Ansätze für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland seien systematisch beseitigt worden, sagte Franck. Jede Form unabhängigen Engagements werde denunziert als "von außen gelenkt" und durch Gesetze eingeschränkt. Aber selbst unter der massiven Medienbeeinflussung gebe es nicht wenige, die sich für Demokratie einsetzten. Bei einem Trauermarsch haben gestern zahlreiche Menschen an den ermordeten Kreml-Kritiker Nemzow erinnert. Die Polizei sprach von 16.000 Teilnehmern, die Organisatoren von mehr als 70.000.
Die Demokratiebewegung in der Ukraine werde von Russlands Präsident Wladimir Putin als Gefahr betrachtet, erste Repressionen gegen Nichtregierungsorganisationen habe es im Zuge der ersten Maidan-Bewegung gegeben. Deshalb seien Oppositionelle der Ansicht, dass es sich auf dem Kiewer Maidan-Platz entscheide, wie es der Demokratiebewegung in Russland künftig ergehe.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Für liberale Reformen, für saubere Wahlen hat Boris Nemzow gestritten und gegen Korruption und Willkür gekämpft, zuletzt gegen den Krieg in der Ukraine, den er eine russische Aggression genannt hat. Er war einer der wenigen in den Reihen der Opposition, der Regierungserfahrung hatte als ehemaliger Vizepremierminister. Den Mord an ihm wollen die russischen Behörden jetzt schnell und gründlich aufklären. Das haben sie zugesagt. Und auch Putin persönlich hat sich dafür eingesetzt. Für Hinweise ist eine Belohnung ausgesetzt worden. Für viele scheinen die Drahtzieher des Mordes allerdings schon festzustehen. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die russischen Staatsmedien. Am Telefon ist Peter Franck, der Russland-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Schönen guten Morgen.
Peter Franck: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Herr Franck, ein Freund von Boris Nemzow hat gestern auf dem Trauermarsch von einem Terrorakt gesprochen und davon, dass das ein politischer Mord sei, der die Bevölkerung in Angst versetzen soll, oder jedenfalls den Teil der Bevölkerung, der Nemzow unterstützt und nicht einer Meinung mit der Regierung ist. Ist das zusammengefasst ungefähr das, was dieser Mord ist?
Franck: Ja. Der Mord oder die Nachricht von dem Mord, die uns ja Freitagabend spät erreicht hat und der uns tief schockiert hat, wie so viele Morde vorher, legt natürlich erst mal eines nahe: Wir wissen nicht, was der wirkliche Hintergrund ist. Aber viele unserer Partner, Freunde, Kollegen, gerade die prominenteren, mit denen wir in Russland zusammenarbeiten, sagen uns auf die Frage, wovor habt ihr eigentlich Angst, was ist die realste Gefahr für euch, die beschreiben das immer so, dass die realste Gefahr ist genau die Situation, die wir jetzt sehen, und daran denken wir dann natürlich. Dass in einem Klima absoluter Feindlichkeit gegen alle Leute, die sich für Menschenrechte einsetzen, die sich für Demokratie einsetzen, dieses Gerede von Fünften Kolonnen, die den Regimewechsel vorbereiten, man ein Klima schafft, in dem Leute, die das Regime in dieser Situation für zu gutmütig halten, vorauseilend tätig werden und uns, wie sie dann sagen, auf der Straße erschießen, davor kann uns niemand schützen, und wir haben ja Beispiele dafür. Das geht einem dann natürlich durch den Kopf.
Ansätze für Demokratie "systematisch beseitigt worden"
Barenberg: Was ist noch übrig von der offenen Gesellschaft, von einer offenen Gesellschaft in Russland?
Franck: Ja immer weniger, müssen wir sagen. Wir erleben seit langen Jahren, dass die Voraussetzungen, in Russland zu mehr Demokratie, zu mehr Rechtsstaatlichkeit zu kommen, erheblich verschlechtert werden. Wir haben immer gesagt, auch Anfang der 2000er-Jahre, dass dieses Land einen ganz weiten Weg vor sich hat und dass es nicht reicht, Hebel umzulegen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit praktisch einzuführen nach westlichem Vorbild. Aber wir sehen in den ganzen Jahren, dass alles, fast alles getan worden ist, dass die Ansätze, die es gab dafür, so schwer sie waren, so widersprüchlich sie waren, systematisch beseitigt worden sind. Da gibt es viele Beispiele für, dass jede Form unabhängigen Engagements von unten aus der Gesellschaft denunziert wird als von außen gelenkt, als regimegefährdend. Der Spruch, wir machen die Politik und ihr regelt eure privaten Dinge, das was in Russland ohnehin schon sehr verbreitet war, ist in den letzten Jahren durch vielerlei Gesetze gefördert worden.
Barenberg: Jetzt heißt es, dass Präsident Putin im Kreml Sorge habe, in Russland könne sich so etwas wie die Maidan-Bewegung in der Ukraine wiederholen. Ist das gerechtfertigt, wenn man daran denkt, dass Putin die Medien kontrolliert und in den Umfragen hohe Zustimmungswerte erzielt?
