Die ersten russischen Worte hat Margareta Mommsen von der Roten Armee gelernt. Die Soldaten kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Horn, eine Kleinstadt in Niederösterreich, in der Mommsen 1938 geboren wurde.
Später war es dann das Forschungsinteresse, das die Politikwissenschaftlerin nach Osten blicken ließ. Ihr Arbeitsschwerpunkt: das politische System der Sowjetunion und Russlands. Nach einem Ruf an die Universität München übernahm Margareta Mommsen Anfang der 1990er-Jahre eine Professur für Politikwissenschaften, die sie bis 2003 innehatte.
Verheiratet war sie mit Hans Mommsen, einem der bekanntesten deutschen Nachkriegshistoriker. Bis heute arbeitet und forscht Margareta Mommsen zu Russland. Sie hält Vorträge, schreibt Aufsätze und Bücher über ein Land, dessen politische Führung polarisiert und viele Fragen aufwirft.
Eine Kindheit und Jugend im Nachkriegsösterreich
Frederik Rother: Die erste Begegnung mit Russland oder damals noch mit der Sowjetunion, die hatten Sie ja recht früh als Mädchen und Jugendliche in Niederösterreich. Was waren das für Begegnungen?
Margareta Mommsen: Ich war ein Kind von knapp sieben Jahren, und das war 1945. Ich war in Niederösterreich, da bin ich geboren, zu Hause, und der Krieg war gerade zu Ende. Nur Stunden nach dem Waffenstillstand klopften die ersten sowjetischen Soldaten an unsere Türen und Fenster. Ja, das war Besatzungszeit, die fing an. Wir reden darüber – wir, das sind meine Geschwister, meine Schulkameraden – über die Russenzeit. Die hat ja gedauert bis 1955 bis zum Staatsvertrag. Das war für uns Kinder natürlich eine sehr aufregende Zeit, ein Happening, und wir haben russische Soldaten gut kennengelernt und insgesamt, meine Geschwister, meine Schulkameraden, haben kein negatives Bild aus dieser Zeit.
Rother: Ich meine, man hörte ja auch andere Geschichten, von Vergewaltigungen in den Nachkriegstagen, und es waren ja auch die Sieger, die da kamen.
Mommsen: Also, das haben wir Kinder auch gehört, ich konnte mir unter Vergewaltigung nichts vorstellen, unsere Mutter ist nicht vergewaltigt worden, aber man hörte ständig solche Geschichten, natürlich. Es war sehr turbulent, wir wurden x-mal ausquartiert, mussten andere Wohnungen beziehen. Es war schon eine ganz besondere Zeit, das ist richtig. Und diese russischen Soldaten, die Sowjetsoldaten, hatten auch ihre Militärküche gleich neben unserem Haus, also, man hat sehr viel mitbekommen, es war sehr aufregend.
Rother: Wie sah denn Ihr Alltag aus damals im Österreich der Nachkriegszeit? Das Land war ja auch geteilt in vier Besatzungszonen.
Mommsen: Na ja, ich ging zur Schule, und man war daran gewöhnt, dass in der Kleinstadt, aus der ich komme, in Horn, mitten im Ort eine Commandantura war, und es war irgendwie für uns Kinder eine Selbstverständlichkeit, die man nicht hinterfragt hat.
"Ich war ja nicht die Einzige, deren Vater gefallen ist"
Rother: Und wie war der Alltag ohne den Vater? Der ist gefallen an der Westfront.
Mommsen: Ja, wissen Sie, das war eigentlich in meiner Klasse der Normalfall. Ich war ja nicht die Einzige, deren Vater gefallen ist. Das war alles sozusagen irgendwie selbstverständlich, darüber habe ich jedenfalls zu dem Zeitpunkt nicht reflektiert.
Rother: Und alles in allem waren es auch, wie Sie schon gesagt haben, positive Begegnungen mit den Russen.
Mommsen: Von den Menschen absolut positiv.
Rother: Ist Ihnen da was in Erinnerung geblieben besonders?
Mommsen: Na, ich hab meine ersten russischen Wörter gelernt, "stoi", "idi suda", das heißt stehen bleiben, herkommen, also das ist mir noch ganz lebhaft in Erinnerung. Wir hatten leider in der Schule oder Gott sei Dank, wir hatten dann Freifach Russisch, aber keine guten Lehrer. Aber ich bin der Sprache immer treu geblieben, ich hab mich immer für Sprachen überhaupt interessiert, und das war ein ganz wesentlicher Faktor, dass ich da mich dann später auch eben in das Thema Geschichte, politisches System Russlands hineingekniet habe.
Rother: Und waren diese Begegnungen auch ein wesentlicher Faktor für Ihr Interesse an Osteuropa?
Mommsen: Wahrscheinlich, das hat sicherlich Nachwirkungen gehabt, ganz bestimmt, ja. Also Osteuropa, ja, das war eben damals die sozialistische Zeit.
Die Ehe mit Hans Mommsen und der Weg in die Wissenschaft
Rother: Wenn wir auf Ihr Studium schauen in den späten 50ern und Anfang der 60er-Jahre, das war ein Studium der Politikwissenschaften, aber in Brüssel, weit weg von zu Hause, weit weg von Österreich. Das ist doch ungewöhnlich in dieser Zeit, wie kam es dazu?
