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Russland in Flammen

Die brennenden Dörfer ringsum Moskau und die Bilder aus der rauchverhangenen Hauptstadt Russlands - auch wenn sich dort die Lage derzeit etwas entspannt hat: Die Frage nach der Verantwortung für das misslungene Krisenmanagement muss sich das Führungsduo Putin/Medwedew stellen lassen.

Von Robert Baag |
    Subversiv-sarkastischer Humor ist in diesen Tagen nicht selten in der Hauptstadt der Russischen Föderation, in Moskau:

    "Ich glaube, dass die kritische Phase zu Ende gegangen ist! Jetzt wird es wunderbar. Kühler wird es werden, der kurze Regen gestern hat geholfen, und der Wind hat gewechselt. Und: Der Bürgermeister ist zurückgekommen!"

    Der Mittdreißiger blickt versonnen lächelnd nach unten auf die Häuserschluchten der Zehnmillionen-Metropole. Auf die gelbliche Morgendunstglocke knallt sengend die bleiche Sonne von einem graublauen Himmel. Kurz nach neun Uhr ist es und 31 Grad heiß. Gestern noch zeigte das Thermometer um diese Zeit schon 35 Grad, dort oben auf den Sperlingsbergen, einst auch mal Lenin-Berge getauft.

    "Alles ganz prima", nickt übertrieben strahlend sein Nachbar, der auf der steinernen Balustrade der Aussichtsplattform hockt. "Ich bin extra hierher hochgefahren, um ein bisschen durchzuatmen", sagt er. "Wunderbar, diese Luft. Alles ist gut!" - Nur dem dritten Mann steht der Sinn nicht nach frivolen Scherzen - sein Lachen wirkt unfroh:

    "Die Torffelder um Moskau brennen doch noch", hält er dagegen, "und sie werden noch lange brennen. Kein Katastrophenschutzminister Shojgu oder wer auch immer von denen wird es schaffen, diese Feuer innerhalb einer Woche zu löschen. Da können die versprechen, was sie wollen!"

    Auch wenn sich die Lage in Moskau im Moment tatsächlich für kurze Zeit leicht entspannt haben mag: Das anhaltende Kratzen im Hals, das beständige Kribbeln in den Atemwegen, der kurze trockene Reizhusten, gerötete, überempfindliche Augen sowie der lästige, bitter-metallische Geschmack auf pelziger Zunge - das alles sind untrügliche Zeichen für die beständig durch Feinstaub, Rußpartikel und andere Schadstoffe hochbelastete Moskauer Luft in diesen Augusttagen. Nur höchst selten aber erklären Ärzte sich bereit, vor einem Mikrofon Prognosen zu wagen über die mittel- bis langfristigen Folgeschäden dieses wochenlangen Bombardements mit Umweltgiften:

    "Verschiedene Infektionskrankheiten können die Folgen sein", meint der Mediziner, "Erkältungskrankheiten, Lungen-Allergien sind denkbar, Bronchial-Asthma." - Nicht zuletzt aufgrund solcher düsteren Prognosen empfinden selbst jene Moskauer, die sich keinerlei Illusionen machen über die Effizienz und Hilfsbereitschaft des aufgeblähten kommunalen Beamtenapparats, wohl nur noch hilflose Wut angesichts der medizinischen Ratschläge die Jurij Lushkov, ihr Stadtoberhaupt, jetzt für die gebeutelten Rentner Moskaus parat hält:

    "Verwendet mehr Wasser! Trinkt auch mehr Wasser! Duscht öfters! Und wir, die Stadt, werden alle zwei Stunden Sprenglaster durch die Stadt schicken, um die Straßen zu bewässern!"

    Goldene Worte eben jenes Jurij Lushkov, der es selbst vorgezogen hat, während des vorläufigen Höhepunktes der Smogkatastrophe einen mehrtägigen - wie es hieß - "Genesungsurlaub" im Ausland anzutreten, um eine Sportverletzung auszukurieren. Und zwar ausgerechnet in der kristallklaren Alpenluft Österreichs, wie die Gerüchteküche sofort zu kolportieren wusste. - Immerhin: "Danke, dass Sie rechtzeitig zurückgekehrt sind", ätzt mit undurchdringlichem Lächeln Ministerpräsident Putin vor laufenden Kameras, als Lushkov sich endlich wieder zurückgemeldet hat.