Franck: Ja, man fragt sich, wo diese Angst eigentlich herkommt. Ich glaube aber auch, dass sie da ist, denn wir sehen ja in den letzten Jahren, dass gerade dann, wenn es insbesondere in der Ukraine zu solcher Bewegung von unten kam, dass es dann auch repressive Maßnahmen in Russland gab. Insofern ist das Verhalten der russischen Führung in der Ukraine auch nur erklärbar, aus meiner Sicht jedenfalls, vor den innenpolitischen Verhältnissen in Russland. Das erste große Vorgehen gegen Nichtregierungsorganisationen in Russland war im Zusammenhang mit dem ersten Maidan 2004 und unsere Partnerinnen und Partner, die es ja gibt in Russland und von denen es mehr gibt, als die russische Propaganda uns immer wissen lassen will - das ist ja gestern auch bei der Demonstration dokumentiert worden -, die sagten uns, als der zweite Maidan losging, dass es jetzt für uns in Russland richtig eng wird und dass sich auf dem Maidan entscheidet, wie es uns eigentlich geht. Gelingt es da, eine dauerhafte Destabilisierung in der Ukraine zu erreichen, dann werden wir mit unseren Ansätzen, die wir haben - und das waren ja Ansätze, das sind ja Leute, die für ihr Land arbeiten, die mit der Regierung zusammenarbeiten wollten, die Schulprojekte zusammen gemacht haben, die sich plötzlich als ausländische Agenten denunziert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen -, diese Angst gibt es. Die scheint mir überhaupt nicht berechtigt zu sein. Da geht es nicht um "Regime Change". Die Dinge, die die Leute in Russland machen, ist Aufarbeitung von Totalitarismus. Wir reden, wenn wir da sind, über unsere eigenen Probleme in Deutschland, die wir in den 50er-Jahren damit hatten. Wenn das Regime Putin meint, dass das ihm gefährlich ist, dann sagt das eine ganze Menge.
"Eine Entschlossenheit zu spüren"
Barenberg: Auf dem Trauermarsch wurden Plakate hochgehalten mit der Aufschrift "Ich fürchte mich nicht", aber auch Plakate mit der Aufschrift "Ich fürchte mich! Wer ist der nächste?". Was für eine Zäsur erleben wir möglicherweise gerade? Wird die Opposition nun erst recht verstummen, oder wird sie sich zusammenraufen, Widerstand leisten, einen Frühling erleben möglicherweise?
Franck: Ich glaube, dass man das im Moment überhaupt nicht beurteilen kann. Ich glaube schon, ich habe auch die Interviews gestern gesehen, dass da eine Entschlossenheit zu spüren war und dass, wie manche ja sagten, das Maß jetzt voll sei. Und das hörte sich auch nicht nach Maidan oder gewalttätigem Umsturz an, sondern das hörte sich danach für mich an, dass die Leute zusammenstehen wollen und ihre öffentlichen Angelegenheiten wieder mehr in ihre eigene Hand nehmen wollen. Ob das jetzt langfristig trägt, ob sich daraus etwas ergibt, das wissen wir nicht. Ich glaube, wir sollten uns aber auch vom von vielen Medien geschaffenen Bild, der Russe als solcher brauche eben die feste Hand und könne eben nicht nach westlichem Vorbild Demokratie und Menschenrechte leben, das dürfen wir uns nicht vorgaukeln lassen. Ich glaube, es ist gestern deutlich geworden, dass es doch selbst unter dieser massiven Medienbeeinflussung nicht wenige gibt - und es sind ja in jeder Gesellschaft wahrscheinlich nur wenige -, die so für unsere Werte eintreten, dass wir uns nicht erklären lassen, diese gäbe es in Russland nicht. Die sind vorhanden und ich glaube, da müssen wir hinschauen, und die gilt es in der nächsten Zeit zu unterstützen.
Barenberg: Herr Franck, wie erklären Sie sich dann, dass die Opposition eine solche Randerscheinung ist und dass man immer auch den Eindruck hat, dass sie in sich tief zerklüftet und zerspalten ist?
Franck: Na ja, es gibt keine... die, hm, Opposition, die gesamte politische Kultur in Russland ist ja durch das Verhältnis, durch die Handhabung der Gesetze, durch Medien, die kontrolliert sind, die ist ja seit vielen Jahren so. Erst mal gibt es keine große Tradition und dann gibt es in den letzten 15 Jahren nur Versuche, diese Sachen systematisch zu beseitigen. Direktmandate: Es gibt keine politische kontroverse Diskussion, es gibt keine entwickelte Fähigkeit, zu Kompromissen zu kommen. Da hat die Opposition auch ihren Anteil aus meiner Sicht, aber die Rahmenbedingungen sind so geschaffen worden, dass sie sich nicht entwickeln konnte.
Barenberg: Peter Franck, der Russland-Experte von Amnesty International, heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Danke Ihnen sehr für das Gespräch.
Franck: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.