Mommsen: Ja, das hatte ich mir so nicht ausgesucht, aber es war ja eigentlich klar für uns vier Kinder, dass man möglichst bald irgendwie Geld verdiente, berufstätig wurde. Ich hab, wie gesagt, immer gerne Sprachen gelernt. Ich war dann nach der Matura, wie man in Österreich das Abitur nennt, in Wien, beschäftigt in einem Büro und hab eifrig Sprachen weitergelernt – Französisch. Und in der Nachkriegszeit, das ist vielleicht nicht ganz unwichtig, 1948 und 49, wurde ich Caritas-Kinderland verschickt, bin ich Belgien gelandet, in Antwerpen, also im flämischen Teil Belgiens. Und als ich dann im Büro war in Wien und eifrig Französisch lernte, hörte ich im Französischkurs, da wird beim österreichischen Handelsdelegierten in Brüssel eine Kraft gesucht, eine Bürokraft, mit Französischkenntnissen. Und da hab ich mich selbst dazu auserkoren gefunden, denn ich konnte ja nicht nur Französisch, sondern auch Flämisch, also die zweite belgische Sprache. Hochniederländisch hab ich in der Schule gelernt. Ich glaube, ich würde heute mich noch prima im Antwerpener Dialekt da unterhalten können. Ja, und so ist das dann weitergegangen, bin ich in Brüssel gewesen.
Rother: Das heißt, die Stelle haben Sie bekommen beim Handelsdelegierten?
Mommsen: Die Stelle hab ich bekommen, und dann war ich ja in dem Alter, Anfang 20, wo ich dachte, ich möchte ja eigentlich studieren. Das musste ich mir natürlich organisieren und finanzieren. Und da hatte ich gearbeitet, 45-Stunden-Woche, beim österreichischen Handelsdelegierten und habe nebenher, aber natürlich ganz normal ein Studium der Science politique et diplomatique an der ULB – die Freie Universität Brüssel ist das, im Unterschied zur katholischen Universität in Leuven – studiert, bin zu den Prüfungen gegangen, habe die abgelegt, und insofern habe ich dann mein Studium abgeschlossen, neben dem Fulltime-Job. Ja, das waren meine heroischen Zeiten.
"Bin dem Russisch-Unterricht immer treu geblieben"
Rother: Wieso heroisch?
Mommsen: Na ja, da musste man sich schon gut organisieren, konzentrieren, wie man neben einer 45-Stunden-Woche im Büro dann eben noch ein volles Studium irgendwie hinkriegt.
Rother: Haben Sie während des Studiums auch schon den Schwerpunkt Russland gelegt und gemerkt, da ist was, was mich interessiert?
Mommsen: Nein, noch nicht Russland, aber halt die klassischen Fächer der Politikwissenschaften, Theorie, internationale Politik, politische Systeme, das hat mich mehr interessiert als das andere. Ich hab, wie gesagt, immer gerne Sprachen gelernt, bin dem Russisch-Unterricht, irgendwie privat organisiert, immer treu geblieben, und so kam das zusammen – und dann irgendwann, genau, Sowjetunion, Osteuropa.
Rother: Der Beginn einer wissenschaftlichen Karriere. Dazu kommen wir natürlich auch gleich noch mal zu sprechen. Ich würde gerne noch mal auf Ihren späteren Ehemann, Hans Mommsen, zu sprechen kommen. Sie haben sich in den 60er-Jahren kennengelernt, Hans Mommsen damals aufstrebender Wissenschaftler, später auch einer der bekanntesten deutschen Nachkriegshistoriker. Wo und wie war das, wie sind Sie sich zum ersten Mal begegnet?
Mommsen: Wir sind uns in Heidelberg zum ersten Mal begegnet. Da war eine Konferenz, und da hat mich mein belgischer Doktorvater von der Universität Brüssel auf die Liste gesetzt der belgischen Teilnehmer und mich dazu motiviert, ich soll da teilnehmen, an dieser Konferenz. Das war an der Universität in Heidelberg, da waren sehr interessante Leute – Thomas Nipperdey, Böckenförde (*), eben mein Mann –, und ich fand das alles sehr spannend. Ich habe bei der Gelegenheit meinen Mann angesprochen, und er hat mir dann erklärt, er wollte mich zuerst ansprechen, aber er dachte, er müsse dann Französisch reden, weil ich auf der belgischen Teilnehmerliste war. Ja, da haben wir uns kennengelernt, und, ja …
"Ich hab in eine Historikerdynastie hineingeheiratet"
Rother: Wie das halt so ist.
Mommsen: Das muss 65 gewesen sein, und dann haben wir wohl 66 geheiratet.
Rother: Genau, Sie haben es gerade skizziert, wir reden über die 60er-Jahre. Das waren ja schon noch andere Zeiten, und aus Margareta Reindl wurde dann Margareta Mommsen. Wurde denn Ihre Arbeit trotzdem gesehen und wahrgenommen, oder standen Sie ab dann auch immer irgendwie im Schatten Ihres Ehemanns?
