russlands geostrategische Interessen kompromisslos verteidigt. Den Verteidigungshaushalt hat er zum Jahreswechsel um ein Viertel erhöht. Jetzt aber sollen andere Zeiten anbrechen: Mit Barack Obamas erstem Staatsbesuch in Moskau Anfang Juli sollen die Konflikte der BushÄra um den Raketenabwehrschild in Osteuropa, um den Georgien-Krieg und um die NATO-Osterweiterung bereinigt werden. Ab dann soll wieder das Thema Abrüstung die amerikanisch-russische Agenda bestimmen. KSE, der ohnehin veraltete Vertrag aus der Ära des Kalten Krieges, der die Rüstung im konventionellen Sektor begrenzt, ist von Russland einseitig auf Eis gelegt worden. START I, der zulässige Obergrenzen für Nuklearwaffen festlegt, wird im Dezember dieses Jahres auslaufen. Und die Verhandlungen um ein international verbindliches Regelwerk für die Nichtverbreitung von Atomwaffen sind vor zwei Jahren ergebnislos im Sande verlaufen. US-Präsident Obama hat mit seiner Vision von einer atomwaffenfreien Welt die amerikanischen Ziele beschrieben. Aber welche Interessen hat Russland? Die Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung hat Präsident Medwedew gerade erst schriftlich zu Protokoll gegeben. Die strategischen Trägerraketen seien "klar zu reduzieren" erklärte er und die Zahl der Sprengköpfe müsse und könne unter die Zahl von 1700 gesenkt werden. Im Gegenzug müsse Washington Zugeständnisse beim geplanten Raketenabwehrsystem in Osteuropa machen. Aber ganz so einfach wird die Sache für Medwedew nicht, russische Militärs sollen bereits skeptisch reagiert haben. Wie steht es also um die Militärmacht, nicht zuletzt um die konventionelle Kraft Russlands? Spurensuche in Schukóvskij, - eine Kleinstadt bei Moskau – die "Stadt der Aviatoren". Der Ort, an dem der Mythos der Militärsupermacht Russland geboren wurde.
Im Jahr 1951 entbrennt der Kalte Krieg. In der Luftfahrt gibt es neue Programme, immer neue Modelle von Kampfjets werden entwickelt. Der Abschuss eines Spionageflugzeugs auf sowjetischem Territorium lehrt die Amerikaner eine Lektion: Um von Raketen nicht getroffen zu werden, muss man schneller und höher fliegen.
Die waffentechnische Überlegenheit bestimmte die Logik des Kalten Krieges. Eine Ikone dieser Zeit ist Pjotr Ostápenko, Testpilot und mehrfacher Weltrekord-Halter. Er hat die legendären Kampfjets aus der Flugzeugschmiede Mikoján Gurjéwitsch zu Höchstleistungen geflogen. Heute verbringt der 80-Jährige seine Zeit vor dem Fernseher, in seiner Privilegiertenwohnung in Schukóvskij, und schaut sich Dokumentarfilme über die sowjetische Militärluftfahrt an.
"Die Besonderheit der MiG-25 war die Reichweite und Schlagkraft der Raketen. Ich selbst habe Ziele in 60 bis 80 Kilometern Entfernung getroffen, andere nach mir haben 250 Kilometer weit entfernte Ziele getroffen. Die Rakete weiß ja, wohin sie zu fliegen hat, du selbst drückst nur den Knopf – und das Ziel ist zerstört. Die MiG 25 ist ein ungewöhnlicher Flieger. Sie gibt dir ein Gefühl von Kraft."
In den 90er-Jahren, als die NATO-Staaten ihre konventionellen Arsenale mit großen Verteidigungsbudgets zu ferngesteuerten Präzisions-Geschwadern weiterentwickelten, da fehlte es in Russland an allem: an Forschung und Entwicklung, an Produktion und Instandhaltung - zumindest im konventionellen Bereich. Und die russische Bevölkerung begann, ihre einst so hoch geschätzte Armee nur noch als unproduktiven Steuerfresser zu sehen. Die staatlichen Verteidigungsausgaben sanken gegen Null, Kampfbomber und Raketenträger verrotteten, Rüstungswerke retteten sich, sofern sie es noch konnten, in die zivile Produktion oder in den Export. Dass diese riesige Investitionslücke kaum aufzuholen ist, das zeigte sich vergangenen August im Krieg mit Georgien. Zwar lag der Sieg auf russischer Seite – doch der war schwer genug errungen. Da gebe es nicht viel zu beschönigen, sagt selbst Vadím Kosjúlin vom Moskauer PIR-Zentrum, einem unabhängigen politisch-analytischen Institut, das jedoch als tendenziell Kreml-freundlich gilt.
