Sandra Schulz: Vorgestern war der 1. September. Vorgestern vor 75 Jahren hat der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen. Aber bei der Gedenkveranstaltung auf der polnischen Westerplatte hat Bundespräsident Joachim Gauck nicht nur zurückgeschaut, sondern er hat bei seiner Rede so ungewohnt deutlich außenpolitisch mitgemischt mit scharfer Kritik an Russland, dass sich auch hierzulande manch einer die Augen gerieben hat. Russland habe die Partnerschaft mit Europa der vergangenen Jahre de facto aufgekündigt, so Gauck, und man stelle sich jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Für diese Kritik wird der Bundespräsident jetzt seinerseits kritisiert. Der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger wirft Gauck vor, er habe Öl ins Feuer gegossen, und spricht von einem präsidialen Fehlgriff ersten Ranges. Darüber hat mein Kollege Martin Zagatta mit dem polnischen Publizisten Adam Krzeminski gesprochen.
Martin Zagatta: Verwundert Sie diese Kritik am deutschen Bundespräsidenten, oder können Sie die nachvollziehen?
Adam Krzeminski: Nein, ich kann sie überhaupt nicht nachvollziehen. Es ist noch ein Beweis dafür, dass es weiterhin Gruppen oder Gruppierungen, politische Parteien gibt, die diese Nachbarschaft zu Polen überhaupt nicht verinnerlicht haben. Das heißt, sie schlagen irgendwelche Schlachten, innenpolitische Schlachten aus, ohne zu verstehen, was diese Westerplatte bedeutete, bedeutet auch, nicht für Polen, sondern auch für die europäische Geschichte. Es ist kein Symbol eines Überfalls auf die Zivilbevölkerung, sondern eines Widerstandes gegen eine Aggression, und wenn man das nicht versteht, dann versteht man nicht nur die polnische, sondern die europäische Geschichte nicht.
"Das hat der Bundespräsident gut verstanden"
Zagatta: Aber wenn man an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert, wie das ja gemacht wurde jetzt bei dieser Veranstaltung, kann man das machen, ohne das Leid zu erwähnen, das dieser Krieg ja vor allem über das russische Volk auch gebracht hat? Kein anderes Land hatte so viele Tote zu verzeichnen.
Krzeminski: Aber bitte sehr! Wenn ich das Argument auch in der Süddeutschen lese, ein Kommentar, es ist fast ein Unfug, ein Kommentar zu einer Rede auf der Westerplatte. Auf der Westerplatte ist das ein Symbol dafür: Es gibt Momente, wo man mit Waffen die Werte, für die man einsteht, verteidigen muss, und das hat der ehemalige Pastor und der Bundespräsident gut verstanden. Ich verstehe nur nicht die Kommentatoren, die den Kontext nicht kennen. Wenn man gerade am 1. September über die sowjetischen Opfer des Krieges spricht, ohne die polnischen zu erwähnen, und über die sowjetische Grenze spricht, ohne zu verstehen, dass es eine Grenze gab am 1. September, die anderswo lag als im Jahre '41, dann muss ich sagen, dann ist die Arbeit der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht umsonst, aber irgendwie hat sie nicht gegriffen.
Zagatta: Die Kritiker sagen ja, man hätte alle Opfer da erwähnen sollen.
Krzeminski: Nein, nicht auf der Westerplatte. Das kann man und muss man in Auschwitz sagen, das kann man in Dresden sagen, das kann man in Warschau sagen, aber nicht dort, wo es ein Symbol eines militärischen Widerstandes war. Denn es war ein polnischer Stützpunkt in Danzig und es war ein Symbol der Präsenz Polens in dieser Stadt. Man kann nicht einen Aspekt des berechtigten militärischen Widerstandes in der europäischen Geschichte auch heute verdrängen, und ich befürchte, dass die Kritiker der Rede sich einfach herumlügen wollen über die Frage, wo ist die Grenze, wo ist die notwendige Grenze der Notwehr erstens und auch der Solidarität mit dem Angegriffenen. Das ist das Fatale an dieser Kritik an der Rede, die ich für eine wichtige halte. Ich vergleiche diese Rede mit der Rede vom 8. Mai '85 von Richard von Weizsäcker. Es ist eine europäische Rede, die auch die Grenzen des Zumutbaren skizziert, und das ist nicht nur legitim, sondern heute durchaus berechtigt.
Deutschland "berechtigt" für größeres Engagement in Europa
Zagatta: Herr Krzeminski, wie kommt es denn in Warschau an, wenn Berliner Politiker und auch der Bundespräsident seit Wochen und Monaten ja jetzt immer wieder betonen, Deutschland müsse eine wichtigere Rolle spielen auf internationaler Ebene und auch in der Verteidigungspolitik. Trifft das in Warschau mit der Vergangenheit, die man da gemeinsam mit den Deutschen hat, auf volle Zustimmung?
Krzeminski: Absolut. Das hat mit der Vergangenheit insofern etwas zu tun, dass man weiß, dass das heutige Deutschland keine Fortsetzung des Dritten Reiches ist, und es ist verlogen, wenn man sozusagen sich hinter die historische Schuld versteckt, indem man auch keine Verantwortung übernehmen will. Ich freue mich, dass die deutsche Politik, der Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und auch der Außenminister, auf die Rede des polnischen Außenministers Sikorski aus dem Jahre 2011 jetzt antworten, indem sie sagen, sehr wohl, Deutschland ist nicht nur berechtigt, sondern auch bereit, ein größeres Engagement in Europa zu spielen. Es geht ja nicht nur um das Militärische, sondern auch über das Finanzielle, das Wirtschaftliche, die ganze Soft Power, die auch notwendig ist in der Außenpolitik heute.
Zagatta: Es geht aber auch um das Militärische. Die NATO überlegt, da jetzt ihre Truppenpräsenz in Osteuropa auszubauen, fünf neue Stützpunkte in Osteuropa. Wäre das für Sie wieder vorstellbar, deutsche Soldaten auf polnischem Boden, oder ginge das nicht?
Krzeminski: Aber natürlich. Das ist eine völlig andere Wirklichkeit. Das sind andere Soldaten. Wir sind Verbündete und wir möchten Verbündete sein und das Gefühl haben, dass es keine Papiergarantien sind, sondern reale Bereitschaft und Fähigkeit, einzustehen für den gegebenenfalls Bedrohten.
"Purer nationaler Chauvinismus"
Zagatta: Wie schätzen Sie das ein aus polnischer Sicht? Stehen wir da vor einem neuen Kalten Krieg?
Krzeminski: Nein! Es ist kein Kalter Krieg. Es ist kein Zusammenprall von gegensätzlichen Ideologien. Putins Russland hat keine Ideologie, das ist kein Marxismus-Leninismus, keine kommunistische Verheißungslehre. Es ist auch keine Ideologie des alten zaristischen Imperiums mit dem orthodoxen Glauben. Das ist purer nationaler Chauvinismus, der den Phantomschmerz des verblichenen kommunistischen Imperiums nicht verschmerzt hat. Das ist alles.
Schulz: Der polnische Publizist Adam Krzeminski im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Die Fragen stellte Martin Zagatta.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.