Mommsen: Das hab ich nie so empfunden. Ich bin schon natürlich gern mit meinem Mann mitgefahren, wenn er zu internationalen Konferenzen gefahren ist, das war eigentlich selbstverständlich, aber ich habe eigentlich ziemlich stur irgendwie immer auch meine eigenen Interessen verfolgt. Es war für mich selbstverständlich, immer berufstätig zu sein, was ich ja auch durchgängig seit meinem 19. Lebensjahr war, und das waren natürlich meine Fachinteressen. Da hatte ich da die Connection mit der Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg, und dann, als mein Mann nach Bochum berufen wurde, an die Ruhr-Universität, hab ich da auch schnell Kontakt hergestellt zu der Fakultät für Sozialwissenschaften und bin dann bei Erwin Faul gelandet als Redaktionsassistentin der Politischen Vierteljahresschrift.
Rother: Das heißt, zwei Wissenschaftler an einem Tisch, da wurde doch bestimmt auch öfters mal richtig diskutiert, oder?
Mommsen: Ja, das eigentlich immer, nicht unbedingt als Streitgespräch, sondern man nahm gegenseitig Anteil an der Beschäftigung des anderen und den beruflichen Interessen, Arbeitsinteressen, Publikationsinteressen und so weiter. Das war selbstverständlich.
"Lehrstuhl für die Politik der Sowjetunion"
Rother: Ihr Mann hatte ja auch einen anderen Schwerpunkt, vor allem NS-Zeit, Weimarer Republik.
Mommsen: Na ja, ich hab da richtig in eine Historikerdynastie hineingeheiratet, hab auch noch kurz den Vater Wilhelm kennengelernt und natürlich die Brüder, den Zwillingsbruder Wolfgang und auch den älteren Bruder, und ja, da ging’s meistens recht lebendig zu.
Rother: Bei den Mommsens.
Mommsen: Bei den Mommsens, ja. Animiert, würde ich sagen. Die waren alle natürlich in ihren Themen, Diskursen befangen, haben diese verteidigt gegeneinander, also langweilig war es da nie.
Rother: Trotz allem ging ja auch, wie Sie schon gesagt haben, Ihre Karriere weiter. Sie haben dann promoviert, in den 80er-Jahren sich habilitiert, an der Ruhr-Universität Bochum gearbeitet, und Sie wurden Ende der 80er-Jahre Professorin in München. Welchen Lehrstuhl haben Sie übernommen?
Mommsen: Ich hatte zunächst, wie das üblich ist, nach der Habilitation Vertretungen da in den Nachbar-Unis im Ruhrgebiet, und dann hatte ich den ersten Ruf an die Universität der Bundeswehr in Hamburg. Und da blieb ich gar nicht lange, denn ein Dreivierteljahr etwa, dann war dieser Münchner Lehrstuhl ausgeschrieben, und da hab ich mir gedacht, na, da bewirbst du dich. Als ich dann in München den Lehrstuhl bekam, dann war das ein Lehrstuhl für die Politik der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten.
Rother: Als Sie den Lehrstuhl dann Ende der 80er übernommen haben, was war da der politisch-historische Kontext, war das weitsichtige Bildungspolitik?
Mommsen: Nein, nein, ganz konkret ging es um Glasnost und Perestroika, das war hochaktuell. Das dürfte auch der Hintergrund gewesen sein, warum dieser Lehrstuhl, auf dem ursprünglich Hans Maier (*), der CSU-Bildungspolitiker, war, warum der, nachdem dieser den Lehrstuhl freigegeben hatte, eben umfirmiert wurde in damals Zeit von Franz Josef Strauß – Politik eben der Sowjetunion und so weiter. Das war ganz klar, es ging darum, jetzt aus politologischer Sicht einen gründlichen Blick auf die Strukturen und Ideologie der Sowjetunion, jetzt im Nachhinein betrachtet, am Ende ihrer Existenz zu werfen. Das waren die Gorbatschow-Jahre, alles, was dazugehört – mit der Auflösung des Ostblocks und so weiter. Das ist ja eine große Themenvielfalt, und es ist ja bis heute nicht aufgearbeitet, es beschäftigt uns immer noch, und eben der Systemwandel, der setzt sich fort, bis heute.
Zwischen Demokratie und Autokratie – Von Jelzin zu Putin
"Ein bisschen mehr Freiheit in den Medien und ein bisschen mehr Freiheit für die Selbstorganisation der Gesellschaft, und schon würde sich alles wieder ändern – eine neue Perestroika ist nicht auszuschließen."
Rother: Frau Professorin Mommsen, Russland, damit beschäftigen Sie sich seit Jahrzehnten. Wann haben Sie denn Russland, oder die Sowjetunion ja wahrscheinlich noch, zum ersten Mal persönlich kennengelernt?
Mommsen: Da war ich zum Beispiel in Begleitung meines Mannes zum internationalen Historikerkongress in Moskau – alle fünf Jahre findet ein internationaler Historikerkongress statt –, und das war 1970 in Moskau. Ja, da hatte ich natürlich Lust, da mitzureisen, und das waren meine ersten Eindrücke vor Ort.
Rother: Und was für ein Land haben Sie da kennengelernt? Breschnew?