"Der Konflikt mit Georgien hat gezeigt, wo die russische Armee angreifbar ist. Es fehlt zum Beispiel an Nachtsicht- und Navigationssystemen. Internationale Beobachter haben sich gefragt, warum Russland das kleine Georgien mit strategischen Bombern beschossen hat – Raketenträger, die eigentlich für nukleare Sprengköpfe vorgesehen sind. Unbemannte Marschflugkörper wären geeigneter gewesen. Die Antwort lautet: weil Russland keine besitzt! Viele Panzer sind schon auf dem Weg nach Südossetien liegen geblieben. Unsere konventionellen Raketen sind völlig veraltet, die Hubschraubertechnik ist prähistorisch. Dennoch gilt bislang der Grundsatz, die russische Volkswirtschaft durch Rüstungsausgaben nicht über Gebühr zu belasten. Endlich fühlt sich das Land halbwegs ruhig und stabil. Da liegt ein neues Wettrüsten wirklich nicht in Russlands Interesse."
Kein Interesse an einem neuen Wettrüsten? Der russische Verteidigungsetat sagt etwas anderes, so scheint es. Der hat sich in den vergangenen zehn Jahren nahezu verzehnfacht. Allein im laufenden Jahr sollen die Verteidigungsausgaben um ein Viertel steigen. Und bis zum Jahr 2011 hat Präsident Medwedew eine Modernisierung des Atomwaffen-Arsenals und eine Aufrüstung von Armee und Marine "in großem Umfang" angekündigt. Von der Wiederauferstehung einer Militärsupermacht kann dennoch keine Rede sein: Selbst in den Jahren des Wirtschaftsbooms, unter außergewöhnlich guten Finanzierungsbedingungen, hat sich die Armee mit den Sold- und Pensionsansprüchen ihrer Soldaten und ihrem hoffnungslos überalterten Kriegsgerät als Fass ohne Boden erwiesen. Jetzt setzt die Wirtschaftskrise der dringend notwendigen Modernisierung der Ausrüstung, der Finanzierung von Sozial- und Weiterbildungsprogrammen zusätzliche Grenzen. Und das sei nicht das einzige Problem, erklärt Antón Chlopkóv, der das Moskauer PIR-Zentrum für Rüstungskontrolle leitet.
"27 Prozent allein in diesem Jahr - das ist natürlich eine happige Steigerung des Verteidigungsetats. In der Wirtschaftskrise wird uns das noch Sorgen bereiten. Andererseits braucht die Armee tatsächlich Investitionen - aber nicht solche, die spontan getätigt werden, nur weil die USA mit der Errichtung eines Raketenabwehrschilds drohen. Die russischen Streitkräfte brauchen eine grundsätzliche Umstrukturierung. In ihrem jetzigen Zustand sind sie einfach nicht zu halten. Und das nicht nur aus finanziellen Gründen: Jetzt kommen die geburtenschwachen Jahrgänge in den Wehrdienst, allein deshalb muss die Armee verkleinert werden. Doch solange es kein langfristiges Reformkonzept gibt, das auf zehn oder 15 Jahre angelegt ist, und das Demographie, Finanzierungsbedingungen und die notwendige Modernisierung von Waffensystemen und Ausrüstung berücksichtigt, werden die Entscheidungen, die den Verteidigungsetat betreffen, weiterhin spontan getroffen werden."
