Das Finale des Eurovision Song Contest 2014 in Kopenhagen. Conchita Wurst, eine Dragqueen aus Österreich, gewinnt. Sie tritt im Abendkleid und mit Bart auf. Sie siegt mit Abstand, mit einem der besten Ergebnisse in der Geschichte des Gesangswettbewerbs.
Moderator:
"Diese Nacht, diesen Abend widmet sie allen, die an Frieden und Freiheit glauben. Wir sind eine Einheit, das gilt für Europa, das gilt für alle Menschen, das ist ein schönes Wort von Conchita."
Das sahen in Russland viele Menschen anders. Zum Beispiel der Rechtspopulist Wladimir Schirinowskij, Abgeordneter der Staatsduma. In einer Talkshow im Staatsfernsehen wetterte er:
"Das ist das Ende Europas! Es ist verfault. Sie haben keine Männer und Frauen mehr. Sie haben nur noch "es". Europa hat Durchfall mit Blut und Schaum."
In Berlin trat in jenen Tagen Russlands Eisenbahnchef Wladimir Jakunin auf, ein enger Vertrauter Präsident Putins. Bei einer deutsch-russischen Dialogveranstaltung sprach er über die angebliche Bedrohung Europas durch die USA und davon, dass Europa seine ureigenen Werte verleugne und seine Identität verliere. Dann versuchte er es mit einem Witz.
"In Russland wurde eine Männerbewegung geboren. Ihr Motto lautet: Kerle, rasiert euch, lauft nicht wie Weiber herum."
Konservative Wende
Die Ausfälle der Politiker spiegeln nicht unbedingt die Meinung der russischen Bevölkerung. Die russischen Fernsehzuschauer haben Conchita Wurst immerhin mit fünf Punkten bedacht. Doch die staatlich gelenkten Medien legten nach. Dmitrij Kiseljow, Chef der Propagandaagentur "Russland heute", blendete in seiner populären wöchentlichen Fernsehsendung "Vesti Nedeli" ein Foto der Musikerin ein und fragte:
"Hat die Europäische Union sich nicht schon vor Jahren von jeglicher Norm verabschiedet? Erst haben sie die christlichen Normen, auf denen Europa gründet, aus dem Alltag entfernt. Dann haben sie begonnen, die Normen der traditionellen Familie in Frage zu stellen. Neue Normen erscheinen fast mit Lichtgeschwindigkeit. Wo soll das enden, wenn alle Normen in Frage gestellt werden?"
Dies sind keineswegs persönliche Äußerungen einzelner. In Russland ist derzeit eine konservative Wende zu beobachten, die weite Kreise der Elite erfasst hat. Die öffentliche Debatte darüber löste Präsident Wladimir Putin aus, in einer Rede zur Lage der Nation am 12. Dezember 2013.
Anlass für die Rede war der 20. Jahrestag der russischen Verfassung. Putin sprach von Russlands Anspruch auf eine Führungsrolle in der Welt. Und er begründete das mit den Werten, die das Land vertrete.
"Die Welt entwickelt sich immer widersprüchlicher und dynamischer. Unter diesen Bedingungen wächst die historische Verantwortung Russlands. Nicht nur als einer der wichtigsten Garanten globaler und regionaler Stabilität, sondern als Staat, der konsequent seine Werte verteidigt. Wir wissen, dass immer mehr Menschen in der Welt unsere Position teilen, traditionelle Werte zu verteidigen, die über Jahrtausende die geistige und moralische Grundlage der Zivilisation gelegt haben: Die traditionelle Familie, ursprüngliches menschliches Leben, religiöses Leben, das nicht nur auf materiellen Werten beruht, sondern auch auf geistigen, auf Humanismus und Vielfalt. Natürlich ist das eine konservative Haltung. Aber, um mit Nikolaj Berdjajew zu sprechen: Der Sinn des Konservatismus besteht nicht darin, die Bewegung nach vorne und nach oben zu bremsen, sondern die Bewegung nach hinten und nach unten zu verhindern, zu chaotischer Finsternis und der Urgesellschaft."
Nikolaj Berdjajew war ein religiöser russischer Philosoph. Das Zitat stammt aus seinem Buch "Philosophie der Ungleichheit", geschrieben 1918, unter dem Eindruck der Revolution.
Wie die kremlnahe Zeitung "Izvestija" berichtete, wurde Berdjajews "Philosophie der Ungleichheit" Pflichtlektüre für die Mitarbeiter der Präsidialadministration.