Mommsen: Ja, richtig. Das war so kein Thema, das war ja der Hintergrund, den man schon gewohnt war, aber natürlich für Touristen oder Schlachtenbummler, wie ich es war, vor allem interessant die Gebäude, die Atmosphäre, die Menschen, die Sprache, alles zusammen. Ich bin ja dann wiederholt immer wieder hingefahren in die Sowjetunion und hatte auch einen längeren Forschungsaufenthalt, der im Rahmen des Abkommens zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften möglich war. Da war ich ja dann für längere Zeit in Moskau, später.
Ein "positiver Aufbruch in Richtung Demokratie"
Rother: Auch später noch, in den 80er-Jahren, oder?
Mommsen: Ja, genau. Und da lernt man natürlich Land und Leute noch sehr viel besser kennen.
Rother: Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte als Professorin, die waren ja – wir haben es eben schon angesprochen – das politische System Russlands. Schauen wir doch mal auf das Russland dann der 90er-Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. War das ein Land auf dem Weg Richtung Demokratie?
Mommsen: Ganz sicherlich. Übrigens ist die Einschätzung in Russland heute auch eine andere als in den ersten Präsidentschaften Wladimir Putins. Man schätzt diese Jahre nicht mehr nur als die wilden, chaotischen Jahre des Übergangs, die sie ja waren, ein, sondern heute kennt man mehr – es gibt mehr Literatur darüber, wissenschaftliche –, dass es eine Zeit des Aufbruchs war, wirklich, des Aufbruchs in Richtung Demokratie und Rechtsstaat. Und seither ist halt der Rückgang zu beobachten, aber die 90er-Jahre, wenn man sich beschäftigt, was ich getan hab, mit Verfassungsgebungsprozessen, mit den Anfängen der Politik, wie man einfach ausprobiert hat, was in der Verfassung steht, mit Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit, das war ein durchaus positiver Aufbruch in Richtung Demokratie – jedenfalls gab es Meinungsfreiheit. Das ist dann ja noch unter Jelzin abgebremst worden.
Demokratie wurde vielfach missverstanden als Chaos
Rother: Sie sagen, diese demokratische Entwicklung Russlands, die wurde abgebremst. Es gibt ja auch, das liest man oft, Russland kann gar nicht demokratisch sein, das wird dann auch so ein bisschen verklärt, mystifiziert vielleicht. Sehen Sie das auch so, dass das in Russland einfach nicht geht?
Mommsen: Nein, das sehe ich überhaupt nicht, ist eine ganz falsche Annahme. Das wird quasi herbeigeredet, weil das Land doch so groß sei und das Klima so schlecht und, und, und. Nein, man hat diese ersten Ansätze zu früh abgebremst, denen keine Entwicklungschance gegeben, wobei natürlich immer eine ganz wichtige Rolle spielte die Sorge, siehe Modell Perestroika, das ganze Land könnte im Chaos versinken und sich auflösen in seine einzelnen Teile. Also, das ist ganz bestimmt ein ganz wichtiger Gesichtspunkt, um die Politik Putins zu verstehen: nur keine Experimente, nur nicht die Kontrolle verlieren über die Politik im Lande.
Rother: Und sah das auch Boris Jelzin so, der russische Präsident in den 90ern, war das der Grund für ihn, auch diese demokratischen Themen etwas zurückzufahren?
Mommsen: Ja, das hat sich so ergeben. Ich würde gar nicht sagen, dass das so darauf angelegt war, das war dann so eine Nach-und-nach-Entwicklung. In den 90er-Jahren waren das natürlich sehr viele Experimente mit unbekannten Kriterien – Verfassungsstaat[**], Gewaltenteilung, ja, was ist das eigentlich. Man hat nicht lang genug damit gelebt und es gelebt, Parlamentarismus, Parteienvielfalt, auf das sich die Bürger hätten eingewöhnen können in dieses neue System. Das war nicht der Fall, das ist abgebremst worden. Das war natürlich eine Zeit der Wirtschaftstransformation, der Radikalen, und das hieß, damit auch einer Mangelwirtschaft, die Menschen lebten in Armut und es herrschte Chaos. Deswegen wurde vielfach die Demokratie missverstanden, als ein System von Chaos und Mangelwirtschaft.
"Der Westen war sehr auf Kooperation eingestellt"
Rother: Hat der Westen – ich sag das jetzt mal etwas pauschal –, hat der Westen Angebote der Kooperation und der Zusammenarbeit gemacht? Da hätte man ja auch unterstützen können.
Mommsen: Ach, hatte er, der Westen. Das ist natürlich auch eine Legende, dass man jetzt das postsowjetische Russland nicht genug honoriert, geschätzt, respektiert hat. Die Legende, die lebt ja fort, bis heute. Das ist eine Legende. Der Westen war sehr auf Kooperation eingestellt, und auch in den Anfängen, es gab eine enge Zusammenarbeit und auch eine entsprechende Haltung zwischen EU und Russland, und das war sogar noch zu Beginn der ersten Präsidentschaft Putins, im Grunde bis 2005/2006, dann änderte sich das. So gab es viele Ansätze der Zusammenarbeit auch mit den Amerikanern, und leider ist das dann alles heruntergewirtschaftet worden, und das ist bis heute so.