Was die militärstrategischen Prioritäten betrifft, so unterscheiden sich die der USA und Russlands schon im Grundsatz. Die USA ergänzen ihre Strategie der nuklearen Abschreckung sehr bewusst, um sie eines Tages womöglich überflüssig zu machen: Sie investieren in eine Hightech-Armee, die reale Kriege führen und gewinnen soll. Russland dagegen setzt ebenso deutlich auf die furchteinflößende Wirkung seiner Atomwaffen. Die militärstrategische Planung der russischen Regierung sieht die Schaffung eines hochmodernen Nukleararsenals vor - klein, aber von monströser Schlagkraft - berichtet Margarete Klein von der Forschungsgruppe Russland in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
"Wenn man sich anschaut, welche großen Modernisierungsprojekte es gibt, dann liegen die primär im nuklearstrategischen Bereich. Eine neue U-Boot-Klasse, die Borei-Klasse, für die werden die neuen Raketen gebaut, die Bulawa-Rakete, die bei fünf von zehn STARTs durchgefallen ist. Es wird eine weitere See-basierte Rakete gebaut, und es gibt die Topol-M, eines der modernsten Waffensysteme überhaupt. Und die Iskander-Rakete, eine Kurzstreckenrakete, die nuklear und konventionell bestückt werden kann. Das sind wirklich sehr kostspielige Sachen."
Wie also stehen die Chancen auf eine Einigung, wenn Barack Obama und Präsident Medwedew das Thema atomare Abrüstung angehen? Nicht so schlecht, wie es zunächst scheint, das belegen die jüngsten Erklärungen von Putin und Medwedew. Die klare Reduktion des strategischen Offensivpotentials ist nicht zuletzt eine günstige Gelegenheit, sich der alten Nuklearsprengköpfe aus Sowjetzeiten zu entledigen, die ihre Betriebsdauer längst überschritten haben, und jetzt vor allem Wartungs- und Bewachungskosten verursachen. Damit würde Kapital frei für den Aufbau eines kleinen, aber hochgradig schlagkräftigen Arsenals: Das staatliche Rüstungsprogramm plant 2015 die Neuanschaffung von fünf mit Raketen bestückten Atom-U-Booten, sechs bis sieben strategische TU-160-Bomber und zumindest 100 ballistischen Interkontinentalraketen. Damit stünde der Großteil des bestehenden Atomwaffenarsenals als Verhandlungsmasse zur Verfügung. Damit dürfte es nicht mehr um den generellen Kurs gehen, sondern nur noch um noch Details wie Überwachungsfragen und Zählregeln für Trägersysteme und Sprengköpfe, glaubt Antón Chlopkóv, der das Moskauer PIR-Zentrum für Rüstungskontrolle leitet.
"Russland hat ein Interesse daran, die Abrüstungsverträge fortzuführen. Aber es gibt einzelne Streitpunkte – und da liegt das Problem nicht auf der russischen Seite, Russland hat seine Position klar dargelegt. Wie etwa den Konflikt um die Frage, ob man die Atom-Raketen tatsächlich verschrotten soll oder nur entschärfen. Die USA wollen sie am liebsten einlagern, damit sie sie wieder verwenden können, am Tag X. Russland will seine Atomraketen tatsächlich vernichten."
Wie viele Sprengköpfe und wie viele Trägersysteme sind zulässig? Und wie werden diejenigen Trägersysteme gezählt, die sowohl atomar als auch konventionell bestückt werden können? Auch auf dieses Fragen muss bis Dezember dieses Jahres eine Antwort gefunden sein, denn dann läuft der bis dahin gültige Atomwaffenkontrollvertrag START aus. Schwieriger dürften die Verhandlungen werden, die die Abrüstung im konventionellen Bereich betreffen. KSE, der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa, stammt noch aus Kalte-Kriegs-Zeiten und berücksichtigt die Ost-erweiterte NATO nicht. Ein untragbares Kräfteungleichgewicht, schlussfolgerte die Regierung Putin im Jahr 2007. Nach langen, konfliktreichen Verhandlungen legte sie den Vertrag einseitig auf Eis. Diplomatisch gesehen war das ein notwendiger Schritt, meint Rüstungsexperte Vladimir Kozjulin vom Moskauer Pir-Zentrum. Eine Absage an die konventionelle Rüstungskontrolle war es nicht.