Lew Gudkow leitet das Levada-Institut in Moskau. Es hat sich in vielen Umfragen damit beschäftigt, woran die Russen glauben, welche Werte ihnen wichtig sind. Gudkow spricht von einem, Zitat, "eklektischen Brei", den die Elite dem Volk unterbreite. Er enthält konservative Elemente ebenso wie imperialistische, nationalistische, traditionalistische. Gudkow:
"Da entstehen ideologische Fantasiegebilde der Art, dass Europa die christliche Moral und seine traditionellen Werte verloren habe und Russland diese bewahrt. Dahinter stehen nichts weiter als ein Verteidigungsreflex und ein Minderwertigkeitskomplex. Das sind künstliche Ideengebilde, die in aller Eile zusammengeschustert sind und viele Widersprüche enthalten."
Und die in Russland ein breites Publikum ansprechen. Wegbereiter der neuen Quasi-Ideologie ist unter anderem die russisch-orthodoxe Kirche. Deren Oberhaupt, Patriarch Kirill, ist dem Präsidenten eng verbunden. Er hat Putin unter anderem im Wahlkampf unterstützt.
Bereits im Jahr 2005 trafen sich Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, Politiker, Geschäftsleute, Journalisten und konservative Ideologen auf der griechischen Insel Korfu. Sie gedachten der Befreiung der Insel von ausländischen Besatzern durch russisches Militär im Jahr 1799. Und sie stellten eine "russische Doktrin" vor.
Das Dokument stellt die russische Nation in den Mittelpunkt. Da ist vom starken und einzigartigen russischen Staat die Rede und von der notwendigen Verbindung von Demokratie und Autokratie. In einer Zusammenfassung heißt es:
"Der zeitgenössische Westen ist eine Gemeinschaft von Individuen, die einander an nichts hindern, die aber versuchen, anderen Nationen ihren Stil aufzuzwingen. Russland dagegen ist ein Land, in dem ein neues ethisches System entsteht: Der Hass auf das Böse, die Verteidigung von Idealen. Das Ideal besteht darin, gemeinsam dem Bösen, der Barbarei, den Plünderern zu widerstehen."
2012 kam es zu einem erneuten Treffen von konservativen Politikern, Wissenschaftlern, Publizisten und Geistlichen. Diesmal in Izborsk, einem Dorf im Nordwesten Russlands. Der Ort beging seine 1150-Jahr-Feier. Aus dem Anlass gründeten die Angereisten den "Izborskij Klub". Im Internet firmiert er auch unter dem Namen "Institut für dynamischen Konservatismus". Der Webauftritt ist in schwarz-gelb-weiß gehalten, den Farben der russischen Nationalisten und Monarchisten. Die auf Korfu diskutierte "russische Doktrin" wird auf der Seite als wichtiges Dokument geführt. Einer der Mitgründer und Wortführer des Clubs von Izborsk ist Alexander Dugin, Jahrgang 1962, Philosoph, Gründer der nationalistischen "Eurasischen Bewegung", Professor an der staatlichen Lomonosov-Universität. Dugin ist derzeit viel beschäftigt, für ein Interview habe er keine Zeit, sagt er. In seinen Vorträgen verbreitet er allerlei Unsinn über den Westen.
"Was bedeuten Freiheit und Demokratie in den Debatten im Westen, in Europa? Wenn ein linker Liberaler mit einem rechten Liberalen streitet. Sobald jemand nicht liberal ist, gilt er als Faschist, Kommunist und wird abgeholt. Er wird nicht nur von Debatten ausgeschlossen, er gilt nicht mal als Mensch. In Europa gibt es diverse Gesetze gegen Links- und Rechtsextremismus und gegen Politische Unkorrektheit. Wenn ein Kind seine Mama "Mama" nennt, droht ihm eine Jugendstrafe, denn es heißt: "einer meiner Eltern". Mama gilt als Sexismus. Es gibt harte Gesetze, die die Normen der politischen Korrektheit festlegen – so wie sie die Liberalen verstehen."
Die Bedeutung Dugins ist umstritten. Der Soziologe Lew Gudkow weiß aus Umfragen, dass der Mann in der Bevölkerung kaum bekannt ist. Andererseits ist Dugin Mitglied im Expertenrat des Vorsitzenden der Staatsduma. Und er hat an der Akademie für Staatsbeamte sowie an der Hochschule des Außenministeriums gelehrt. Lew Gudkow:
Dieser Einfluss war sehr zielgerichtet und sehr wichtig. Mit der Zeit hat Dugin einen Teil der großen und der mittleren Bürokratie in Putins Umfeld verstrahlt. Nicht die Spitze, aber die Kreise um die Elite herum.
Zu den zentralen Figuren des Izborskij Klub gehört auch Aleksandr Prochanow, ein linksnationaler Publizist. Prochanow ist vielen Russen aus dem Staatsfernsehen bekannt. Dort hat er eine wöchentliche Kolumne. Im Frühjahr erklärte er dem Publikum, weshalb der Westen Russland so sehr hasse.