Rother: Was meinen Sie mit heruntergewirtschaftet?
Mommsen: Na ja, diese fruchtbare Kooperation mit dem Westen, so ab 2005/2006, dann hat es natürlich den Kreml-Regisseuren, die eine sehr große Rolle spielen, dieses Regime gründet ja sehr stark auf Propaganda, auf Polittechnologie, wie es im Russischen heißt, auf Spin-Doktoren, Polittechnologen, also alles wird irgendwie gemanagt und propagandistisch untermauert. Und dann fand man das zur Stärkung der eigenen Legitimität, also des Präsidenten der Regierung, viel besser, man zeichnet ein negatives Bild vom Westen: Russland, eine belagerte Festung, diese Vorstellung wird auch bis heute propagiert. Es waren jedenfalls immer wieder Ansätze zur engeren Kooperation zwischen Russland und dem Westen, vor allem der EU, aber auch den USA, und leider hat sich das nicht fruchtbar entwickelt. Aber es gibt ja vielleicht neue Ansätze.
Russland will respektierter Spieler in der Weltpolitik sein
Rother: Ja, schauen wir doch mal auf das Jetzt, auf das Russland heute, das wird von Wladimir Putin regiert und geführt – ein Politiker, über den es oft heißt, dass er vor allem Russlands Großmachtstatus wiederherstellen möchte.
Mommsen: Das ist richtig.
Rother: Würden Sie das als Russland-Kennerin und Wissenschaftlerin auch unterschreiben oder sehen Sie auch andere politische Ziele?
Mommsen: Nein, das ist ein ganz wichtiges Ziel. Die Ziele sind starker Staat und nationale Größe, das ist sehr wichtig, und dass Russland ein respektierter Spieler in der Weltpolitik ist. Russland gehört zu den großen Mächten oder Supermächten der Welt und gestaltet die internationale Politik mit. Das ist ein überaus wichtiges Ziel des Putin-Regimes. Darauf ist die Außenpolitik ausgerichtet, auch der außenpolitische Diskurs und das nationale Selbstverständnis kreisen immer darum, um diese Vorstellung, Russland war, ist und wird immer Großmacht sein.
Rother: Woher kommt das, warum ist das so wichtig?
Mommsen: Das ist natürlich schon auch Tradition, also auch aus dem Zarismus und dann der Sowjetunion, dieses Selbstverständnis, wir müssen Weltmacht sein, sonst gibt es uns nicht. Das ist sehr wichtig für das Selbstverständnis, und damit übertüncht man natürlich auch andere Probleme, Schwächen des Staates. Es ist also sehr wichtig. Für die russische Führung ist es eben außerordentlich wichtig, im Grunde wie zur Zeit des Kalten Krieges zusammen mit den USA die Welt zu regieren.
"Putin ist nicht Alleinherrscher"
Rother: Das heißt, die Bilder, die in Genf entstehen zwischen Putin und dem US-Präsidenten Biden, die sind den Russen sehr wichtig?
Mommsen: Ja, das ist außerordentlich wichtig, und ich finde es sehr erfreulich, dass dieses Gespräch jetzt überhaupt stattfindet. Es ist für Russland auch wichtig, nach innen zu zeigen, wie er es versteht, die Welt international zur Geltung zu bringen, zum Respekt zu bringen.
Rother: Also Russland zur Geltung zu bringen?
Mommsen: Ja, ja.
Rother: Putin wird ja oft als Mastermind der russischen Politik dargestellt, als der Herrscher im Kreml. Manche stellen sich das dann vielleicht auch so vor – es heißt ja auch oft, der Kreml hat, der Kreml entscheidet. Können Sie uns das erklären als Kennerin des russischen politischen Systems, läuft denn einfach alles über Putins Schreibtisch?
Mommsen: Ja, wenn man spricht von der Kreml, der Kreml, das sind Zuschreibungen, wie das auch anderswo, bei anderen Ländern der Fall ist. Damit meint man von Alters her natürlich die politische Führung, die jeweils im Kreml regiert. Das ist also in weiterem Sinne zu verstehen. Außerordentlich wichtig sind in diesem Regime die Polittechnologen, das hab ich schon gesagt, die Propaganda ist außerordentlich wichtig. Unter diesen Gesichtspunkten ist er der Alleinherrscher, was er nicht ist. Also, es ist keine One-Man Rule, keine Ein-Mann-Herrschaft, aber es ist eine One-Man-Show in der Propaganda, die kann überhaupt nicht auf Putin verzichten. Den nationalen Führer, wie er genannt wird, halt immer in den besten Posen und sehr erfolgreich zu zeigen, das ist wichtig, aber er ist nicht Alleinherrscher. Es ist eine Oligarchie von hochrangigen Leuten, die zum größeren Teil Putin mitgebracht hat aus seinen Jahren beim KGB und in St. Petersburg, und dazu gehören auch die neuen kapitalistischen Wirtschaftsbosse. Das ist so …
"Die Opposition ist der Feind im eigenen Lande"
Rother: Die großen Staatsunternehmen –
Mommsen: Ja, das ist so ein Klüngel von Leuten, und dazu gehören natürlich dann die Entourage dieser Leute und auch die Familien und die Nachkommen, also man kann direkt das sagen, wie viele Leute Macht haben in Russland, große Macht haben. Und diese Leute sind daran interessiert, das Regime so zu erhalten, wie es jetzt ist, wie es funktioniert, autoritär, mit diesen starken Propagandaeffekten.
