Nach der Explosion und der Beschädigung der Krim-Brücke hat Russlands Präsident Wladimir Putin zivile Ziele in ukrainischen Städten mit Raketen angreifen lassen – Terrorangriffe auf die Infrastruktur und gegen die Zivilbevölkerung mit äußerst begrenztem militärischen Nutzen.
Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Russland und Sicherheitspolitik von der Universität Innsbruck, sieht darin eine neue Eskalationsstufe, die er auch auf einen immer größeren Handlungsdruck zurückführt, unter dem Putin stehe. Der russische Präsident werde innerhalb der Elite gedrängt, eine Antwort auf die Niederlagen der russischen Armee auf dem Schlachtfeld zu finden. Er müsse demonstrieren, dass Russland fähig ist, der Ukraine herbe Schäden zuzufügen. So forderten etwa der tschetschenische Präsidenten Ramsan Kadyrow oder der Gründer der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin eine harte Reaktion. Putin habe bei der Sitzung des Sicherheitsrates angekündigt, auf weitere Angriffe der Ukraine noch härtere Antworten zu geben - und sich damit selbst in eine Eskalationsspirale begeben. Denn es sei kaum damit zu rechnen, dass die Ukraine sich abschrecken lasse.
Möglich sind nach Mangotts Einschätzung weitere Bombardements durch Kurzstreckenraketen, durch Marschflugkörper auf weitere infrastrukturelle Ziele wie Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Fernmeldeeinrichtungen. Doch wenn es der Ukraine gelinge, weiteres Territorium zu gewinnen und Russland bis an den Rand einer katastrophalen Niederlage zu fahren, dann bleibe letztlich immer noch die nukleare Eskalation, die er Putin in seiner Kaltblütigkeit auch zutraue, so der Politologe.
Der Westen stehe nun vor der Frage, wie er auf die Eskalation reagiere – und sei dabei weniger einig als nach außen hin demonstriert werde. Eine Position sei, die Kriegsziele etwas minimalistischer zu definieren und nicht zuzusagen, die Ukraine zu unterstützen, bis alle russischen Truppen von der Ukraine entfernt sind, inklusive der Krim. Andere sagten jedoch, die Ukraine müsse noch stärker unterstützt werden und man dürfe sich nicht durch nukleare Drohungen erpressen lassen.
Mangott selbst hält verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine für sinnvoll, weil es derzeit auf beiden Seiten keine Bereitschaft zu Verhandlungen gebe. Die Ukraine müsse soweit militärisch gestärkt werden, bis Russland sich auf Verhandlungen einlassen müsse.
Das Interview in voller Länge
Philipp May: Ist das eine neue Eskalationsstufe, die Putin da zündet?
Gerhard Mangott: Zweifellos und eine, die entstanden ist aus einem immer größer werdenden Handlungsdruck auf Wladimir Putin. Gerade die nationalistische Rechte, aber auch die Falken im Militär und im Geheimdienst haben Putin in den letzten Wochen immer stärker dazu gedrängt, hier eine klare Antwort zu geben auf die militärischen Niederlagen der russischen Armee auf dem Schlachtfeld und zuletzt auf den Anschlag auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch. Er musste etwas tun. Er musste demonstrieren, dass Russland fähig ist, der Ukraine herbe Schäden zuzufügen. Er wurde ja auch dazu aufgefordert, etwa vom tschetschenischen Präsidenten Kadyrow oder vom Gründer der Wagner-Gruppe Prigoschin. Sie alle wollten jetzt eine harte Reaktion. Es wurde formuliert, die Ukraine scheint, uns nicht mehr zu fürchten, das müssen wir ändern, und unter diesem Handlungsdruck sind nun von Putin diese Angriffe angeordnet worden.
"Putin hat sich in eigene Eskalationsspirale hineinbegeben"
May: Aber der Handlungsdruck auf Putin wird ja nicht nachlassen. Was wird da jetzt noch kommen? Will Putin aus Kiew und anderen Städten jetzt ein zweites Grozny machen, oder was müssen wir befürchten?
