Archiv

Russland
Die Geheimnisse der "Polittechnologie"

Mit einer schier überbordenden Fülle von Material beschreibt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, das Innenleben des Reiches. Er zeigt die stetig wachsenden patriotischen Strömungen auf - und erläutert den wichtigen Begriff des "Polittechnologie", mit der man die Massen zu beeinflussen versucht. Als Nachschlagewerk gut geeignet, auch wenn die Lektüre bisweilen ermüdend ist.

Von Karla Hielscher |
    Russlands Präsident Putin äußert sich in einem Fernsehstudio vor Bürgern zur politischen Lage.
    Fragestunde Putin: Multimediale Inszenierung des offiziellen Weltbildes (picture alliance/dpa/EPA/ALEXEI DRUZHININ)
    Der Titel des Buches von Ulrich Schmid "Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur" lässt aufhorchen. Stellt das Buch doch den Versuch dar - Zitat -, "die Beeinflussung des russischen Bewusstseins unter den medialen und politischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu verstehen".
    Der Schweizer Slawist und Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands Ulrich Schmid hat - im Gegensatz zu manchen gutwilligen, aber ahnungslosen Russlandverstehern - die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und das fundierte Fachwissen für ein wirkliches und das heißt auch kritisches Verständnis der so beunruhigenden kulturellen und politischen Entwicklungen in diesem Land.
    Gleich im Eingangskapitel "Politische Ideologie und ihre Inszenierung" präsentiert Schmid knapp die Grundthesen des Buches: Seit Beginn des neuen Jahrhunderts wurden antiwestliche und patriotische Strömungen der Gegenwartskultur zunehmend unterstützt und gefördert, sodass sich inzwischen eine nationalistische Staatsideologie etabliert hat, die Russland als eigene, einzigartige Zivilisation versteht, die mit ihren Werten dem "dekadenten" Westen klar überlegen ist.
    Multimediale Untermauerung des offiziellen Weltbildes
    Die drei wesentlichen Elemente dieser die herrschende Ordnung stabilisierenden Ideologie mit ihrem metaphysisch überhöhten Wahrheitsanspruch sind der Neoimperialismus, seine religiöse Legitimation durch die russische Orthodoxie und seine geopolitische Begründung durch den Eurasismus.
    Um die Gesellschaft auf diesen nationalistischen Kurs einzuschwören, wird – wie es in offiziellen Aufrufen der Regierung heißt - ein "Krieg um die Seelen" der Menschen geführt. Ziel der staatlichen Kulturpolitik ist – Zitat - "die Ausbildung einer Weltanschauung, welche die Nation erstarken lässt". Dabei wird bewusst auf die populäre Massenkultur mit ihren multimedialen Erzeugnissen gesetzt, die nicht nur unterhalten, sondern unterschwellig das offizielle Weltbild untermauern.
    Für diese gezielte Beeinflussung des Massenbewusstseins hat sich in Russland der Begriff Polittechnologija (Polittechnologie) eingebürgert. Aufgabe der Polittechnologen ist es, "mit Überzeugungsstrategien, Sympathiesteuerung und ästhetischen Inszenierungen die Seelen der Menschen zu gewinnen".
    Ulrich Schmid demonstriert nun in seinem Buch mit einer schier überbordenden Fülle von Material, wie diese Polittechnologie als Herrschaftsinstrument funktioniert. Er stellt die einflussreichsten Spindoctors und Strippenzieher der neuen Staatsideologie vor, referiert die obskuren Theorien von pseudophilosophischen Denkern. Er setzt sich mit der staatstreuen Kulturelite, etwa der Gestalt des bedeutenden Filmregisseurs Nikita Michalkow auseinander. Er zeigt die verschiedenen Spielarten des Neoimperialismus in Filmen, Büchern, Ausstellungen und Malerei, in denen zaristische und sowjetische Traditionen bedenkenlos miteinander verquickt werden.
    Enormer Einfluss der orthodoxen Kirche
    Er beweist den enormen Einfluss der orthodoxen Kirche, zum Beispiel bei der religiösen Selbstinszenierung Putins, dessen Beichtvater, Archimandrit Schewkunow, vor seiner Priesterweihe xenophobe Filme produzierte und nun Mitglied des Präsidialrats für Kunst und Kultur ist.
    Die wichtigste Rolle bei der Schaffung eines nationalen Massenbewusstseins spielt das staatlich kontrollierte Fernsehen mit seinen zahlreichen populären Serien und Dokumentationen zu historischen Themen, seinen sowjetnostalgischen Filmen, aber auch solchen über eine verrückte Glamourwelt, die die allgemeine Entpolitisierung fördern.
    Die Krim-Annexion und der Donbass-Krieg wurden nach allen Regeln des Genres der Fernsehserie inszeniert dargeboten. Aber auch Computerspiele fungieren als Medium der patriotischen Erziehung. Und vom Kulturministerium geförderte Videogames zum Beispiel über das Heldentum russischer Soldaten in den Weltkriegen sind äußerst beliebt.
    Breiten Raum nimmt im Buch des Literaturwissenschaftlers das literarische Leben ein. Ulrich Schmid nennt die wichtigsten Schriftsteller und Schriftstellerinnen samt kurzer Inhaltsangaben ihrer Romane und verschafft so einen Überblick über die Literaturszene und das Literaturschaffen seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Autor macht an diesen Beispielen deutlich, wie auch in diesem Bereich nationalpatriotisches Denken zunimmt.
    Aber er porträtiert nicht nur patriotische Schriftsteller mit ihren Werken, sondern auch diejenigen Autoren, die als Oppositionelle vom herrschenden Regime offen als "fünfte Kolonne" diffamiert werden.
    Die Überfülle des vom Autor gebotenen Stoffs, der Namen, Daten, Fakten, die sich auch häufig wiederholen oder überschneiden, macht die Lektüre leider manchmal redundant und ermüdend.
    Das ausführliche Inhaltsverzeichnis mit interpretierenden Überschriften sowie das Personenregister erlauben es jedoch, das Buch von Ulrich Schmid als äußerst informatives Nachschlagewerk zu nutzen. Wer also ein wirklicher Russlandversteher sein möchte, sollte es sich anschaffen!
    Buchinfos:
    Ulrich Schmid: "Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur", edition suhrkamp, Berlin 2015, 386 Seiten, Preis: 18,00 Euro