    Auch wenn während dieser schlimmsten Hitzewelle in Russland seit Menschengedenken die teilweise apokalyptisch anmutenden Fernsehbilder aus Moskau weltweit die Runde gemacht haben, der Fokus der internationalen Aufmerksamkeit auf dem Machtzentrum der sich selbst so begreifenden Großmacht gelegen hat, gilt jetzt auch die sogenannte tiefe Provinz des Riesenreichs als Fleckenteppich verschiedener Krisenherde. Richtig nervös wird die Öffentlichkeit vor allem im Ausland, als plötzlich Namen wie Sarov, Majak, Snezhynsk oder Tscheljabinsk in den Nachrichten auftauchen: Sie stehen für Kernforschungszentren, atomare Waffenschmieden, Atommülldeponien, für Geländeabschnitte, die schon seit über einem halben Jahrhundert radioaktiv versucht sind. "Rossatom"-Chef Sergej Kirijenko bemüht sich Kompetenz zu verströmen, als sich Flammen an die frühere Wasserstoffbomben-Schmiede Sarov bei Nizhnyj Novgorod heranfressen, etwa 450 Kilometer östlich von Moskau entfernt:

    "Wir haben eine große Menge Menschen mobilisiert. Bislang mehr als 3000 Mann. Zusätzliche Kräfte werden herangeführt, Divisionen der Truppen des Innenministeriums und der Armee. Im Anmarsch sind schon 400 Soldaten der Pioniertruppen. Schwere Räumtechnik ist jetzt prinzipiell wichtig! Vor allem dann, wenn die Windstärke zunimmt. Wir müssen breitere Streifen freiroden: Das ist die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen!"

    "Ruhe" als erste Bürgerpflicht zu verkünden und scheibchenweise statt umfassend über drohende Risiken zu informieren: Es hat den Anschein, als habe die Führung Russlands nichts aus der regelmäßig wiederkehrenden weltweiten Kritik an ihrer verschleiernden, die Menschen verwirrenden Informationspolitik gelernt, wie etwa nach dem Jahrhundert-GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl vor über 24 Jahren oder beim Untergang des Atom-U-Boots "Kursk", der sich gerade jetzt zum zehnten Mal jährt. Stattdessen künstlicher Optimismus in den staatskontrollierten Fernsehnachrichten, forscher Kriegsberichterstattung vergleichbar - ein Beispiel, übrigens von Anfang August:

    "Die Waldbrandsituation im Land verbessert sich weiter. Jetzt konnte in den meisten Regionen unseres Landes ein weiteres Ausbreiten des Feuers verhindert werden - darunter im Gebiet Tschel-ja-binsk beim Atomforschungszentrum Ssnje-zhynsk. Alles ist gelöscht! Rund um Sarov sind noch ein paar Brandnester übrig. Die wird man heute aus der Luft löschen!"

    Kritisch nachfragender Journalismus wird zwar nicht nur in Russland oft als lästig empfunden, aber in der sogenannten "Tandem-Ära" des Macht-Duos Vladimir Putin und Dmitri Medwedew fällt dies noch viel stärker auf. - In nationalen Krisenzeiten grenzt solch eine Berufsauffassung für Russlands Katastrophen- und Zivilschutzminister Sergej Shojgu offensichtlich an den Tatbestand "unpatriotischen Verhaltens". Einen Reporter, der es gewagt hat, ihn zu fragen, ob Shojgus Ministerium auch Fehler und Mängelanalyse parallel zur Brandbekämpfung betreibe, kanzelt der Viersterne-General erbost ab - die anderen Journalisten ziehen währenddessen verschüchtert die Köpfe ein:

    "Wisst ihr, wir erwarten eigentlich Hilfe von euch, und nicht irgendwelche Reportagen im Stil von: 'Wir sind da und da hingefahren, und haben da was gefunden.' - ja, vielleicht gab es tatsächlich gerade mal nicht genug Kräfte vor Ort. Aber nein: Wir müssen das natürlich sofort quer durchs ganze Land schreien: Da fehlen sie, dort fehlen sie, dort gibt es das nicht. Los, konzentrieren wir uns gemeinsam auf etwas anderes!"

