"Die nächste ist Anna Politikowskaja", sagt die Pressesprecherin der "Nowaja Gaseta", als sie auf eines der sechs gerahmten Fotos an der Wand zeigt. Man sieht eine herzhaft lachende Frau.
"Anna wurde 2006 umgebracht. Die Täter sitzen im Gefängnis. Die Untersuchungsbehörden sagen, dass es noch Auftraggeber gibt. Aber keiner sucht nach ihnen."
Auf allen Bilder sind Menschen zu sehen, die für die Zeitung gearbeitet, kritisch berichtet und dafür mit dem Leben bezahlt haben, erzählt Nadeshda Prusenkova, die für die Öffentlichkeitsarbeit der "Nowaja Gaseta" zuständig ist.
Dann zeigt sie auf Fotos von Anastassija Baburowa und Stanislaw Markelow, die 2009 in Moskau von einem Neonazi erschossen wurden.
Themen jenseits der Staatsmedien
Die "Nowaja Gaseta" erscheint drei Mal pro Woche und ist mit einer Auflage von etwa 200.000 Exemplaren die größte unabhängige Zeitung Russlands.
Das Blatt berichtet zum Beispiel über Proteste gegen die Sperrung des Messenger-Dienstes "Telegram" und den landesweiten Widerstand vieler Menschen gegen illegale Müllentsorgung an ihren Wohnorten.
Die Zeitung legt sich aber auch immer wieder mit den Mächtigen an. Nach dem Abschuss eines Passagierflugzeugs in der Ost-Ukraine, für das der Westen Russland mit verantwortlich macht, titelte das Blatt "Vergib uns, Niederlande" – viele der Opfer waren Niederländer.
Dass in der russischen Teilrepublik Tschetschenien homosexuelle Männer von den Behörden verfolgt, inhaftiert und gefoltert wurden, ist ein Rechercheerfolg der "Nowaja Gaseta".
Über Korruption, Vetternwirtschaft und soziale Probleme wird viel berichtet. Alles Themen, die von den Staatsmedien nicht oder nur teilweise abgedeckt werden. Aber auch Artikel, die die Position des Westens im Syrienkrieg kritisch hinterfragen, werden veröffentlicht.
Gesellschaftliche Debatten herbeiführen
Die "Nowaja Gaseta" will damit nicht provozieren, meint Nadeshda Prusenkova. Dennoch wissen alle Mitarbeiter, dass ihre Arbeit zu gesellschaftlichen und politischen Debatten führt:
"Natürlich ist uns klar, dass die Berichterstattung über Homosexuelle in Tschetschenien Reaktionen hervorruft. In Russland gibt es viele Menschen, die homophob sind. Das ist ein schwieriges Thema, und viele fühlen sich dann von uns geärgert."
Deshalb es gibt auch die Geschichten, die schwerwiegendere Folgen haben:
"Am heikelsten sind die Artikel über den FSB, den russischen Inlandsgeheimdienst. Die sagen nie, dass sie sich angegriffen fühlen. Aber danach fangen die Probleme plötzlich an."
Dann funktionieren manche Telefone nicht mehr oder es finden plötzlich Steuerprüfungen statt. Normalerweise schauen die Finanzbehörden einmal im Jahr in die Bücher, bei der "Nowaja Gaseta" gab es im letzten Jahr mehr als fünf Überprüfungen.
"Die Behörden sind ziemlich fantasievoll und haben viele Möglichkeiten, uns die Arbeit schwer zu machen."
Sagt Prusenkova ironisch. Aber Gott sei Dank komme es nicht zu körperlichen Angriffen.
Geld als Druckmittel
Ein anderes Mittel, um Druck auf Medien in Russland auszuüben, ist Geld. Seit einiger Zeit darf die Zeitung kein ausländisches Werbegeld mehr annehmen. Finanzielle Förderung aus dem Ausland ist verboten. Die "Nowaja Gaseta" finanziert sich deshalb hauptsächlich durch verkaufte Exemplare und Online-Werbung. Um die Finanzen aufzubessern, sollen auch Anteile der Zeitung verkauft werden. Denn die "Nowaja Gaseta" ist eine Aktiengesellschaft - 76 Prozent halten aktuell die Mitarbeiter. Aber:
"Es ist sehr schwer, jemanden zu finden, der nicht in den Redaktionsalltag eingreifen will, der keinen Einfluss nehmen möchte und uns dem Kreml als Geschenk anbietet."
Der externe Einfluss auf die Berichterstattung ist dank der Organisationsstruktur gering: Mindestens 51 Prozent der Aktien müssen immer in der Hand der Mitarbeiter bleiben.
Aber auch der Einfluss der "Nowaja Gaseta2 ist begrenzt. Zwar kann die Zeitung recht frei berichten, aber sie erreicht damit vor allem Menschen aus der Mittelschicht: urban, gut ausgebildet, 30 bis 40 Jahre alt. Fast die Hälfte der Auflage wird in Moskau verkauft.
Trotzdem möchte Prusenkova nicht, dass die "Nowaja Gaseta" nur als Oppositions-Blatt für eine Minderheit gesehen wird:
"Wir sind eine Zeitung, die auf liberalen und humanistischen Werten beruht. Wir werden oft als große Oppositionszeitung beschrieben, aber wir mögen das nicht, weil Opposition immer die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Oppositionspartei mit sich bringt. Wir sind eine unabhängige Zeitung, und diese Unabhängigkeit wollen wir nicht aufgeben."