Rother: Können Sie uns das mal an einem Beispiel erklären? Sie haben jetzt von Propaganda gesprochen, Polittechnologie – wie sieht das denn konkret aus im russischen Alltag, was erfahren die Bürger da und die Bürgerinnen?
Mommsen: Ja, die Bürger erfahren natürlich, dass die sogenannte regierende Partei, die überhaupt nicht regiert, das Einige Russland, das wird natürlich in bestem Licht dargestellt, die Opposition in schlechtestem Licht, das wird ja immer schlimmer. Die Opposition, das ist die fünfte Kolonne, das ist der Feind im eigenen Lande, die wird verpönt – wenn Sie ein Beispiel wollen: Nawalny, ganz aktuell. Nawalny geht jetzt durch als Terrorist. Alle seine Bemühungen, eine Partei aufzubauen, selbst zu kandidieren oder eben mit seinem Team da an Wahlen, Regionalwahlen und Zentralwahlen teilzunehmen, wurden immer wieder blockiert. Also, das ist das Beispiel, aber man kann viele Beispiele erwähnen, wie oppositionelles Denken, eben politisches Andersdenken, wie das unterdrückt wird und verfolgt wird.
"Jemand wie Nawalny hat wenig Chancen"
Rother: Ja, Nawalny ist ein gutes Beispiel, er ist ja Russlands bekanntester Oppositionspolitiker, kann man, denke ich, sagen, sitzt jetzt zurzeit eine – im Ausland vor allem umstrittene – Haftstrafe ab. Hat denn jemand wie Nawalny das Potenzial, Putin und seinem System gefährlich zu werden?
Mommsen: Leider hat er in diesem Regime, wie es jetzt funktioniert, hat so jemand wie Nawalny wenig Chancen und eben er auch konkret persönlich, das zeigen uns immer Umfragen. Es gibt auch durchaus von dem Lewada-Institut, einem sehr angesehenen Meinungsforschungsinstitut, immer wieder Umfragen, an denen nicht zu zweifeln ist. Die zeigen eben, dass die Gesellschaft dermaßen zum Gefangenen gemacht wurde dieses Regimes, sich anpasst, dass Opposition als Störfaktor empfunden wird.
Rother: Das zeigen dann auch die Umfragen, also, dass Opposition stört und …
Mommsen: Ja, ganz klar. Es ist nach wie vor eine Mehrheit auch für Putin – wenn übermorgen Präsidentschaftswahlen wären, würde er im Moment 56 Prozent der Stimmen erhalten. Es herrscht wirklich eine angepasste Gesellschaft. So ist das – noch.
Rother: Aber das System, das wackelt nicht, auch wenn jetzt Nawalny noch ein bisschen weiter agieren könnte?
Mommsen: Nein, es wackelt insofern nicht, es ist durchaus das Verlangen da, das zeigen auch die Umfragen, nach Veränderungen, auch nach Regimeveränderungen. Warum? Weil der Lebensstandard in den letzten Jahren deutlich gesunken ist, also die Kaufkraft ist gesunken, die Menschen wollen materielle Verbesserungen. Insofern hat das Regime durchaus Defizite in der Akzeptanz in der Gesellschaft, aber noch funktioniert die Propaganda hervorragend.
Rother: Russland ohne Putin, ist das denkbar?
Mommsen: Ist absolut denkbar. Ich meine, er kann ja auch nicht ewig herrschen, obwohl die Verfassungsänderungen natürlich durchaus Verlängerungen jetzt vorgesehen haben, mögliche. Ich glaube aber nicht, dass irgendwann – es wird wahrscheinlich gar nicht mehr so lange dauern, in den nächsten Jahren wird es da zu einem Wechsel kommen. Aber die große Frage ist, ob das eine Veränderung in Richtung Demokratie sein wird. Das sieht man leider zurzeit nicht.
"Eine neue Perestroika ist nicht auszuschließen"
Rother: Sehen Sie auch nicht.
Mommsen: An der herrschenden Oligarchie, also an dem Personalbestand dieser regierenden Clique, wird sich zwangsläufig aufgrund der biografischen Entwicklungen etwas ändern, das ist klar. Man wird sehen, welche Leute vorbereitet werden für die Übernahme – also nicht Übernahme, sondern die Nachfolge.
Rother: Sie sagten gerade, Schritte Richtung Demokratie sind nicht zu sehen, im Gegenteil, würde ich sagen, hat man eigentlich den Eindruck, der Raum für politische oppositionelle Tätigkeit, der wird von Woche zu Woche kleiner durch neue Gesetze, Aktivisten, die im Gewahrsam landen, in Haft, NGOs, die unter Druck gesetzt werden. Was ist denn das für eine Entwicklung dort gerade, warum passiert das gerade jetzt?