"Der KSE-Vertrag ist veraltet, darüber ist man sich in Ost und West einig. Aber ein schlechter Vertrag ist besser als gar keiner. Und darum hat Russland seine Teilnahme an dem Vertrag auf Eis gelegt, aber nicht gekündigt. Als der Vertrag zu Sowjet-Zeiten geschlossen wurde, gehörten Mittel- und Osteuropa noch auf unsere Seite des Schachbretts, jetzt sind sie auf der Seite der NATO. Dabei gab es nach dem Zerfall der Sowjetunion Verabredungen, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern wird. Damals haben wir die Westmächte beim Wort genommen - und was ist passiert? Heute steht die NATO faktisch vor unserer Haustür. Das empfindet nicht nur unsere Regierung als Bedrohung, sondern wir alle - das haben wir Russen seit dem Kalten Krieg sozusagen im Blut. Schließlich ist die NATO ein Militärbündnis, und nicht das Rote Kreuz."
Seit dem Aussetzen des KSE-Vertrags ist das Vertrauen zwischen Russland und der NATO dahin: Seitdem gibt es keine gegenseitigen Militärinspektionen mehr, und keinen Informationsaustausch über Truppenbewegungen und Militärübungen. Auch das war ein Grund, warum sich der Georgien-Krieg im August vergangenen Jahres so schnell zu einer ernsten transatlantischen Konfrontation auswachsen konnte. Jetzt stehen die Verhandlungen am Null-Punkt, das Ergebnis ist völlig offen. Zu gravierend sind die bestehenden Ungleichgewichte: Einer NATO, die ihre Armeen mit teurem Hightech-Waffengerät für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktregionen ausstattet, hat Russland nichts entgegenzusetzen. Dennoch: Wenn Moskau die Rüstungsindustrie jetzt zu einem seiner wichtigsten Wirtschaftszweige erklärt hat, und hier massiv in Forschung und Entwicklung investieren will, dann hat auch das nicht nur politische Gründe, denn dann geht es auch um den Export von Rüstungsgütern.
"Schön, nicht? Die 35-er ist zwei oder drei Mal größer als die 21-er – und sehr viel schneller. Sie ist nicht mehr nur ein Abfangjäger, sie ist ein Kampfjet, kann selbst bombardieren. Sie ist multifunktional."
Die MiG-35 ist die weiterentwickelte Version der MiG-29 - ein russisch-indisches Gemeinschaftsprojekt. Ein Kampfjet, der - sollte es je Marktreife erreichen - wohl eher auf dem Weltmarkt landen wird, als bei der unterfinanzierten russischen Armee. Auf dem Weltmarkt nämlich genießt Waffentechnik russischer Herkunft noch immer einen guten Ruf – zumindest bei den Staaten, die einem westlichen Embargo unterliegen, oder die zu arm sind für eigene moderne Waffensysteme. Diese Staaten haben Russland zu einem der drei größten Waffenexporteure der Welt gemacht. 8,4 Milliarden Euro erwirtschaftete die russische Rüstungsindustrie im Jahr 2008, eine Rekordsumme, die die Regierung bis 2012 jedes Jahr um weitere 10 Prozent steigern will Und als Kompetenzpool, der begabte, junge Ingenieure und Maschinenbauer im Land halten soll, und das technische Knowhow langfristig sichern soll.
Der Mann wirft einen unsicheren Blick auf das Mikrofon. Er ist Major, Ende 30. Als Armee-Angehöriger ist es ihm verboten, Interviews zu geben. Doch wenn er unter Freunden ist, dann kann es dennoch vorkommen, dass er aus seinem Berufsleben bei der russischen Luftwaffe erzählt. Das Treffen findet in seiner Privatwohnung statt: Ein Wohnheim-Zimmer, 14 Quadratmeter, mit Küchenzeile und Etagenklo. Das teilt er sich mit seiner Frau. Er wohnt in Jekaterinburg, einer Schwerindustrie-Metropole am Ural. Dort kann er sich von seinem Sold nichts besseres leisten: Mit 500 Euro im Monat verdient er in etwa so viel wie ein Supermarkt-Verkäufer. Dabei ist er studierter Ingenieur, verantwortlich für die Wartung und Instandhaltung der Militärflugzeuge und -hubschrauber. Seine Arbeit soll die Sicherheit der Piloten garantieren – und das so gut wie ohne jedes Budget.
