Morgens um 9:30 Uhr tritt Tatjana Awatschjowa aus ihrem Haus in der Kleinstadt Krasnyj Sulin im Süden Russlands und macht sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es sind minus zehn Grad. Etwas unsicher eilt sie über die Eisflächen auf den Gehwegen. Tatjana fährt ins benachbarte Gukowo zu einer Demonstration.
"Eigentlich mache ich das jeden Tag. Außer am Wochenende. Aber wegen der Kälte setzen wir jetzt auch dienstags und donnerstags aus. Um Kräfte zu sammeln."
Tatjana ist Bergarbeiterin. Vermessungsingenieurin. Vier Jahre hat sie in einer Kohlegrube in Gukowo gearbeitet. Das Unternehmen ist bankrott. Der Direktor sitzt in Untersuchungshaft, er soll Geld unterschlagen haben. Über Monate hat er Löhne zurückgehalten, insgesamt rund 350 Millionen Rubel, gut fünf Millionen Euro. Jetzt läuft das Konkursverfahren. Mehr als 2.000 Arbeiter warten auf ihr Geld. Bisher wurde nur ein Bruchteil ausgezahlt. Sie demonstrieren bereits seit sieben Monaten.
- "Ich lebe bei meiner Mutter. Sie ist Rentnerin und füttert mich durch."
- "Ich habe zwei Kredite aufgenommen und kann sie nicht zurückzahlen. Meine Mutter hat deshalb noch einen weiteren Kredit aufgenommen. Ich schäme mich."
- "Die Leute sind entschlossen. Sie werden um ihr verdientes Geld kämpfen!"
Ein Polizeiwagen ist vorbeigerast, dann kommt noch einer, eine Ambulanz, die Feuerwehr. Sie fahren Richtung Hauptstraße. Genau dorthin, wo Tatjanas Bus nach Gukowo abfahren soll. Passantinnen kommen entgegen: angeblich ein Terroranschlag. Die Bushaltestelle ist abgesperrt.
"Das ist alles unseretwegen, die wollen uns nicht zur Kundgebung lassen. Im Dezember war es genau das gleiche."
Kurzentschlossen nimmt Tatjana ein Taxi. Die Bergarbeiter wollen in wenigen Tagen nach Moskau fahren. Sie planen dort eine Pressekonferenz. Bei der Demonstration heute in Gukowo wollen sie das Vorgehen besprechen.
Behörden behindern Proteste
Was im Dezember passierte, erzählt Walerij Djakonow, der Sprecher der Bergarbeiter. Er steht, umringt von Kollegen, vor der Firmenzentrale in Gukowo. Die Jacke trägt er trotz der Kälte offen. Seine Brillengläser sind getönt, 20 Jahre im Schacht haben seine Augen geschädigt.
"Wir haben im Dezember Geld gesammelt und zwei Busse gemietet, um nach Moskau zu fahren. Als wir uns zur Abfahrt versammelten, hat uns die Polizei eingekesselt. In der gesamten Region wurde ein Antiterroreinsatz ausgerufen. Die Polizisten sind nachts zu unseren Leuten nach Hause gekommen und haben ihnen Angst gemacht."
Gukowo liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Hier gibt es immer wieder Antiterrorübungen. Es kommt aber in Russland auch oft vor, dass örtliche Beamte und die Polizei lokale Proteste im Keim ersticken. Im letzten Sommer machten sich Kleinbauern in Südrussland mit Traktoren auf den Weg nach Moskau. Die Polizei hielt sie auf, verprügelte einen Aktivisten, geleitete die Bauern zurück. Die Bergarbeiter wollten sich im Dezember nicht so einfach unterkriegen lassen. Sie versuchten, auf Linienbusse auszuweichen, erzählt Djakonow.
"Nur drei von uns haben es geschafft, eine Busfahrkarte nach Moskau zu kaufen. Dann wurden die Fahrkartenschalter geschlossen. Und wir drei haben vergeblich auf den Bus gewartet. Er fuhr einfach an uns vorbei. Sie haben uns ihre Stärke vorgeführt."
Reise nach Moskau ist schwierig
Die Demonstranten haben sich im Kreis aufgestellt: insgesamt 200 Männer und Frauen, mehr erlauben die Behörden nicht. Sie fordern den Rücktritt des Gouverneurs. Der habe dem kriminellen Gebaren des Firmendirektors über Jahre zugeschaut. Und jetzt übersehe er die Not der Arbeiter.
Djakonow verliest eine Erklärung. Seine Wut ist heute besonders groß, denn die Staatsduma in Moskau hat sich mit den protestierenden Bergarbeitern beschäftigt. Ein Abgeordneter aus der Region ist aufgetreten und hat von einem Auszahlungsplan für die entlassenen Arbeiter berichtet. Die aber wollen ihr Geld sofort und in voller Höhe.
"Die Abgeordneten lügen. Sie sagen, sie hätten sich mit uns getroffen. Keiner von ihnen war je hier."
Und deshalb müssten sie, die Kohlearbeiter, nun selbst zu den Abgeordneten fahren, nach Moskau. Djakonow blickt auf. Wer dafür ist, solle die Hand heben. Alle sind dafür.
Djakonow hat Briefe an die vier Fraktionen der Staatsduma geschrieben, um Treffen zu vereinbaren. Bis zur geplanten Abreise antworten nur die Kommunisten. Alle anderen ignorieren die Bergarbeiter. Die sagen die Fahrt nach Moskau deshalb bis auf Weiteres ab.