"In der russischen Seele, im russischen Bewusstsein lebt der entzückende Traum von einem idealen Dasein, in dem das Gute herrscht, Liebe, Sanftmut, in dem es keine Gewalt gibt, in dem nicht einer über alle herrscht, sondern göttliche, paradiesische Gerechtigkeit. Russland versucht ständig, diese Gerechtigkeit in die Praxis umzusetzen. Wegen dieses Traums akzeptiert der Westen Russland nicht. Denn dieser Traum ist eine ständige Anklage für den Westen, die er nicht ertragen kann."
"Wir sind nicht Europa"
Denn im Westen, so Prochanow, herrschten der Dollar, der Mammon, das goldene Kalb, die Zinsen. Zum Izborskij Klub gehört auch der Publizist Maksim Schewtschenko. Er ist nicht nur regelmäßiger Gast in den Fernsehstudios, sondern hat auch eine Kolumne bei dem kremlkritischen Radiosender Echo Moskwy. Schewtschenko spricht von "liberalem Faschismus". Russland könne nicht liberal sein.
"Das würde den Geist unseres Volkes zerstören und die Freiheit des Volkes. Der moderne westliche Neoliberalismus ist die Vorherrschaft des Spekulationskapitals. So etwas will ich hier nicht haben. Je schneller Europa versteht, dass wir nicht Europa sind, desto besser. Wir sind Russland. Wir lieben Europa, wir lieben die europäische Kultur. Wir sind gern in Europa, wir handeln gern mit ihnen und wir freuen uns, wenn wir Europäer sehen. Aber wir sind nicht Europa."
Derartige Thesen schlagen sich mittlerweile auch im Regierungshandeln nieder. Kulturminister Wladimir Medinskij ist mehrmals bei Treffen des "Izborskij Klub" aufgetreten. Wie das Nachrichtenportal "lenta" berichtete, lobte er den Zirkel als "nützliche Plattform für die Entwicklung politischer Ideen". Im Frühjahr veröffentlichte sein Ministerium Vorschläge für einen Leitfaden staatlicher Kulturpolitik. Auch darin heißt es, Russland sei nicht Europa. Medinskij schlug vor, auf sogenannte "liberal-westliche" Ansätze, auf Multikulturalismus und Toleranz zu verzichten und nur noch solche Kultur zu fördern, die dem Wertesystem des russischen Staates entspreche.
Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Protest insbesondere der westlichen Staaten gegen Russlands Vorgehen hat sich der Akzent auf das "Russische" in der Rhetorik noch einmal deutlich verstärkt. Das betrifft auch Präsident Putin. Bis zum Frühjahr hatte er, wenn er von der Bevölkerung sprach, stets das Wort "rossijskij" verwendet.
Es leitet sich vom Staatsnamen "Rossija" ab und bezeichnet die Staatsangehörigkeit, nicht die Nationalität. In seiner Rede zur Krim-Annexion hingegen benutzte Putin auffallend häufig das Wort "russkij". Es zielt auf die ethnische Zugehörigkeit. Dazu kam der Begriff der "russischen Welt". Und auch da sprach Putin über angebliche Werte. In einer Fernsehsprechstunde im Frühjahr antwortete er auf die Frage, was einen Russen auszeichne:
"Worauf beruht unsere Besonderheit? Meiner Meinung nach auf Werten. Ein Russe, oder breiter formuliert, ein Mensch der russischen Welt, denkt vor allem daran, dass es eine höhere moralische Vorbestimmung des Menschen gibt. Im Westen konzentriert sich der Mensch auf sich selbst und seinen persönlichen Erfolg. Uns reicht das nicht. Bei uns fragen sich selbst sehr reiche Leute, nachdem sie Milliarden verdient haben: Und jetzt? Wir sind weniger pragmatisch und berechnend als Vertreter anderer Völker, dafür weiter in der Seele, großzügiger."
Mit der Wende zum Nationalismus gewinnt Putin Anhänger bei den europäischen Rechten. Da ist zum Beispiel der französische Front National mit Marine Le Pen an der Spitze. Le Pen bewundert Putin für dessen Durchsetzungsfähigkeit und hat erklärt, sie wünsche sich manchmal, in Frankreich würde einiges auch so laufen wie in Russland. Nach ihrem guten Abschneiden bei der Europawahl feierte das russische Staatsfernsehen sie als mögliche nächste Präsidentin Frankreichs. Die Kamera zeigte das Büro Le Pens voller russischer Souvenirs.
"Den Souvenirs nach zu urteilen, ist Russland für Marine nicht einfach nur ein Partner, sondern ein Freund. In der internationalen Politik schaut Le Pen seit langem nach Osten, nicht nach Westen."