    Das Ergebnis solcher unverhohlenen Versuche, die Medien des Landes in ihrer Berichterstattung über die Brand- und Umweltkatastrophe zu gängeln, ist täglich zu besichtigen und zu hören. Shojgus Sprecher Vladimir Stepanov ist in diesen Tagen ein häufiger Gast in den TV-Nachrichtensendungen:

    "Die Situation ist kurz davor, sich zu stabilisieren. Die Flugzeuge des Katastrophenschutzministeriums haben während der vergangenen 24 Stunden ihren Plan vollständig erfüllt. Heute werden wir massive Schläge führen gegen Brandherde im Gebiet Moskau, im Gebiet Rjazan, sowie bei der Ortschaft Sarov nahe Nizhnyj Novgorod. Opfer unter der Bevölkerung der Russischen Föderation durch Wald- oder Torfbrände sind in den vergangenen 24 Stunden nicht zugelassen worden!"

    Dass zu diesem Zeitpunkt Waldbrände im russisch-ukrainisch-weißrussischen Grenzgebiet festgestellt worden sind, eine Gegend, die seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986 als hochgradig radioaktiv verstrahlt gilt - kein Wort ist davon bei Stepanov zu hören. Erst geraume Zeit später zitieren russische Agenturen endlich anonyme Sprecher anderer Behörden, die diesen Sachverhalt bestätigen, wie dies lange zuvor Umweltschützer bereits veröffentlicht haben - ein Beispiel von vielen für die quasi-sowjetische Mentalität der Behörden, die eigenen Menschen aber auch die Nachbarländer Russlands besser mal im Unklaren zu lassen. Für Jewgenij Schwarz vom Moskauer "Internationalen Fonds für Naturangelegenheiten" lassen sich die Schuldigen an der aktuellen Situation ohne Weiteres benennen:

    "Der Brand ist ein Indikator dafür, wie und welche Reformen bei uns betrieben worden sind, bei der Forstverwaltung, bei der Regionalverwaltung. Diese Katastrophe hat nicht ausschließlich ökologische Dimensionen. Nachdem man beschlossen hatte, die Torfgewinnung für Heizkraftwerke einzustellen und die Torfgebiete trockenzulegen, um Grundstücke für Wochenendhäuser zu gewinnen und anschließend verkaufen zu können, haben wir uns damit selbst das Pulverfass gebaut, auf dem wir jetzt sitzen. Das hat schon in den 80er/90er-Jahren angefangen. Aber so richtig ans Tageslicht kam das ganze Problem nach den Torfbränden und der Smogwolke über Moskau vor acht Jahren, 2002."

    Konsequenzen daraus gezogen hat man aber ganz offensichtlich weder in Putins noch in Medwedews Amtszeit. Schlimmer noch: 2007, Putins zweite Kadenz als Staatspräsident Russlands neigt sich allmählich ihrem Ende entgegen, passiert weitgehend unbemerkt ein neues Wald- und Forstgesetz das parlamentarische Verfahren. Die Konsequenz: Schutz und Hege der Wälder sind seither Privatinvestoren und lokalen Funktionären übertragen worden, die mit Holzverkäufen oder Grundstücksrodungen zu Bauzwecken nur den sprichwörtlichen "raschen Rubel" machen möchten. Zwei Drittel der professionellen Waldhüter müssen nach und nach ihren Hut nehmen, da sie für die neuen Besitzer nichts als Kostentreiber sind. Genau diese Fachleute aber fehlen heute an allen Ecken und Enden. Um zu vermeiden, dass sich Waldbrand- und Smogkatastrophen wie in diesen Tagen erneut wiederholen, schlägt Jevgenij Schwarz als Sofortmaßnahmen vor:

    "Ross-Sel-Chohß, die 'Russische Agentur für Landwirtschaft', muss wieder den Rang einer staatlichen Behörde bekommen, mit allen Kompetenzen, die für den Schutz der Wälder und Forsten notwendig sind. Außerdem muss gewährleistet werden, dass die Wälder mit Hilfe von Satelliten überwacht werden können. Bis jetzt schotten sich alle beteiligten staatlichen Strukturen aus angeblichen Geheimschutzgründen voreinander ab, versuchen, den anderen ihre Daten zu verkaufen. Das Ergebnis: Von den beiden Satelliten vom Typ 'Meteor', die uns noch erhalten geblieben sind, laufen die Daten erst mit einer Verzögerung von einem Tag ein. Also, es führt kein Weg daran vorbei: Wir brauchen endlich Informationen in Echtzeit, und zwar im Internet."

