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Russland
"Die NATO wird nicht bedroht"

Der ehemalige Chef des Friedensforschungsinstituts SIPRI, Walther Stützle, beklagt eine "Entpolitisierung" der NATO. Obwohl das Bündnis nicht bedroht werde, verliere es sich bei seiner Strategie gegenüber Russland in militärischen Detailfragen, sagte er im DLF. Es gebe kein Anzeichen für einen Übergriff Russlands auf dem Baltikum.

Walther Stützle im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: David Cameron, Großbritanniens Premier, ist heute der Gastgeber des NATO-Gipfels. Vor einem Jahr war er schon einmal Gastgeber, nämlich des Weltwirtschaftsgipfels, und hat damals seine Gäste nach Loch Earn geschickt. Das liegt in Nordirland und der Gipfel dort sollte auch den Tourismus ankurbeln. Ähnliches schwebte Cameron vielleicht auch vor mit Newport in Wales. Dort beginnt heute der Gipfel der NATO. Aber die Staats- und Regierungschefs haben mit Sicherheit nur wenig Zeit, um sich die Naturschönheiten von Wales anzuschauen. Die Lage ist auch zu ernst.
    In Newport in Wales aus Anlass des NATO-Gipfels ist auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko zu Gast, haben wir gerade gehört. Das sei ein Zeichen von Solidarität, dass die NATO an die Ukraine senden will. Poroschenko trifft sich vor der NATO-Sitzung unter anderem mit US-Präsident Obama, Gastgeber Cameron oder auch Bundeskanzlerin Merkel zu einer Runde.
    Walther Stützle ist Publizist und ehemaliger Verteidigungsstaatssekretär der SPD, jetzt aus Berlin mir zugeschaltet. Guten Tag, Herr Stützle!
    Walther Stützle: Guten Tag, Herr Meurer!
    Meurer: Wichtigstes Thema beim NATO-Gipfel, um darauf wieder zu kommen, in Wales ist: Die NATO überlegt, dauerhaft Truppen im Baltikum oder in Polen zu stationieren. Soll sie das tun?
    Stützle: Was mich vor allen Dingen erschreckt an diesem NATO-Gipfel in Wales, ist die offenbar vollkommene Entpolitisierung der atlantischen Allianz und die totale Konzentrierung auf militärische Detailfragen. Es ist in der ganzen Diskussion vollkommen übersehen und vergessen, dass die NATO militärisch überhaupt nicht bedroht wird.
    Bedrohung für das Baltikum: "Keine Anzeichen in der russischen Politik"
    Meurer: Das sehen die Balten anders.
    Stützle: Das mildert nicht die Annexion der Krim, die völkerrechtswidrig ist, durch Putin. Das mildert nicht die Destabilisierungsversuche durch Russland in der Ukraine. Aber Tatsache ist, dass die NATO, das Gebiet der atlantischen Allianz militärisch nicht bedroht ist. Sie haben zu Recht eingeworfen, das sieht man in den baltischen Staaten anders - übrigens nicht nur dort, sondern auch in Polen -, und dies gehört zu den ganz großen politischen Enttäuschungen, dass diese neuen Mitglieder der atlantischen Allianz ihren neuen, historisch neuen Zustand einer perfekten Sicherheit, garantiert vor allen Dingen durch die Weltmacht der Vereinigten Staaten, aber auch durch die Bundesrepublik Deutschland, nicht dazu nutzen, eine Politik der Entspannung und der Verhandlungsbereitschaft zu befolgen, sondern sich ganz ergehen in militärischen Detailfragen.
    Meurer: Ist diese perfekte Sicherheit für das Baltikum eine Illusion?
    Stützle: Nein, das ist keine Illusion. Es gibt überhaupt keine Anzeichen in der russischen Politik, oder bei einzelnen russischen Politikern, dass sie so wahnsinnig sein könnten, ein Gebiet der atlantischen Allianz militärisch anzugreifen. Es gibt keinerlei Anzeichen. Es wird zwar ständig der Eindruck erweckt, aber der Eindruck ist durch keinerlei Tatsachen gedeckt.