"25 oder 30 Jahre, das ist die normale Betriebsdauer für ein Militärflugzeug. Unsere aber sind 40 Jahre, 50 Jahre oder älter. Zwar hat Moskau jetzt den Verteidigungshaushalt erhöht. Aber bei uns, in Jekaterinburg, wird davon nicht viel ankommen. Die Inflation frisst alles auf. Ich glaube, ich werde die Armee bald verlassen. Dann ziehe ich irgendwo in die Steppe und baue mir dort ein Häuschen. Und dort werde ich dann einfach nur in Ruhe leben."
Russland, die einstige Militärsupermacht. Heute schreibt sie in der Auslandspresse immer dann Schlagzeilen, wenn wieder einmal ein Kampfjet verrostet vom Himmel stürzt, oder wenn ein besonders brutaler Fall von Rekrutenschinderei den schlimmen Befürchtungen über den Armeealltag neue Nahrung gibt. Im russischen Staatsfernsehen dagegen erwachsen die Streitkräfte zu alter Größe: Fast wöchentlich zeigen die Nachrichtensendungen Präsident Medwedew auf einem Raketenkreuzer im Nordmeer, beim Test einer strategischen Topol-M-Atomrakete in der Taiga, beim Besuch eines Manövers mit Panzern und Haubitzen im Ural. Vor seinem Wahlvolk gibt sich Dmitri Medwedew als entschlossener Oberkommandierender, der Russlands geostrategische Interessen kompromisslos verteidigt. Den Verteidigungshaushalt hat er zum Jahreswechsel um ein Viertel erhöht. Jetzt aber sollen andere Zeiten anbrechen: Mit Barack Obamas erstem Staatsbesuch in Moskau Anfang Juli sollen die Konflikte der BushÄra um den Raketenabwehrschild in Osteuropa, um den Georgien-Krieg und um die NATO-Osterweiterung bereinigt werden. Ab dann soll wieder das Thema Abrüstung die amerikanisch-russische Agenda bestimmen. KSE, der ohnehin veraltete Vertrag aus der Ära des Kalten Krieges, der die Rüstung im konventionellen Sektor begrenzt, ist von Russland einseitig auf Eis gelegt worden. START I, der zulässige Obergrenzen für Nuklearwaffen festlegt, wird im Dezember dieses Jahres auslaufen. Und die Verhandlungen um ein international verbindliches Regelwerk für die Nichtverbreitung von Atomwaffen sind vor zwei Jahren ergebnislos im Sande verlaufen. US-Präsident Obama hat mit seiner Vision von einer atomwaffenfreien Welt die amerikanischen Ziele beschrieben. Aber welche Interessen hat Russland? Die Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung hat Präsident Medwedew gerade erst schriftlich zu Protokoll gegeben. Die strategischen Trägerraketen seien "klar zu reduzieren" erklärte er und die Zahl der Sprengköpfe müsse und könne unter die Zahl von 1700 gesenkt werden. Im Gegenzug müsse Washington Zugeständnisse beim geplanten Raketenabwehrsystem in Osteuropa machen. Aber ganz so einfach wird die Sache für Medwedew nicht, russische Militärs sollen bereits skeptisch reagiert haben. Wie steht es also um die Militärmacht, nicht zuletzt um die konventionelle Kraft Russlands? Spurensuche in Schukóvskij, - eine Kleinstadt bei Moskau – die "Stadt der Aviatoren". Der Ort, an dem der Mythos der Militärsupermacht Russland geboren wurde.
Im Jahr 1951 entbrennt der Kalte Krieg. In der Luftfahrt gibt es neue Programme, immer neue Modelle von Kampfjets werden entwickelt. Der Abschuss eines Spionageflugzeugs auf sowjetischem Territorium lehrt die Amerikaner eine Lektion: Um von Raketen nicht getroffen zu werden, muss man schneller und höher fliegen.
Die waffentechnische Überlegenheit bestimmte die Logik des Kalten Krieges. Eine Ikone dieser Zeit ist Pjotr Ostápenko, Testpilot und mehrfacher Weltrekord-Halter. Er hat die legendären Kampfjets aus der Flugzeugschmiede Mikoján Gurjéwitsch zu Höchstleistungen geflogen. Heute verbringt der 80-Jährige seine Zeit vor dem Fernseher, in seiner Privilegiertenwohnung in Schukóvskij, und schaut sich Dokumentarfilme über die sowjetische Militärluftfahrt an.
