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Russland
Glaubensfreiheit in der Strafkolonie Nummer 7

Gefängnisse in Russland haben wegen ihrer strengen Haftbedingungen einen schlechten Ruf, auch in Russland selbst. Aber es gibt auch Lichtblicke. So wird religiösen Gefangenen ein erstaunliches Maß an Glaubensfreiheit gestattet, wie das Beispiel in einer Sankt Petersburger Strafkolonie zeigt.

Von Thielko Grieß |
Rabbiner Ifrah Abramow steht am Tisch und hält Papierrollen
Rabbiner Ifrah Abramow bei einer Lesung mit den Gefangenen (Deutschlandradio / Julia Larina )
Die vier Gefangenen tragen schwarze Einheitskleidung aus Jacke, Stoffhose und Lederschuhen. So stehen sie vor den Fenstern ihres Gebetsraumes, halten ihre Hände hinter ihrem Rücken, schweigen und warten. Wir sind in einem oberen Stockwerk; durch die beiden Fenster fällt der Blick in den kargen Innenhof. Seinen Horizont begrenzen die hohen Gefängnismauern.
Der Gebetsraum, der nicht viel größer ist als ein Büro, darf sich vom Gefängnisalltag abheben. Vor den Fenstern rosa-beige Vorhänge, auf einem Regal steht ein Chanukkaleuchter aus Messing, hinter ihm hängt die Flagge Israels an der Wand. In der Mitte steht ein einfacher brauner Tisch aus Pressholz, das bunte Karomuster der Stühle setzt einen zurückhaltenden Akzent. Über ihnen ist ein Davidstern aus schwarzen Riemen an die Decke geheftet worden. In einer Ecke wartet ein Wasserkocher. Den brauchen die Gefangenen gleich noch.
"S prasdnikom" wünscht der Rabbiner
Der Rabbiner tritt durch die Tür und begrüßt die vier Häftlinge. "S prasdnikom" wünscht er zum Feiertag, ein in Russland gebräuchlicher Gruß zu Neujahr, zum Tag des Sieges im Mai oder eben zu Purim.
Rabbiner Ifrah Abramow assistiert den Gläubigen, nacheinander die schwarzen ledernen Gebetsriemen um Arm, Hand und Finger zu wickeln. Der dritte in der Reihe heißt Semjon. Er ist ein großer schlanker Mann, 40 Jahre alt, trägt eine getönte Brille.
"Drogen", antwortet er knapp auf die Frage, weshalb er in Haft sitzt. Schon seit mehr als einem Jahr, und noch bis November. Er hofft auf die Chance, bei guter Führung früher rauszukommen.
Blick auf die Eingangfront des Gefängnisgebäudes
Strafkolonie 7 in Sankt Petersburg (Deutschlandradio / Julia Larina )
Semjon spricht mit dem Rabbiner einen Segen und liest danach in Stille das Gebet "Schma Jisrael".
"Der Glaube hilft Dir prinzipiell, unabhängig von den Bedingungen. Wenn Du an etwas glaubst, dann lebt es in Dir, dann wärmt es Dich. Ob nun hier oder draußen. Aber wenn ein Mensch nur hier in Haft zu glauben beginnt, dann ist er ein Opportunist, finde ich. Das ist nicht besonders richtig."
Vorbildliche Zusammenarbeit
Semjon ist als Jugendlicher von der gewöhnlichen Schule geflogen, weil er gegen das System war. Er wollte als Jude auch eine jüdische Schule besuchen. In der Gruppe jüdischer Häftlinge scheint er einer der Gewissenhaftesten zu sein. Alle vier bestätigen, den Gebetsraum täglich zu besuchen, meistens nachmittags. Sie organisieren sich selbst. Der Rabbiner schafft es nur ein, zwei Mal im Monat dazu zu kommen. Ifrah Abramow berichtet, diesen Raum gebe es seit 2011. Die Zusammenarbeit mit dem Strafvollzugsdienst in der Stadt Sankt Petersburg und der Region sei vorbildlich.
