In der Nacht auf den 17. Juli 1918 starb Nikolai II., Zar aller Reussen, einen schmutzigen Tod. In einem Kellerraum in der Provinzstadt Jekaterinburg wurde der Zar mitsamt seiner Familie und mehreren Bediensteten von bolschewistischen Revolutionären mit Schusswaffen und Bajonetten in einem blutigen, zwanzig Minuten dauernden Massaker niedergemetzelt. Das grausame Ende eines Potentaten, der 22 Jahre lang als Herrscher von Gottes Gnaden die Geschicke des russischen Reiches bestimmt hatte.
György Dalos, Historiker, Schriftsteller und profunder Kenner der osteuropäischen Geschichte, bemüht sich in seiner Monographie um ein differenziertes Bild des letzten Romanow-Zaren:
Ein überforderter Autokrat
"Die kommunistische Geschichtsschreibung - wenn man sie überhaupt als Geschichtsschreibung und nicht als Propaganda versteht - versuchte, aus Nikolaus II. einfach einen Teufel zu machen, ihn als den 'blutigen Nikolai' darzustellen. Im Gegensatz dazu versucht man jetzt in der Ära Putin und schon ein bisschen früher, diesen Zaren heilig zu sprechen. Und die Tatsache, dass er tatsächlich von den Bolschewiki brutal zusammen mit seiner Familie ermordet wurde, aus dieser Tatsache heraus versucht man, ihn zu einem Heiligen und Märtyrer emporzuheben, was ich als Historiker auch nicht akzeptieren kann."
Dalos entwirft in seiner Biographie das Porträt eines überforderten Autokraten. Der 73-jährige Ungar beschreibt den unglücklichen Nikolai als notorisch zaudernden, entscheidungsschwachen Herrscher, der den Herausforderungen der Moderne in keiner Weise gewachsen war:
"Einerseits galt er ganz im Sinne der mittelalterlichen Auffassung als ein Herrscher von Gottes Gnaden, andererseits regierte er ein immer moderner und komplizierter gewordenes Land - mit einer seit 1905 freien Presse und sogar bestimmten Formen des modernen Parlamentarismus. Und so kann natürlich kein mittelalterlicher Herrscher wirklich Entscheidungen treffen."
Esoterische Einflüsterer gingen am Hof ein und aus
Dazu kam das bizarre Weltbild des Zaren: Wie seine Frau Alexandra, eine gebürtige von Hessen-Darmstadt, kultivierte auch Nikolai II. einen absonderlichen Mystizismus, der ihn, angereichert durch üble antisemitische Ressentiments, zu einem willfährigen Opfer esoterisch-reaktionärer Einflüsterungen machte. In diesem Zusammenhang ist der mythenumwobene Mönch Grigori Rasputin zu nennen, der in der Götterdämmerung des Hauses Romanow zunehmend Einfluss auf den Zaren und dessen Frau gewann. György Dalos kommt in Sachen Rasputin zu einem nüchternen Resümee:
"Der Weg des ungebildeten, kaum schreibkundigen sibirischen Bauern und Wanderpredigers zum einflussreichen Akteur der russischen Politik gehört zu den Paradoxien der Endzeit der Monarchie, in der die schwungvolle Moderne und anachronistische feudale Strukturen nebeneinander existierten. Magier, Mystiker, heilige Narren und Wunderheiler, die eher an den Hof von Iwan dem Schrecklichen gepasst hätten, gaben einander in St. Petersburg und Zarskoje Selo die Klinke in die Hand."
An Selbstbewusstsein scheint es Grigori Rasputin, dem "Zarenflüsterer", nicht gemangelt zu haben. Er duzte den Gottgesalbten und dessen Frau schon bei der ersten Begegnung - an sich ein unerhörtes Sakrileg - und nannte die beiden "Mama" und "Papa". Zar Nikolai war beeindruckt von diesem hageren Mann mit dem verwahrlosten, struppigen Bart und den eindringlichen, als "hypnotisch" beschriebenen Augen.
Regentschaft Nikolais stand unter keinem guten Stern
"Grigorij Rasputin, der Mönch mit dem exotischen Äußeren und der wirren, kryptischen Redeweise wurde in den feinsten Salons von St. Petersburg wohlwollend aufgenommen. Der Höhepunkt seines Erfolgs war jedoch der Einzug in die Zarenresidenz."
Die Herrschaft Nikolais II. stand von Anbeginn an unter keinem guten Stern, wie György Dalos in seiner Monographie herausarbeitet. Das riesige russische Reich wurde bereits bei Nikolais Thronbesteigung 1894 von schweren sozialen Spannungen erschüttert. Terroranschläge, Nationalitätenkämpfe und nicht enden wollende Attentat-Serien sorgten für permanente Instabilität, dazu kam die empörende Armut breiter Bevölkerungsschichten.
Nach zehnjähriger Regentschaft gab Nikolai II., ermutigt von kriegstreiberischen Kräften an seinem Hof, seine Einwilligung zum russisch-japanischen Krieg. Eine desaströse Entscheidung. Nach eineinhalb-jährigen Misserfolgen in Serie endet der Krieg im Herbst 1905 mit einer schmachvollen Niederlage Russlands. Erheblichen Anteil daran hatten auch die rassistischen Vorurteile Nikolais, der die Japaner für "Makaken" hielt, also letztlich für Affen, die man militärisch und kulturell nicht ernst zu nehmen hatte.
Der Erste Weltkrieg gab der Revolution Auftrieb
"Es gab einige Politiker, die diesen Krieg wollten, indem sie behauptet haben, dass ein kleiner, kurzer, siegreicher Krieg einer Revolution vorbeugen könnte. Weil, die Revolution war schon da. Die Arbeiterschaft in Sankt Petersburg und anderen Großstädten und auch die Bauern waren unzufrieden, und man wollte mit einem siegreichen Krieg, mit einem Aufpeitschen der Nationalgefühle dieser Revolution vorbeugen. Allerdings geschah das Gegenteil: Weil, der verlorene Krieg führte dazu, dass die Revolution nun offen ausgebrochen war."
Die Niederlage gegen Japan befeuerte den blutigen Revolutionsversuch von 1905, der den Zaren zu konstitutionellen Zugeständnissen an die linke und liberale Opposition zwang. Den finalen Untergang des Hauses Romanow besiegelte einige Jahre später der Erste Weltkrieg, der den revolutionären Affekten im riesigen Vielvölkerreich so richtig Auftrieb gab.
György Dalos konzentriert sich in seiner konzisen, gut zu lesenden Studie auf die wesentlichen Stationen der Nikolai'schen Biographie. Bahnbrechend Neues erfährt man nicht in diesem Buch. Aber: Dalos ist auf dem letzten Stand der Forschung und referiert seine Erkenntnisse in wohltuend sachlicher Form. Zarismus-Apokalypse für Einsteiger.
György Dalos "Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow."
C.H. Beck, 231 Seiten, 22,95 Euro
C.H. Beck, 231 Seiten, 22,95 Euro