"Die Besonderheit der MiG-25 war die Reichweite und Schlagkraft der Raketen. Ich selbst habe Ziele in 60 bis 80 Kilometern Entfernung getroffen, andere nach mir haben 250 Kilometer weit entfernte Ziele getroffen. Die Rakete weiß ja, wohin sie zu fliegen hat, du selbst drückst nur den Knopf – und das Ziel ist zerstört. Die MiG 25 ist ein ungewöhnlicher Flieger. Sie gibt dir ein Gefühl von Kraft."
In den 90er-Jahren, als die NATO-Staaten ihre konventionellen Arsenale mit großen Verteidigungsbudgets zu ferngesteuerten Präzisions-Geschwadern weiterentwickelten, da fehlte es in Russland an allem: an Forschung und Entwicklung, an Produktion und Instandhaltung - zumindest im konventionellen Bereich. Und die russische Bevölkerung begann, ihre einst so hoch geschätzte Armee nur noch als unproduktiven Steuerfresser zu sehen. Die staatlichen Verteidigungsausgaben sanken gegen Null, Kampfbomber und Raketenträger verrotteten, Rüstungswerke retteten sich, sofern sie es noch konnten, in die zivile Produktion oder in den Export. Dass diese riesige Investitionslücke kaum aufzuholen ist, das zeigte sich vergangenen August im Krieg mit Georgien. Zwar lag der Sieg auf russischer Seite – doch der war schwer genug errungen. Da gebe es nicht viel zu beschönigen, sagt selbst Vadím Kosjúlin vom Moskauer PIR-Zentrum, einem unabhängigen politisch-analytischen Institut, das jedoch als tendenziell Kreml-freundlich gilt.
"Der Konflikt mit Georgien hat gezeigt, wo die russische Armee angreifbar ist. Es fehlt zum Beispiel an Nachtsicht- und Navigationssystemen. Internationale Beobachter haben sich gefragt, warum Russland das kleine Georgien mit strategischen Bombern beschossen hat – Raketenträger, die eigentlich für nukleare Sprengköpfe vorgesehen sind. Unbemannte Marschflugkörper wären geeigneter gewesen. Die Antwort lautet: weil Russland keine besitzt! Viele Panzer sind schon auf dem Weg nach Südossetien liegen geblieben. Unsere konventionellen Raketen sind völlig veraltet, die Hubschraubertechnik ist prähistorisch. Dennoch gilt bislang der Grundsatz, die russische Volkswirtschaft durch Rüstungsausgaben nicht über Gebühr zu belasten. Endlich fühlt sich das Land halbwegs ruhig und stabil. Da liegt ein neues Wettrüsten wirklich nicht in Russlands Interesse."
Kein Interesse an einem neuen Wettrüsten? Der russische Verteidigungsetat sagt etwas anderes, so scheint es. Der hat sich in den vergangenen zehn Jahren nahezu verzehnfacht. Allein im laufenden Jahr sollen die Verteidigungsausgaben um ein Viertel steigen. Und bis zum Jahr 2011 hat Präsident Medwedew eine Modernisierung des Atomwaffen-Arsenals und eine Aufrüstung von Armee und Marine "in großem Umfang" angekündigt. Von der Wiederauferstehung einer Militärsupermacht kann dennoch keine Rede sein: Selbst in den Jahren des Wirtschaftsbooms, unter außergewöhnlich guten Finanzierungsbedingungen, hat sich die Armee mit den Sold- und Pensionsansprüchen ihrer Soldaten und ihrem hoffnungslos überalterten Kriegsgerät als Fass ohne Boden erwiesen. Jetzt setzt die Wirtschaftskrise der dringend notwendigen Modernisierung der Ausrüstung, der Finanzierung von Sozial- und Weiterbildungsprogrammen zusätzliche Grenzen. Und das sei nicht das einzige Problem, erklärt Antón Chlopkóv, der das Moskauer PIR-Zentrum für Rüstungskontrolle leitet.