Die europäische Rechte und die Elite Russlands eint ihre Ablehnung der EU. Sie eint ihr Antiamerikanismus und die Auffassung, dass Völker nebeneinander, nicht miteinander leben sollen. Der Kreml nutzt solche Allianzen. Zu dem international umstrittenen Referendum auf der Krim über den Beitritt zu Russland reisten Parlamentarier rechtspopulistischer Parteien als sogenannte Wahlbeobachter auf die Halbinsel. Sie bescheinigten den Russen, alles sei mit rechten Dingen zugegangen.
Nun hofft man in Moskau auch im Kampf um die Ostukraine auf Unterstützung der europäischen Rechten. Kürzlich fand im Pressezentrum der staatlichen Propagandaagentur "Russland heute" eine Diskussion über die Zukunft des Donbass statt. Iosif Diskin, in der Gesellschaftskammer beim Präsidenten zuständig für Verbindungen mit der Zivilgesellschaft, rief dort zu einer europaweiten Hilfskampagne für den Donbass auf.
"Wir brauchen eine europaweite Kampagne, bei denen jene, die die echten europäischen Werte schätzen, für diejenigen eintreten, die diese europäischen Werte verteidigen."
In Russland ist man der Meinung, in Kiew seien Faschisten an der Macht, die, aufgestachelt und unterstützt von den USA, die europäische Zivilisation wie im Dritten Reich ausmerzen wollten. Russland und die Separatisten in der Ostukraine gelten hingegen als die Bewahrer der Zivilisation. Diskin weiter:
"Die Amerikaner und die Führung der Ukraine müssen die Solidarität jener zu spüren bekommen, die das echte Europa verteidigen. Ich höre schon oft, dass sich in Europa heute eine Putinsche Internationale bildet. Es reicht, wenn das erst mal ein, zwei, fünf, zehn europäische Abgeordnete sind."
Die USA gelten in Russland derzeit als Feind Nummer eins. Das hindert Russlands Elite jedoch nicht daran, auch in Amerika Gleichgesinnte zu suchen. Das funktioniert unter anderem über den "Weltkongress der Familien". Er sollte diesen September in Moskau stattfinden. Das Motto: "Jedes Kind ein Geschenk. Große Familien, die Zukunft der Menschheit".
Der Kongress sollte pompös werden: Eröffnungssitzung im Kremlpalast, Sondersitzung in der Staatsduma, Abschlussfeier in der Christ-Erlöser-Kathedrale. 5000 Delegierte wollten kommen. Der Kongress wurde von einem internationalen Planungskomitee vorbereitet. Ihm gehörte auf russischer Seite Eisenbahnchef Wladimir Jakunin an, jener Mann, der in Berlin den schlechten Witz über Conchita Wurst machte.
Auf amerikanischer Seite zählte zum Beispiel Jack Hanick dazu, ein ehemaliger Mitarbeiter des konservativen amerikanischen Nachrichtensenders Fox News. Im vergangenen Sommer sprach er bei einem Runden Tisch in Moskau. Das Fernsehen übertrug und übersetzte:
"Die Zeit ist gekommen, traditionelle Werte zu verteidigen. Dieses Land ist von Gott ausgewählt, diese Rolle zu spielen."
Mittlerweile ist der Kongress der Familien in Moskau abgesagt, aber nicht etwa wegen des aggressiven Vorgehens Russlands in der Ukraine, sondern weil, wie es auf der Website des Kongresses heißt, die Situation in der Ukraine und auf der Krim und die daraus resultierenden Sanktionen die Anreise und die logistischen Planungen erschwerten.
Bleibt die Frage: Warum setzen Präsident Putin und seine Umgebung so stark auf traditionalistische, nationalistische Werte? Weshalb die Ablehnung von nahezu allem, was in Europa und den USA zum Wertekonsens gehört? Der Soziologe Lew Gudkow meint, die Machthaber versuchten damit, ihre Reformverweigerung pseudointellektuell zu untermauern.
"Bekanntermaßen interessieren sich autoritäre Regime für den Selbsterhalt und für Bereicherung. Sie lehnen jede Art von Reformideen ab. Deshalb wurde die Ideologie allgemeiner menschlicher Werte, das, was unter Gorbatschow und teils noch unter Jelzin galt, der Aufbau von Demokratie, ausgetauscht gegen eine Ideologie, die nationale Traditionen propagiert, die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln, zu fiktiven nationalen Traditionen."
Gudkow glaubt nicht, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung die extrem konservativen Werte und den antieuropäischen Kurs teilt. Er glaubt aber auch nicht, dass die Menschen sich dagegen wehren werden.