Mommsen: Nein, das ist schon über lange Zeit hin zu beobachten. Es ist aber nach Zunahme der Repressionen, das ist richtig, vielleicht sind das auch Vorsichtsmaßnahmen, um vorzubeugen irgendwelchen größeren gesellschaftlichen Evolutionen, ja womöglich Revolutionen, das sind Vorsichtsmaßnahmen auch, die zunehmende Repression. Das ist sicher so zu sehen, aber es ist eben nicht zu sehen, wo Ansätze zu einem System (Anm. d. Red. Adjektiv hier unverständlich) kommen oder zu einer neuen Entwicklung in Richtung Demokratie – würde ich aber auch nicht ausschließen. Die Transformation ist bestimmt nicht abgeschlossen, diese epochale Transformation von der autoritären Sowjetherrschaft mit Planwirtschaft zu einem kapitalistischen Regime mit demokratischen und rechtsstaatlichen Elementen. Das kann wieder sein.
Rother: Trotz der Repressionen, die wir gerade sehen und beobachten?
Mommsen: Ja, ganz sicherlich, das muss man nicht ein für allemal ausschließen. Die Russen sind nicht als autoritäre Personen geboren, ganz sicher nicht. Ein bisschen mehr Freiheit in den Medien und ein bisschen mehr Freiheit für die Selbstorganisation der Gesellschaft für Parteienbildung, und schon würde sich alles wieder ändern, ein bisschen wie am Ende der Sowjetunion. Eine neue Perestroika ist nicht auszuschließen.
Die Türkei als regionales Gegengewicht zu Russland
Rother: Wir haben jetzt das Russland heute unter Putin gerade etwas skizziert, es lässt oppositionellen politischen Kräften nicht viel Raum, es annektiert die Krim, mischt sich offenbar auch im Ausland in Wahlen ein – das sind jetzt so ein paar Stichpunkte der aktuellen Debatte. Wie kann denn die deutsche Politik mit so einem Gegenspieler eigentlich umgehen, was glauben Sie?
Mommsen: Na ja, man hat ja bisher wirklich immer alles versucht, möglichst viel Dialog zu halten und auch Einfluss zu nehmen. Es hat leider nicht so gut funktioniert. Aber so wird es weitergehen, und es kann auch gar nicht anders weitergehen. Ich glaube, im Moment muss man wirklich ein bisschen mehr schauen, wie wird das Verhältnis USA/Russland sich entwickeln, was ist da möglich, oder natürlich auch sehr wichtig EU/Russland. Wenn man also darauf hofft, dass es nochmals wieder Veränderungen zum Guten gibt, dann muss man das beachten – und Russlands Rolle in der Weltpolitik. Russland wird ja auch in seiner Politik eingeschränkt durch die Interessen anderer weltpolitischer Akteure – nicht nur China, die neue Großmacht, Supermacht, sondern eben auch die Türkei sorgt schon dafür, dass es ein regionales Gegengewicht zu Russland ist. Das sind alles ganz spannende Entwicklungen, wie gesagt, das Ende ist offen.
Rother: Aber wir müssen mit Russland im Dialog bleiben, das heißt es ist ja wirklich schon lange von der deutschen Bundesregierung, Sie haben das gerade auch kurz angerissen. Ist dieser Ansatz nicht auch gescheitert, wenn man schaut, wie Russland eben heute reagiert?
Mommsen: Gescheitert würde ich nicht sagen, aber ausgedünnt, die Erwartungen werden immer wieder enttäuscht. Aber was wäre die Alternative?
Rother: Ja, gute Frage, die stellen sich auch viele in Berlin gerade.
Mommsen: Ja, ich würde bestimmt Angela Merkel die einzig mögliche Russlandpolitik, die vorstellbar war, unterstellen, hat sie betrieben, sehr konsequent. Hochachtung!
Nord Stream 2: "Das muss man zu Ende führen"
Rother: Und gehört da für Sie auch ein Projekt wie Nord Stream 2 dazu, also ist es richtig, immer noch…
Mommsen: Das muss man zu Ende führen. Es ist ja nicht so, dass man auch gerade in Berlin dafür gesorgt hat, dass die Ukraine weiter mit Benzin versorgt werden kann, mit Erdöl. Das wird oft ein bisschen einseitig dargestellt. Ich finde, in der Sache kann man nicht zurück, man muss das fertigstellen und generell in allen Bereichen im Gespräch bleiben, wieder alle an einen gemeinsamen Tisch bringen, das sollte das Ziel der deutschen Politik sein. Friedliche Koexistenz hieß es mal unter Chruschtschow, so kann man’s auch nennen.
Rother: Und halten Sie diesen Ansatz, auf Russland in gewisser Weise zugehen, für erfolgsversprechend? Es gibt ja auch viele Beispiele der letzten Jahre, die zeigen, es funktioniert vielleicht nicht.
Mommsen: Ich meine, Russland ist genauso abhängig von der Wirtschaftskooperation mit dem Westen als umgekehrt, das ist ja keine Einbahnstraße. Das ist natürlich ein ganz wichtiger Faktor, die wirtschaftliche Kooperation. Und das wird auch weitergehen, und vielleicht gibt’s eben auch wieder mal Ansätze für ein kleines Tauwetter, das glaube ich fest.
