Einordnung zu Netschajew-Interview
Wahrheits-Bröckchen und Desinformation

Der Deutschlandfunk hat den russischen Botschafter in Deutschland, Sergej J. Netschajew, interviewt. Wie sind die Aussagen Netschajews einzuordnen? Was war reine Propaganda und was sagt er zu Verhandlungen mit der Ukraine?

Von Gesine Dornblüth |
Sergei Jurjewitsch Netschajew (l), Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland
Sergei Jurjewitsch Netschajew ist Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik Deutschland. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
Russlands Botschafter in Deutschland, Sergej J. Netschajew, kritisierte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk die westlichen Staaten. In den vergangenen Jahren seien militärisch-technische Anlagen der NATO-Verbündeten in der Ukraine stationiert worden. Der Botschafter bezeichnete das als „weitere Herausforderung" für die russische Sicherheit. Einige Erläuterungen und Einordnungen zu weiteren wesentlichen Aussagen Netschajews:

Zu Verhandlungen mit der Ukraine vor Beginn des russischen Angriffskriegs

Ich meine ‚Istanbul‘, natürlich, Frühjahr 22, wo das Papier, das von der Ukraine stammt, praktisch eine Grundlage für die Verhandlungen war. Das haben wir sofort gesagt. Wir sind damit einverstanden, auf dieser Grundlage zu verhandeln. Das wurde paraphiert von den entsprechenden Kollegen aus der Delegation von Kiew. Und wir haben gesagt, jetzt geht es. Ja, bitte. Aber leider keine Fortsetzung, sonst kamen irgendwelche Botschaften und Vertreter der westlichen Länder, die Kiew gesagt haben, so geht es nicht. Kiew ist, wie Sie wissen – ich weiß nicht, ob Sie damit einverstanden sind oder nicht – aber Kiew ist nicht selbstständig in seinen Handlungen und das hat alles bedeutet.

Der russische Botschafter Sergej J. Netschajew
Einordnung: Je komplizierter Themen sind, desto einfacher ist es, Falschinformationen zu streuen – gerade wenn man sie auch mit Bröckchen von Wahrheiten versieht. Das ist das Prinzip der russischen Desinformation und dieses Netschajew-Zitat ist ein Paradebeispiel dafür. Die Falschinformationen sind dann schwer zu erkennen. Und gerade auch in Live-Situationen wie etwa Interviews ist es nahezu unmöglich, das alles einzuordnen.
Zu Istanbul 2022 und der Behauptung, der Westen habe der Ukraine verboten zu verhandeln: Richtig ist, es gab Verhandlungen. Es gab ein Papier in Istanbul. Und beide Delegationen, die ukrainische und die russische, waren optimistisch. Die offenen Punkte sollten zwischen den Präsidenten Putin und Selenskyj dann direkt ausgehandelt werden.
Doch weniger Tage später hat Putin in einem Telefonat mit dem damaligen Premier Italiens, Mario Draghi, erklärt, er stehe für ein Gespräch mit Selenskyj nicht zur Verfügung. Die Zeit sei noch nicht reif für eine Waffenruhe. Parallel dazu sind einflussreiche Propagandisten über die russische Delegation hergefallen. Zum Beispiel Wladimir Solowjow, der sagte: „Man darf diesen Drecksäcken nicht die Hand schütteln. Man sollte mit ihnen überhaupt nicht reden.“ Es war also die russische Seite, die Anfang April 2022 einen Waffenstillstand verhinderte.
Die russische Desinformation zitiert jetzt immer wieder eine Aussage des ukrainischen Verhandlungsleiters von damals. Der hat erzählt, der damalige britische Premier Boris Johnson sei damals in Kiew gewesen und habe gesagt: „Wir verhandeln nicht.“ Es ist völlig unklar, wen Johnson mit „wir“ meinte - die Ukraine oder auch Großbritannien mit Russland. Fakt ist aber: Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gingen weiter.
Doch dann kamen die Kriegsverbrechen in Butscha und Irpin ans Licht. Russland hat immer weiter angegriffen, etwa in Mariupol. Mit anderen Worten: Russland hat keineswegs den Eindruck erweckt, dass das Verhandlungsangebot ernst gemeint ist. Das führte am Ende zum Scheitern der Verhandlungen.