"27 Prozent allein in diesem Jahr - das ist natürlich eine happige Steigerung des Verteidigungsetats. In der Wirtschaftskrise wird uns das noch Sorgen bereiten. Andererseits braucht die Armee tatsächlich Investitionen - aber nicht solche, die spontan getätigt werden, nur weil die USA mit der Errichtung eines Raketenabwehrschilds drohen. Die russischen Streitkräfte brauchen eine grundsätzliche Umstrukturierung. In ihrem jetzigen Zustand sind sie einfach nicht zu halten. Und das nicht nur aus finanziellen Gründen: Jetzt kommen die geburtenschwachen Jahrgänge in den Wehrdienst, allein deshalb muss die Armee verkleinert werden. Doch solange es kein langfristiges Reformkonzept gibt, das auf zehn oder 15 Jahre angelegt ist, und das Demographie, Finanzierungsbedingungen und die notwendige Modernisierung von Waffensystemen und Ausrüstung berücksichtigt, werden die Entscheidungen, die den Verteidigungsetat betreffen, weiterhin spontan getroffen werden."
Was die militärstrategischen Prioritäten betrifft, so unterscheiden sich die der USA und Russlands schon im Grundsatz. Die USA ergänzen ihre Strategie der nuklearen Abschreckung sehr bewusst, um sie eines Tages womöglich überflüssig zu machen: Sie investieren in eine Hightech-Armee, die reale Kriege führen und gewinnen soll. Russland dagegen setzt ebenso deutlich auf die furchteinflößende Wirkung seiner Atomwaffen. Die militärstrategische Planung der russischen Regierung sieht die Schaffung eines hochmodernen Nukleararsenals vor - klein, aber von monströser Schlagkraft - berichtet Margarete Klein von der Forschungsgruppe Russland in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
"Wenn man sich anschaut, welche großen Modernisierungsprojekte es gibt, dann liegen die primär im nuklearstrategischen Bereich. Eine neue U-Boot-Klasse, die Borei-Klasse, für die werden die neuen Raketen gebaut, die Bulawa-Rakete, die bei fünf von zehn STARTs durchgefallen ist. Es wird eine weitere See-basierte Rakete gebaut, und es gibt die Topol-M, eines der modernsten Waffensysteme überhaupt. Und die Iskander-Rakete, eine Kurzstreckenrakete, die nuklear und konventionell bestückt werden kann. Das sind wirklich sehr kostspielige Sachen."
Wie also stehen die Chancen auf eine Einigung, wenn Barack Obama und Präsident Medwedew das Thema atomare Abrüstung angehen? Nicht so schlecht, wie es zunächst scheint, das belegen die jüngsten Erklärungen von Putin und Medwedew. Die klare Reduktion des strategischen Offensivpotentials ist nicht zuletzt eine günstige Gelegenheit, sich der alten Nuklearsprengköpfe aus Sowjetzeiten zu entledigen, die ihre Betriebsdauer längst überschritten haben, und jetzt vor allem Wartungs- und Bewachungskosten verursachen. Damit würde Kapital frei für den Aufbau eines kleinen, aber hochgradig schlagkräftigen Arsenals: Das staatliche Rüstungsprogramm plant 2015 die Neuanschaffung von fünf mit Raketen bestückten Atom-U-Booten, sechs bis sieben strategische TU-160-Bomber und zumindest 100 ballistischen Interkontinentalraketen. Damit stünde der Großteil des bestehenden Atomwaffenarsenals als Verhandlungsmasse zur Verfügung. Damit dürfte es nicht mehr um den generellen Kurs gehen, sondern nur noch um noch Details wie Überwachungsfragen und Zählregeln für Trägersysteme und Sprengköpfe, glaubt Antón Chlopkóv, der das Moskauer PIR-Zentrum für Rüstungskontrolle leitet.
"Russland hat ein Interesse daran, die Abrüstungsverträge fortzuführen. Aber es gibt einzelne Streitpunkte – und da liegt das Problem nicht auf der russischen Seite, Russland hat seine Position klar dargelegt. Wie etwa den Konflikt um die Frage, ob man die Atom-Raketen tatsächlich verschrotten soll oder nur entschärfen. Die USA wollen sie am liebsten einlagern, damit sie sie wieder verwenden können, am Tag X. Russland will seine Atomraketen tatsächlich vernichten."
