Die Folterbeschreibungen Ildar Dadins sind ganz konkret. Am 11. September hätten vier Mitarbeiter der Strafkolonie, darunter der Direktor, ihn und rund ein Dutzend weiterer Häftlinge vier Mal verprügelt, sie mit den Füßen getreten, mit dem Kopf in eine Kloschüssel getaucht. Am Tag danach seien ihm die Hände mit Handschellen auf dem Rücken fixiert worden, man habe ihn dann an den Händen aufgehängt. Die Lagerverwaltung habe ihm angedroht, ihn umzubringen, wenn er sich beschwere. Er fürchte um sein Leben. Vorgestern hat Dadin den Brief über seinen Anwalt Aleksej Lipzer aus dem Lager in Karelien herausgeschmuggelt. Lipzer sagte dem Sender Radio Svoboda: "Ich kenne Ildar seit fast zwei Jahren. Er machte bei dem Treffen einen verängstigten und niedergedrückten Eindruck. Ich hatte keinen Zweifel, dass er die Wahrheit sagt."
Vor allem Dadins Frau, Anastasija Zotowa, hat gestern alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam zu machen. Sie hat auch die russische Menschenrechtsbeauftragte verständigt, Tatjana Moskalkova. Die ehemalige Generalmajorin der Polizei ist erst seit wenigen Monaten im Amt, sie versprach, sich persönlich zu kümmern, hat eine Anfrage an die Staatsanwaltschaft gerichtet. Eine Beamtenkommission sollte Dadin heute besuchen, um den Fall zu prüfen.
Die Leitung der Strafkolonie reagierte bereits gestern. Sie erklärte, Ärzte hätten den Häftling untersucht und keine Spuren von Misshandlungen festgestellt; Dadin habe dies vor laufenden Videokameras bestätigt. Das Video wurde nicht veröffentlicht. Dadins Frau hält es für einen Bluff. Dem Fernsehkanal Doschd sagte sie: "Wenn es wirklich ein Video gibt, auf dem Ildar seine Worte zurücknimmt, heißt das, dass sehr großer Druck auf ihn ausgeübt wurde. Denn mein Mann ist sehr stark, er ist der mutigste Mensch, den ich kenne."
"Nicht ständig und nicht in allen Straflagern"
Berichte über Folter und Misshandlungen im russischen Strafvollzug gibt es immer wieder. Igor Kaljapin, Chef des Komitees gegen Folter, einer russischen Nichtregierungsorganisation, sagt, das, was Dadin in dem Brief schildere, passiere recht häufig, aber nicht ständig und nicht in allen Straflagern Russlands. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Gefängnismitarbeiter wegen Gewaltanwendung und Amtsmissbrauchs verurteilt. Damit es dazu kommt, müssen die Fälle aber erst einmal öffentlich werden, und das ist ein Problem.
In Russland sollen gesellschaftliche Kommissionen die Zustände in den Haftanstalten überwachen. Sie wurden kürzlich neu besetzt, Menschenrechtler beklagen, dass sie zunehmend aus den Kommissionen herausgedrängt würden. Viele Häftlinge ziehen es ohnehin vor, zu schweigen, um so Misshandlungen zu entgehen. Der 34-jährige Dadin war dazu offenbar nicht bereit. Mit Mahnwachen hatte er oft selbst gegen Folter demonstriert und war wegen solcher stillen Proteste verurteilt worden. Gestern Abend versammelten sich mehrere Dutzend Menschen vor der zentralen Verwaltung des Strafvollzugs in Moskau, um Dadin zu unterstützen. Eine Demonstrantin meinte: "Weshalb sitzt Ildar Dadin überhaupt? Er hat niemanden umgebracht, niemanden ausgeraubt, war kein Rowdy, hat niemandem etwas zu leide getan. Wenn ihm nur ein Hundertstel von dem, was im Brief steht, zugefügt wurde, dann schreit das zum Himmel."