Zu „Vorschlägen“ an die NATO

Wenn wir nochmals in die Geschichte einblicken, haben wir im Dezember 2021 verschiedene Papiere verteilt an die amerikanischen Kollegen, an die NATO und an die OSZE mit unseren Vorschlägen, Verhandlungen, denn es geht um die Sicherheit unseres Landes.

Der russische Botschafter Sergej J. Netschajew
Einordnung: Moskau wollte, dass sich die NATO verpflichtet, keine weiteren Staaten aufzunehmen – insbesondere nicht die Ukraine. Sie wurde explizit in dem Papier erwähnt. Außerdem sollte sich die NATO verpflichten, in den nach 1997 aufgenommenen Mitgliedsstaaten keine Waffen zu stationieren, zusätzlich zu denen, die dort 1997 stationiert waren. NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat das kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ noch einmal erläutert. Er sagte, die Russen forderten, alle NATO-Truppen aus dem östlichen Gebiet der Allianz abzuziehen. Das war ein klarer Bruch mit der NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der sich Russland verpflichtet hatte, allen Staaten, auch denen in seiner Nachbarschaft, das Recht auf freie Bündniswahl zuzugestehen. Deswegen war dieses „Angebot“ von russischer Seite für die NATO inakzeptabel, denn es bedeutete im Prinzip das Ende der NATO als Verteidigungsbündnis – auch vor Russland.

Zum „Schutz“ der russischen Bevölkerung

Wir haben in erster Linie das Ziel, die russische Bevölkerung und die russischsprachige Bevölkerung der östlichen Regionen Ukraine zu schützen. (…) Es geht um den Schutz der russischen Bevölkerung in diesen vier Regionen. Das war absolut notwendig, denn im Zuge der Verhandlungen für Minsker Abkommen, diese acht Jahre lang, hat Kiew gegen die eigene Bevölkerung in diesen Regionen militärisch gekämpft. Es gab – soviel ich weiß – aus verschiedenen Quellen 14.000 bis 15.000 Opfer. Daraus keine Aufmerksamkeit seitens unserer westlichen Kollegen. Wie sollen wir das auch einschätzen?

Der russische Botschafter Sergej J. Netschajew
Einordnung: Ein Teil der Informationen stimmt: die Zahl 14.000 bis 15.000 Opfer in acht Jahren. Doch diese Toten gab es nicht nur in dem von Russland unterstützten Gebiet, sondern auch auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet – insbesondere längs der Waffenstillstandslinie. Es gab aber nicht nur zivile Opfer, unter den Toten waren auch zahlreiche Soldaten.
Die Behauptung, der Westen habe dem keine Aufmerksamkeit geschenkt, ist Unsinn. Tatsächlich war eine OSZE-Beobachtermission vor Ort. Sie ist allerdings im Laufe der Zeit immer stärker daran gehindert worden, ihre Arbeit zu machen - insbesondere von den sogenannten Separatisten. Zum Teil wurde sie auch bedroht.
Die Behauptung, es gehe um den „Schutz der russischen oder der russischsprachigen Bevölkerung“ ist eine Erfindung von russischer Seite. Diese Behauptung wurde schon bei der Besetzung der Krim aufgestellt, als der Krieg in den Donbass getragen wurde. Damals wurden massiv gefälschte Videos in Umlauf gebracht. Zum Beispiel gab es eine angebliche Augenzeugin im Osten der Ukraine, die behauptete, dass ukrainische Soldaten die Einwohner von Slowjansk gefoltert und einen kleinen Jungen gekreuzigt hätten. Doch das war frei erfunden. Die Augenzeugin entpuppte sich als Schauspielerin. Und heute vernichtet Russland vor allen Dingen solche Städte, in denen russischsprachige Menschen leben.