    Meurer: Die Balten sagen, es gab auch keine Vorwarnung in Sachen Krim oder Ostukraine. Und weitere Argumentation: Wir brauchen jetzt Truppen, um im Fall der Fälle gewappnet zu sein. Was würden Sie den Balten antworten?
    Stützle: Die Balten haben eine Beistands- und Verteidigungsgarantie unter dem Artikel fünf des NATO-Vertrages, und es gibt nicht den geringsten Anlass, an der Gültigkeit und an der Wirksamkeit dieses Artikels zu zweifeln. Die Bundeskanzlerin hat das sehr klar und deutlich gesagt, und ich frage mich, warum der NATO-Generalsekretär sich nicht auch ein bisschen auf die Bundeskanzlerin stützt. Ich habe ein bisschen den Verdacht, dass er hier auch eine antideutsche Karte spielt. Diese Eröffnungserklärung, die Sie heute schon mehrfach zitiert haben in der Sendung, ist von einer völlig unangebrachten Schärfe und hat überhaupt nichts an Entspannungs- und Verhandlungsbereitschaft. Das heißt, es wird ein Kernprinzip der internationalen Politik vollkommen vernachlässigt.
    Dialog mit Russland: "Es wird ja nicht probiert!"
    Meurer: Ist die Frage, ob dem so ist, Herr Stützle. Kann man nicht Abschreckung und Dialog miteinander verbinden?
    Stützle: Ja, in der Tat und man muss das sogar miteinander verbinden. Im Moment wird ja nur noch über Abschreckung geredet und über militärische Detailfragen, aber über Verhandlungen wird überhaupt nicht geredet. Es ist vollkommen vergessen, dass die größten positiven politischen Veränderungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg durch Verhandlungen, durch Entspannungspolitik erreicht worden sind.
    Meurer: Und wenn Russland jeden Dialog sozusagen umgeht und Fakten schafft?
    Stützle: Wenn der Dialog nicht probiert wird, dann kann man auch nicht sagen, er hatte keinen Erfolg. Er wird ja nicht probiert! Es ist ja gar nicht erkennbar, dass Russland etwas angeboten wird, was es Russland möglich macht, aus der Ecke wieder rauszukommen, in die es sich selber manövriert hat.
    Meurer: Wie könnte das Angebot aussehen?
    Stützle: Die Angebote sind vielfach formuliert worden, nicht zuletzt von Henry Kissinger, der schon vor langer Zeit vorgeschlagen hat, es war ein gravierender Fehler, der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft anzubieten, und es muss eine Lösung gefunden werden, die jeglicher institutionellen Feindseligkeit gegenüber Russland entbehrt. Das waren seine Worte. Das heißt, es muss die Stabilisierung der Ukraine, der wirtschaftliche und politische Aufbau der Ukraine muss zu einem Gemeinschaftsprojekt gemacht werden, an dem auch Russland teilhaben muss.
    Woher nehmen "Bedrohungskünstler" ihre Informationen?
    Meurer: Herr Stützle, haben Sie keine Angst vor russischer Aggressionsbereitschaft und wachsendem Nationalismus?
    Stützle: Wer lange Zeit in Berlin gelebt hat - und ich habe als junger Mann schon mal im geteilten Berlin gelebt -, ich hatte keine Angst, weil ich - vielleicht nennen Sie das naiv - vertraut habe auf die Sicherheitsgarantie, wie die Vereinigten Staaten, aber auch die atlantische Allianz in einer damals ganz anders und viel schwereren Situation bedroht war, und ich sehe überhaupt nicht, woher jetzt die Bedrohungskünstler die Information nehmen, dass die atlantische Allianz, dass die NATO militärisch bedroht war.
    Meurer: Schönen Dank! - Das war Walther Stützle. Der Publizist und ehemalige Verteidigungsexperte plädiert dafür, auf Dialog mit Moskau zu setzen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.