Larisa und Anton Agejew sitzen vor ihrem Computer in ihrem Haus in der Nähe von Moskau und betrachten Fotos. Draußen blühen Rosen. Zwei Hunde dösen. Die Katze schläft auf der Fensterbank. Die Fotos auf dem Bildschirm zeigen zwei Kinder: Ein Mädchen mit Schleifen im Haar, einen Jungen mit kurz geschorenem Kopf. Polina und Gleb.
"Hier hatten wir Polina gerade eine Puppe geschenkt. Sie hat sie uns später wieder mitgegeben und gesagt: Die Puppe soll zu Hause auf mich warten."
Gleb und Polina leben im Heim. Die Agejews hatten die beiden 2008 adoptiert. Doch die Familie wohnte nur ein Jahr gemeinsam in dem Idyll im Moskauer Umland. Dann hoben russische Richter die Adoption wieder auf. Larisa Agejewa soll den damals vierjährigen Gleb schwer misshandelt haben. Die Boulevardpresse nannte sie Gestapo-Mutter, trunksüchtig und gewalttätig. Sie und ihr Mann sagen, der Junge habe sich beim Spielen damals selbst verletzt. Die beiden klagten gegen die Aufhebung der Adoption. In Russland scheiterten sie in allen Instanzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber gab ihnen Recht. Das war 2013. Eltern und Kinder hofften nun, bald wieder zusammen leben zu können, nach vier Jahren unrechtmäßiger Trennung. Sie dachten, die russischen Richter würden das Verfahren wieder aufnehmen. Weit gefehlt. Anton Agejew erinnert sich an den Termin im Moskauer Gericht.
"Wir kommen ins Gericht, und uns wird gesagt: Na und? Was für ein Rechtsverstoß? In Ihrem Fall wurde doch schon mal entschieden."
Immerhin zahlte der russische Staat den Agejews eine Entschädigung: Knapp 70.000 Euro. Die öffentlich geführten Prozesse hatten ihren Ruf ruiniert, beide Elternteile hatten gute Arbeitsstellen in Privatbanken verloren. Larisa Agejewa sieht ein Schuldeingeständnis der russischen Behörden:
"Wenn die Entscheidung des Gerichts in Straßburg falsch gewesen sein soll, warum hat der russische Staat uns dann eine Entschädigung gezahlt?"
Straßburger Urteil wird in Russland nicht anerkannt
Erneut zogen sie in Russland durch alle Instanzen, nun, um die Umsetzung der Straßburger Entscheidung zu erwirken. Sie hatten den Menschenrechtsbeauftragten des Russischen Präsidenten auf ihrer Seite. Doch auch das half nicht. Das Oberste Gericht Russlands entschied erneut gegen sie. Die Agejews sind frustriert. Noch immer besuchen sie ihre Kinder jedes Wochenende im Heim. Die Betreuung dort sei gut, sagt Larisa Agejewa, aber:
"Ein Heim bleibt ein Heim, und ist es noch so gut. Kein Heim kann die Familie ersetzen. Mein Mann und ich sind der Meinung, dass unsere Kinder in gewisser Weise Gefangene sind."
Solche und ähnliche Fälle gibt es viele. Russland setzt Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes meist nur zum Teil um. Es zahlt den Opfern zwar Entschädigungen, folgt aber nicht den Empfehlungen der Richter, wie begangenes Unrecht künftig zu vermeiden wäre. Diejenigen, die in Russland Unrechtsurteile gesprochen haben, werden in den seltensten Fällen zur Verantwortung gezogen. Natalia Taubina von der Moskauer Stiftung Public Verdict betreut vor allem Folteropfer. Sie sagt:
"Mal schnell Entschädigungen aus dem Staatshaushalt zu zahlen, ist eben einfacher, als Fälle zu analysieren und konkrete Maßnahmen einzuleiten. Es fehlt der politische Wille, die Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes voll umzusetzen."
Anton Agejew hat nach all den Jahren, die er ohne Erfolg für die Rechte seiner Familie streitet, einen Verdacht:
"Einmal gefällte Urteile werden bei uns deshalb nicht aufgehoben, weil das heißen würde, dass die Macht fähig ist, Fehler zu machen. Eine zivilisierte Gesellschaft steht dazu. Sie sagt, wir haben Fehler gemacht, wir sind bereit, sie zu korrigieren und dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholen. Wir aber leben in einem totalitären Regime. Und da heißt es: Wir haben immer Recht."