"Die aktuelle Kamera", so melden sich die Nachrichten seit Ende September mehrmals am Tag auf etv+. Es ist das dritte Programm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Estland und sendet nur auf Russisch. Im Internet ist das Programm weltweit zu sehen: in Jerusalem, Jekaterinburg, Moskau, Miami oder Malmö, wie Ainar Ruussaar sagt. Er ist stellvertretender Intendant beim estnischen Rundfunk.
"Die großen russischen Kanäle zeigen nichts über das Leben in Estland, und wenn doch, dann mit einer bestimmten Tendenz", erklärt Ruussaar. In Estland will man dagegensteuern. Etwa 30 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner Estlands sind ethnische Russen. Die Deutungshoheit will man nicht nur anderen überlassen.
Objektivität und Unabhängigkeit: "Wichtiger als Panzer"
Schon länger hatte man über ein russischsprachiges Programm nachgedacht. Doch zwei Faktoren gaben den Ausschlag, wie Ainar Ruussaar bemerkt: die Ukraine-Krise und Russlands Professionalität darin, über Fernsehen und soziale Medien Meinungen zu verbreiten.
"Man macht sich darüber schon in Deutschland, in Skandinavien und in den USA Gedanken. Es ist verstanden worden, dass unabhängiger Journalismus heutzutage wichtiger sein kann als ein Panzer."
Größtmögliche Objektivität und Unabhängigkeit, diese Punkte sind dem TV-Manager wichtig, auch in Bezug auf die Berichterstattung über Konflikte, an denen Russland beteiligt ist: Ukraine und Syrien.
"Wir bieten eine unabhängige Berichterstattung an, die wir auch sonst hier in Estland haben, wie sie bei der BBC, in Schweden, in Berlin gemacht wird. Unabhängige russischsprachige Berichterstattung gibt es auf der Welt nicht eben oft. Darin sehen wir einen besonderen Wert."
Im Mittelpunkt: Russen in Estland
Innerhalb von neun Monaten haben sie den Sender aufgebaut. Etwa 70 Leute arbeiten dort. Die Journalisten können alle Estnisch, ihre Muttersprache ist aber russisch. Das Geld kam zum Großteil vom Staatshaushalt in Estland und ein kleiner Teil vom Ministerrat der skandinavischen Länder.
In Narva an der russischen Grenze soll noch ein Regionalstudio errichtet werden. Dort leben 97 Prozent russischsprachige Menschen. Die technische Ausstattung dort soll von der NATO finanziert werden. Aber inhaltlich nehme sie keinen Einfluss, wird betont.
Neben Nachrichten gibt es auch Reisemagazine und Gesprächssendungen. Im Mittelpunkt sollen Russen in Estland und Estland selbst stehen. Der neue Kanal soll helfen, die beiden oft getrennten Gesellschaften - die estnische und die russische - mehr miteinander zu verbinden.
Der Zustand jetzt sei ein anderer, räumt Chefredakteurin Darja Saar ein: "Wir wissen nicht, wer die russischsprachigen Menschen sind. Wir wissen nicht, woran sie denken, wir kennen nicht ihre Freude und Sorgen."
Erst ein Anfang
Welche unterschiedlichen Auffassungen in der Gesellschaft herrschen, zeigt nur ein Beispiel: Für die Russen ist der 9. Mai 1945 ein Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, für die Esten ist es der Tag der russischen Besatzung.
In einer ersten Umfrage fanden ein Drittel der Befragten etv+ überraschend gut. Aber 17 Prozent meinten, dass sich Russen das nicht anschauen würden. Der Fernsehchef sagt, man brauche einen langen Atem. 350.000 Menschen hätten sie jetzt am Anfang pro Woche schon erreicht.
"Sagen wir so: Das ist für den Anfang nicht schlecht. Aber das ist erst der Anfang."
Und morgen geht es wieder weiter.