Wie viele Sprengköpfe und wie viele Trägersysteme sind zulässig? Und wie werden diejenigen Trägersysteme gezählt, die sowohl atomar als auch konventionell bestückt werden können? Auch auf dieses Fragen muss bis Dezember dieses Jahres eine Antwort gefunden sein, denn dann läuft der bis dahin gültige Atomwaffenkontrollvertrag START aus. Schwieriger dürften die Verhandlungen werden, die die Abrüstung im konventionellen Bereich betreffen. KSE, der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa, stammt noch aus Kalte-Kriegs-Zeiten und berücksichtigt die Ost-erweiterte NATO nicht. Ein untragbares Kräfteungleichgewicht, schlussfolgerte die Regierung Putin im Jahr 2007. Nach langen, konfliktreichen Verhandlungen legte sie den Vertrag einseitig auf Eis. Diplomatisch gesehen war das ein notwendiger Schritt, meint Rüstungsexperte Vladimir Kozjulin vom Moskauer Pir-Zentrum. Eine Absage an die konventionelle Rüstungskontrolle war es nicht.
"Der KSE-Vertrag ist veraltet, darüber ist man sich in Ost und West einig. Aber ein schlechter Vertrag ist besser als gar keiner. Und darum hat Russland seine Teilnahme an dem Vertrag auf Eis gelegt, aber nicht gekündigt. Als der Vertrag zu Sowjet-Zeiten geschlossen wurde, gehörten Mittel- und Osteuropa noch auf unsere Seite des Schachbretts, jetzt sind sie auf der Seite der NATO. Dabei gab es nach dem Zerfall der Sowjetunion Verabredungen, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern wird. Damals haben wir die Westmächte beim Wort genommen - und was ist passiert? Heute steht die NATO faktisch vor unserer Haustür. Das empfindet nicht nur unsere Regierung als Bedrohung, sondern wir alle - das haben wir Russen seit dem Kalten Krieg sozusagen im Blut. Schließlich ist die NATO ein Militärbündnis, und nicht das Rote Kreuz."
Seit dem Aussetzen des KSE-Vertrags ist das Vertrauen zwischen Russland und der NATO dahin: Seitdem gibt es keine gegenseitigen Militärinspektionen mehr, und keinen Informationsaustausch über Truppenbewegungen und Militärübungen. Auch das war ein Grund, warum sich der Georgien-Krieg im August vergangenen Jahres so schnell zu einer ernsten transatlantischen Konfrontation auswachsen konnte. Jetzt stehen die Verhandlungen am Null-Punkt, das Ergebnis ist völlig offen. Zu gravierend sind die bestehenden Ungleichgewichte: Einer NATO, die ihre Armeen mit teurem Hightech-Waffengerät für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktregionen ausstattet, hat Russland nichts entgegenzusetzen. Dennoch: Wenn Moskau die Rüstungsindustrie jetzt zu einem seiner wichtigsten Wirtschaftszweige erklärt hat, und hier massiv in Forschung und Entwicklung investieren will, dann hat auch das nicht nur politische Gründe, denn dann geht es auch um den Export von Rüstungsgütern.
"Schön, nicht? Die 35-er ist zwei oder drei Mal größer als die 21-er – und sehr viel schneller. Sie ist nicht mehr nur ein Abfangjäger, sie ist ein Kampfjet, kann selbst bombardieren. Sie ist multifunktional."
Die MiG-35 ist die weiterentwickelte Version der MiG-29 - ein russisch-indisches Gemeinschaftsprojekt. Ein Kampfjet, der - sollte es je Marktreife erreichen - wohl eher auf dem Weltmarkt landen wird, als bei der unterfinanzierten russischen Armee. Auf dem Weltmarkt nämlich genießt Waffentechnik russischer Herkunft noch immer einen guten Ruf – zumindest bei den Staaten, die einem westlichen Embargo unterliegen, oder die zu arm sind für eigene moderne Waffensysteme. Diese Staaten haben Russland zu einem der drei größten Waffenexporteure der Welt gemacht. 8,4 Milliarden Euro erwirtschaftete die russische Rüstungsindustrie im Jahr 2008, eine Rekordsumme, die die Regierung bis 2012 jedes Jahr um weitere 10 Prozent steigern will Und als Kompetenzpool, der begabte, junge Ingenieure und Maschinenbauer im Land halten soll, und das technische Knowhow langfristig sichern soll.