Putin-Freunde und Putin-Gegner
Rother: Frau Mommsen, die russisch-deutsche Geschichte, die reicht viele Jahrhunderte zurück. Es gab immer wieder Überschneidungen gemeinsamer Entwicklungen, und auch Russland ist eigentlich bis heute immer aktuell geblieben. Also, braucht man Menschen wie Sie, die Russland kennen und erklären können. Wie steht es denn jetzt Ihrer Meinung nach heute um die Russland- und die Kreml-Expertise in Deutschland, ist da genügend Wissen da, um all das einordnen zu können?
Mommsen: Es müssten eigentlich und sollten und es wäre wünschenswert, dass sehr viel mehr junge Leute herangezogen werden, sich mit Russland zu beschäftigen. Interessanterweise sind ja sowohl für die Slawisten, also die Philologie, Linguistik, und auch für die Geschichtswissenschaftler die Lehrstühle nicht so schlagartig reduziert worden, wie das für den Bereich der Politik und Sozialwissenschaften der Fall ist. Die Forschungskompetenz in Deutschland, die zeithistorische politikwissenschaftliche Forschungskompetenz in Deutschland, könnte und sollte weiter ausgebaut werden. Es war wirklich äußerst bedauerlich, dass man nach dem Ende des Kalten Krieges einfach da zu sehr dezimiert hat die bestehenden Forschungsstellen – zusammengelegt hat, die verschiedensten Institute und eben die Universitäten da nicht ausgebaut hat. Das wäre dringend notwendig, das sollte gefördert werden.
Rother: Hat man ja vielleicht auch 2014 gesehen, nach der Krim-Annexion.
Mommsen: So ist es. Da hat man gesehen, hoppla, Ukraine, ja, was wer wie wo ist da eigentlich, und das war schon ein Weckruf, das ist richtig. Es bräuchte eigentlich ständige Weckrufe, um dessen bewusst zu werden, dass da sehr viel mehr Leute herangezogen werden müssen in dieses Forschungsgebiet.
Rother: Mehr Kreml-Astrologen quasi…
Mommsen: Ja, mehr Kreml-Astrologie – der Begriff ist ja leider völlig aus der Mode gekommen. In Sowjetzeiten hat man Leute wie mich als Kreml-Astrologen bezeichnet, die halt bemüht waren herauszufinden, was hinter den Kreml-Mauern vor sich geht und was der Kreml so vorhat. Dann hat man gezielt bei den Feiern zur Oktoberrevolution aufgepasst, wer steht an welcher Stelle von dem Generalsekretär des ZK der KPD herum, da hat man eine Rangliste erstellt, wo sind die wichtigsten Leute. In gewisser Weise machen wir das heute wieder so, dass wir schauen, wie ist die Konstellation, wer hat da welchen Job, und das ist natürlich zu wenig. Aber der Begriff Kreml-Astrologie im Deutschen, in der deutschen Sprache, ist verschwunden, hingegen ist geblieben im Englischen Kremlinology – das ist geblieben, aber, finde ich, klingt viel schlechter, kann man auch so nicht direkt verbinden, im Deutschen kann man das nicht sagen.
Deutsche Dankbarkeit, dass Sowjetunion der deutschen Einheit zugestimmt hat
Rother: In Politik, Medien, aber auch in der Wissenschaft lässt sich beobachten, dass es eine Spaltung gibt in ein Putin-freundliches und ein eher Putin-kritischeres Lager. Woher kommt Ihrer Meinung nach diese Polarisierung? Sie sind ja nah dran als immer noch in der Wissenschaft Arbeitende.
Mommsen: Das ist maßgeblich das Produkt der russischen Propaganda, die Medien beeinflusst, die Meinung beeinflusst durch Cybertechniken und überhaupt Medien, Russia Today und solche Sachen. Das ist Propaganda, und viele erliegen, ohne das zu merken, dieser Propaganda, und das ist sehr bedauerlich. Das ist systematische Arbeit des Kremls, die Gehirne so zu behämmern. Natürlich kommt bei Deutschland auch noch dazu, dass man sich dankbar fühlt und fühlen muss dafür, dass die Sowjetunion zugestimmt hat der deutschen Einheit, also Gorbatschow. Diese Dankbarkeit, die glaubt man immer weiter erfüllen zu müssen, und manche glauben das – kann man nicht so verallgemeinern –, glauben das manche frühere Spitzenpolitiker, sind dafür immer eingetreten. Also man hat eine Bringschuld, und man sollte doch bitte nicht zu kritisch sich gegenüber dem Putin-Regime ...
Rother: Glauben Sie, dass das wieder vorbeigeht, diese Spaltung, oder wird uns die und auch die schwierige Beziehung zu Russland noch eine Weile begleiten?
Mommsen: Ich glaube schon, dass das wieder vorbeigeht, aber man muss dafür auch ein bisschen was tun, also quasi Gegenpropaganda oder Aufklärung betreiben, das ist wichtig. Und dazu müssen eben wieder sehr viel mehr Leute Bücher schreiben, Artikel schreiben und einen Einblick geben in die wahren Verhältnisse dieses autoritären Regimes.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(*) Wir haben einen zunächst unverständlichen Namen ergänzt und eine Schreibweisenkorrektur vorgenommen.
[**] Wir haben einen Transkriptionsfehler korrigiert.