Mangott: Putin hat bei der Sitzung des Sicherheitsrates gestern gesagt, wenn die Ukraine weiter angreifen sollte, dann wird es noch härtere Antworten geben. Das heißt, er hat sich eigentlich ein Stück weit unter Zugzwang gebracht, denn es ist natürlich davon auszugehen, dass die ukrainische Armee sich jetzt nicht abschrecken lässt, weitere Offensiven durchzuführen und weiter Angriffe auf ein Territorium durchzuführen, das zumindest nach russischer Lesart russisches Territorium ist. Das heißt: Wenn das passiert, was sehr, sehr wahrscheinlich ist, dann muss Putin tatsächlich erneut antworten und härter antworten. Er hat sich da in eine eigene Eskalationsspirale hineinbegeben. Das war nicht unbedingt ein kluger Schritt. Aber ich habe den Eindruck, Putin ist auch nicht mehr völlig frei in seinen Entscheidungen und in seinen Handlungen, sondern er wird innerhalb der Elite von einem bestimmten Lager auch massiv unter Druck gesetzt.
May: Welche Eskalationsmöglichkeiten hat er denn noch, jenseits von Atomwaffen?
Mangott: Es sind weitere Bombardements durch Kurzstreckenraketen, durch Marschflugkörper möglich auf weitere infrastrukturelle Ziele, Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Fernmeldeeinrichtungen. Ich glaube, das kann natürlich noch ausgeweitet werden. Auch das, was wieder repariert wurde von ukrainischer Seite, kann durch die russische Seite neu zerstört werden. Insbesondere vor dem Hintergrund des jetzt einsetzenden Winters ist das auch eine Terrorstrategie gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Diese Angriffe sollten sicherlich auch signalisieren, dass die Ukraine vielleicht Fortschritte an der Frontlinie macht, aber dass die gesamte Ukraine nicht sicher ist vor russischen Angriffen. Diese Terrorstrategie war sicherlich auch ein Ziel dieser gestrigen militärischen Operationen.
Drohender Atomkrieg? - "Nukleare Eskalation traue ich Putin zu"
May: Wir haben es aber jetzt auch im Beitrag gehört: In der Ukraine scheint er damit eher das Gegenteil zu bewirken. Die Entschlossenheit und die Geschlossenheit der Zivilbevölkerung gegenüber Russland wird damit eher noch härter und größer. Wie weit wird das am Ende gehen?
Mangott: Ich denke, Putin will diesen Krieg nicht verlieren und er darf diesen Krieg nicht verlieren, weil das vermutlich auch das Ende seiner Präsidentenamtszeit bedeutet. Das heißt: Wenn die Ukraine in der Lage sein sollte, mit jetzt noch komplexeren und moderneren Waffen, die jetzt zu liefern versprochen wurden, wenn die Ukraine es schafft, noch weiteres Territorium Russlands zu erobern und Russland bis an den Rand einer katastrophalen Niederlage zu fahren, dann bleibt letztlich immer noch die nukleare Eskalation, die ich Putin in seiner Kaltblütigkeit auch zutraue. Das ist etwas, was jetzt nicht sicher, was nicht definitiv ist, aber es ist etwas, das möglich ist und zunehmend wahrscheinlich wird, falls Russland in die Defensive gerät, falls Russland sogar befürchten muss, die Krim zurückzuverlieren an die ukrainische Seite.
"Durchaus unterschiedliche Abwägungen im Westen"
May: Wie soll der Westen reagieren?
Mangott: Für den Westen gibt es, glaube ich, zwei Positionen, zwischen denen die Regierungen abwägen. Die eine Position ist die, die sagt, wir sehen, dass der Krieg immer weiter eskaliert, immer brutaler wird, vielleicht sogar nuklear eskalieren könnte, und weil wir eine solche Eskalation fürchten, weil wir sie nicht kontrollieren können, wohin sie sich entwickelt, sollten wir die Kriegsziele der Ukraine in der Ukraine etwas minimalistischer definieren, jedenfalls nicht so weit gehen zu sagen, wir unterstützen die Ukraine, bis alle russischen Truppen von der Ukraine entfernt sind, inklusive der Krim.