"Außer diesem Gebetsraum gibt es weitere in anderen Gefängnissen. Und auch im Frauengefängnis. So etwas gibt es nur in Sankt Petersburg – weltweit. Auch nicht in Israel."
Semjon erzählt vom Gefängnisalltag. Nicht alle Glaubensregeln ließen sich jederzeit einhalten. Zum Beispiel gelte der eng getaktete Tagesablauf aus Mahlzeiten, Arbeit und Kontrollen auch am Sabbat. Und es gebe kein koscheres Essen, aber immerhin könnten sie einen Bogen um Schweinefleisch machen. "Die Regeln zu befolgen und in Einheit mit mir selbst und meiner Innenwelt zu sein, hindert mich niemand."
Diese Strafkolonie nutzt ihre Freiräume
Welche religiösen Freiheiten den Gefangen eingeräumt werden, hängt auch davon ab, wie sehr sich die Anstaltsleitung dafür interessiert. Diese Strafkolonie Nummer 7 macht den Eindruck, als nutze sie ihre Spielräume. Wie ist es mit Gläubigen anderer Religionen? Alexej Doronin, der die Erziehungsabteilung leitet, ist ein junger Beamter in Uniform. Er antwortet:
"Hier gibt es eine Kirche für die Orthodoxen, die hier gleich am Eingang steht. Gebaut aus Holz von den Gefangenen selbst. Alle, die wollen, können dort beten, regelmäßig kommt ein Priester. Und die Gefangenen besuchen die Kirche auch."
Zu Purim gehört es, dass der Rabbiner auf Hebräisch aus dem Buch Esther vorliest. Die Geschichte über die Rettung des Volkes Israel. So geht es mehr als eine halbe Stunde lang. Semjon sitzt daneben, liest den Text mit, den er auch in russischer Übersetzung in den Händen hält. Ab und an hilft er dem Rabbiner, die etwas widerspenstige Papierrolle weiter zu wickeln.
Die Lesung mündet nahtlos in den geselligen Teil dieser Purim-Feier: Mit heißem Wasser aus dem Kocher wird schwarzer Tee in Pappbechern gebrüht, werden Packungen mit koscherem Gebäck geöffnet. Weil Purim ist, stehen auch die dreieckigen Hamantaschen auf dem Tisch. Ein Gebäck, eine süße Köstlichkeit aus Teig, Honig, Früchten und Sesam. "Purim ist ein helles, ein schönes Fest."
Zu dem eigentlich auch Musik und Tanz gehören. Hier, hinter Gittern, aber muss die Fröhlichkeit etwas bescheidener ausfallen. Doch auch hier ist Zeit für Gespräche, und es geht locker zu, was vielleicht auch daran liegt, dass einer der vier am nächsten Tag entlassen wird, zu Frau und Kind. Der Rabbiner fügt hinzu: Jeder zweite, der im Gefängnis diese Glaubensgemeinschaft gesucht hat, sucht sie auch draußen.
Dann kommt der Rabbiner auf Stalin zu sprechen, den Diktator, der die Juden im Fernen Osten ansiedeln wollte. Unausgesprochen steht der Vergleich zu heute im Raum. Kein Vergleich.
Nach gut anderthalb Stunden verabschieden die Gefangenen den Journalisten, der wieder gehen darf. Sie selbst müssen bald zurück in ihre Alltagsroutinen. "Es gibt gleich Mittagessen. Dann ist etwas Freizeit, in der man lesen kann. Dann Kontrolle und das Abendessen."
Noch aber bleiben der Rabbiner und seine kleine Gemeinde in ihrem Gebetsraum zurück, wollen allein weiter sprechen, ohne Mikrofon und auch ohne Aufsicht durch Justizbeamte. Selbst das ist möglich. Man vertraue sich eben, sagen beide Seiten.