Das Ausmaß des Problems benennt Jurij Dud gleich in den ersten Minuten seines Films:
"Von den Problemen, die es in Russland gibt, interessieren uns die, über die man nicht sprechen will oder derer man sich geniert. Wie zum Beispiel die HIV- und AIDS-Epidemie. Darüber sprechen einzelne Aktivisten, aber sicher nicht alle Leute. Viele denken, dass diese Krankheit irgendwo in den 90er Jahren geblieben ist. Aber so ist es nicht. In Russland leben mehr als eine Million Menschen mit HIV. Im Jahr 2018 starben in Russland 37.000 Menschen an AIDS. Im Durchschnitt sind das 100 Menschen am Tag."
Dunkelziffer liegt wohl über einer Million HIV-Infizierte
Russland hat insgesamt etwa 145 Millionen Einwohner. Eine Million Infizierte ist ein für ein Industrieland hoher Wert - und das ist nur die amtliche Zahl. Die Dunkelziffer liegt höher.
"Du warst Junkie?" - "Ja", antwortet einer der Gesprächspartner. Der Film porträtiert Menschen in verschiedenen russischen Regionen, die sich auf ganz unterschiedlichen Wegen mit HIV infiziert haben. Sie haben sich Drogen intravenös gespritzt und dabei die Nadeln Anderer benutzt, oder sie haben ungeschützten Sex gehabt, ohne zu wissen, was sie tun.
HIV-Film trendete bei Google mit 5.500 Prozent
Dud demonstriert, wie einfach man sich selbst auf HIV testen kann. Alles Dinge, die staatliche Medien so gut wie nicht zeigen.
Offenkundig trifft der Videoblogger einen Nerv: Sein Film, der immerhin fast zwei Stunden lang ist und übrigens auch englische Untertitel hat, ist mehr als 15 Millionen Mal aufgerufen worden. Kurz nach dessen Veröffentlichung schoss das Thema bei Google Trends mit einem Plus von 5.500 Prozent in Russland nach oben.
Entsprechend berichten die Hersteller der Tests von sehr viel höheren Bestellungen, und auch Beratungs- und Versorgungszentren in vielen Städten geben an, die Nachfrage nach Terminen sei gestiegen.
Weitverbreiteter Unkenntnis über HIV-Verbreitungswege
Die hohen Infektionszahlen erklärt der Film vor allem mit weitverbreiteter Unkenntnis darüber, wie sich das Virus überträgt. Über Sex oder das Drogenmilieu sprechen weite Teile der Gesellschaft nur verdruckst.
Wadim Pokrowskij, Professor und Leiter des Föderalen Zentrums für Prophylaxe und den Kampf gegen AIDS, sagt: "Ich habe von keinem offiziellen oder halb-offiziellen staatlichen Funktionsträger das Wort 'Präservativ' gehört. Das wird dann kurios: In einem der Ratgeberblätter für Sex-Arbeiterinnen steht, dass sie 'Mittel zum individuellen Schutz' benutzen sollen. Da frage ich immer: Was soll das denn sein? Gasmasken oder Schutzwesten?"
Keine stringente Sexualaufklärung in Schulen
Vieles gibt es einfach nicht: Drogenabhängige, für die eine Ersatztherapie in Frage käme, erhalten sie nicht, denn diese Therapien sind nicht zugelassen. In russischen Schulen gibt es keine stringente Sexualaufklärung. Wie sie im Unterricht vorkommt, hängt sehr von Lehrerinnen und Lehrern ab. Öffentliche HIV-Aufklärungskampagnen gibt es nicht.
Aus Unkenntnis und Furcht erklärt sich auch ein Teil der Anfeindungen, die HIV-Infizierte erleben. Aus der Gegend von Perm im Ural wurde vor Kurzem berichtet, eine Ärztin habe einem infizierten Patienten die Behandlung verweigert und ihm den Tod gewünscht.
Russlands Regierung will Behandlungsquote erhöhen
Dabei zahlt der Staat HIV-Erkrankten Präparate, die den Ausbruch von AIDS verhindern. "Das wird so in die Tat umgesetzt, aber es werden nicht genügend Medikamente gekauft; für eine Million Patienten reichen sie nicht aus. Medikamente bekommt nur die Hälfte. In erster Linie die, deren Immunsystem schon stark angegriffen ist", beklagt Mediziner Wadim Pokrowskij. Die russische Regierung will nun allerdings die Behandlungsquote erhöhen; Pläne dafür gibt es schon länger als den nun so populär gewordenen Film. Ob die Finanzierung mit den Plänen Schritt halten wird, ist noch nicht klar.
Jurij Dud, 1986 als Sohn eines sowjetischen Militärangehörigen in Potsdam, DDR, geboren, gilt als unabhängiger und kritischer Journalist, der einige Tabuthemen bearbeitet. So hat er allein im vergangenen halben Jahr Filme zur Geiselnahme von Beslan und zur Geschichte des GULAGs veröffentlicht. Sein einziger Veröffentlichungsweg: das Netz.