Die anderen sagen, nein, wir müssen jetzt ganz im Gegenteil die Ukraine noch stärker unterstützen. Wir sollen uns durch nukleare Drohungen nicht erpressen lassen. Da könnte ja jeder Nuklearstaat sich Territorium aneignen und es würde nichts passieren, weil er dann mit Nuklearwaffen droht. – Zwischen diesen beiden Abwägungen und Erwägungen müssen Regierungen entscheiden, Güterabwägungen treffen, und ich glaube, dass hinter der Einheit des Westens nach außen innerhalb des Westens hinter verschlossenen Türen doch durchaus unterschiedliche Gewichtungen und Abwägungen erfolgen oder schon erfolgt sind.
Noch keine Bereitschaft zu Verhandlungen auf beiden Seiten
May: Wenn Sie auch jenseits dieser verschlossenen Türen sitzen würden – Sie wären jetzt Sicherheitsberater von Joe Biden -, welche Güterabwägung würden Sie treffen?
Mangott: Ich denke, ich würde gerade in dieser Situation die Waffenlieferungen an die Ukraine verstärken, weil es im Augenblick jedenfalls so ist, dass ein alternativer Entwurf, nämlich über Verhandlungen zu versuchen, diese Krise, diesen Krieg zu lösen, eigentlich versperrt ist, weil es keine Bereitschaft zu Verhandlungen gibt, weil beide Seiten noch immer der Ansicht sind, sie können militärisch auf dem Schlachtfeld Erfolge erringen, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern, und weil dieser Verhandlungsweg weitestgehend verschlossen ist, ist wohl die richtige Reaktion, die Ukraine militärisch zu stärken, um sie so weit zu kräftigen, dass Russland sich auf Verhandlungen einlassen muss.
May: Jetzt hat US-Präsident Biden und auch Deutschlands Verteidigungsministerin Christine Lambrecht weitere Waffenlieferungen zugesagt, vor allem Flugabwehrsysteme, um auch die Städte jetzt vor weiterem Raketenangriff zu schützen. Kommt das wieder zu spät?
Mangott: Das kommt sehr spät, denn es gab ja solche Angriffe auf zivile Infrastruktur, auch auf Wohngebäude schon seit Beginn dieses Krieges, und es war klar, dass das für die russische Seite deshalb so leicht möglich ist, weil es keine funktionierende Luftabwehr gibt. Das zu unterbinden und damit auch Zivilisten zu schützen, hätte man frühzeitig erreichen können durch die Überreichung von Luftabwehrsystemen. Es ist gut, dass jetzt darüber nachgedacht wird und gehandelt wird, aber es kommt relativ spät. Es wird aber trotzdem schwierig sein für die ukrainische Seite, sich völlig zu immunisieren gegen solche Angriffe der russischen Seite, wie wir sie gestern gesehen haben.
"Ich sehe im Moment keine Exit-Strategie"
May: Eine Diskussion, die es im Prinzip seit Kriegsbeginn gibt, seitdem klar ist, dass es für Russland sehr schwer werden wird, ist: Muss Putin ein Ausweg bereitgestellt werden vom Westen, dass er nicht in die Enge gedrängt wird, um am Ende möglicherweise die nukleare Option zu ziehen? Wie sehen Sie das?
Mangott: Natürlich ist im Sinne der Eskalationsvermeidung, schon gar einer nuklearen Eskalation, es immer geboten auszuloten, welche Möglichkeiten es gäbe, dass Putin aus diesem Krieg herauskommt mit einer gesichtswahrenden Lösung, die es ihm erlaubt, auch diesen Krieg politisch zu überleben. Allerdings sehe ich im Augenblick überhaupt keine solche sogenannte Offramp, so eine Exit-Strategie, so einen Ausweg. Putin ist fix entschlossen, die Gebiete, die er jetzt annektiert hat, auch militärisch zu halten. Da ist nicht denkbar, was ein solcher Ausweg, ein diplomatischer Ausweg sein könnte. Das heißt: Bemühen darum ja, Sondierung, was das sein könnte, jedenfalls. Aber ich gebe dem im Augenblick keine große Chance.
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