    Die volkswirtschaftlichen Schäden, die schon bis jetzt, Mitte August durch die Brandkatastrophen entstanden sind, beziffern unabhängige Experten auf umgerechnet 11-einhalb Milliarden Euro. Offizielle, regierungsamtliche Zahlen fehlen noch. - Festzustehen scheint: In über einem Viertel der 87 Regionen Russlands drohen infolge von monatelanger Hitze, Dürre und Flurbränden gewaltige Ernteausfälle. Noch im vorigen Jahr hat Russland sich weltweit als viertgrößter Getreideexporteur positioniert und in diesem Jahr geplant die USA und Kanada zu überholen. Doch Anfang August muss die Regierung Putin einen Weizenexportstopp verhängen - voraussichtlich mindestens bis Ende dieses Jahres. - Brot ist in Russland von jeher ein unverzichtbares Grundnahrungsmittel. Landwirtschaftsministerin Jelena Skrynyk verbreitet demonstrative Zuversicht:

    "Unser Brot besteht überwiegend aus Weizenmehl und verteuert sich nicht. Im Vergleich zum Vorjahr muss der Verbraucher gerade einmal 0,3 Prozent mehr ausgeben. Einen Preissprung beim Brot nach oben erwarten wir nicht! Sollte es zu Preisabsprachen kommen, denn jedem Preisanstieg gehen natürlich spekulative Absprachen voraus, haben wir dafür unseren Föderalen Anti-Monopol-Dienst, der die Preise kontrolliert."

    Eine ganz andere Rechnung macht dagegen die Publizistin Julia Latynina auf:

    "Die Brotpreise für unsere alten Rentnerinnen niedrig zu halten, wird wohl kaum zu schaffen sein. Denn auch der russische Getreidepreis hängt vom Weltgetreidepreis ab. Der aber ist schon um zehn Prozent nach oben gegangen, nachdem Russland seinen Exportstopp verkündet hat. Deshalb werden auch unsere Omas, die Babuschkas, am Ende beim Bäcker höhere Preise bezahlen, die von den Brotback-Kombinaten vorgegeben werden. Denn die mussten ihr Mehl teurer einkaufen."

    Julia Latyninas Voraussage vor wenigen Tagen hat sich erfüllt. Die Ministerin aber - sie hat sich "geirrt". Ein 380-Gramm-Laib kostet in Moskau nun nicht mehr 15 sondern schon 18 Rubel, umgerechnet etwa 25 Cent - ein Anstieg um immerhin zwanzig Prozent. Tendenz steigend? Kein Grund zur Freude allemal für die meist schmal betuchte russische Rentnerschar. Hinzu kommt: Nach dem Brot dürften bald auch Milchprodukte teurer werden, dann gefolgt von Fleisch- und Wurstwaren. Experten sagen diese Entwicklung schon für den Frühherbst voraus. Die aktuelle Brand- und Umweltkatastrophe könnte sich damit für die politische Klasse Russlands nicht nur wirtschafts- sondern auch sozialpolitisch sehr unangenehm auswirken. Schließlich stehen im kommenden Jahr Parlamentswahlen an. - Inzwischen aber stehen die Wälder Russlands weiter in Flammen:

    "Die Luft hat gebrannt. Ich hab der Nachbarin nur noch zugerufen: Lauft weg! Schnell! Ich hab rasch mein Handy gegriffen und meinen Pass und dann sind wir losgerannt."

    "Hier sind nur vier Feuerwehrautos, gebt uns noch mehr, soviel wie möglich."

    Szenen wie diese aus einem niederbrennenden Dorf im westrussischen Gebiet Voronesh sind in ganz Russland übrigens schon seit Ende Juli zu besichtigen gewesen. Die Katastrophe nimmt anschließend ihren Lauf, die Lage wird landesweit zusehends dramatischer. Der Regierungschef aber, Vladimir Putin, entspannt derweil auf der ukrainischen Krim, röhrt im Motorrad-Konvoi als Edel-Biker über die hitzeglühenden Landstraßen der Halbinsel am Schwarzen Meer. Doch auch Sentimentalitäten gestattet er sich.

    Für die begierig lauschenden russischen Fernsehreporter vor dem Gästehaus gibt es ein Extrabonbon von Putin. Fein lächelnd verrät er, dass er sich soeben auch mit den jüngst aus den USA ausgewiesenen russischen "Kundschaftern" getroffen habe - im russischen Sprachgebrauch: die eigenen Spione. - "Und", fragt eine junge Journalistin ganz aufgeregt nach: "Sogar gesungen haben sie miteinander, ja?"

    "Ja", lächelt Putin, sich dabei ein bisschen zierend, "wir haben gemeinsam gesungen. Und wir brauchten auch kein 'Karaoke' dazu. Wir haben uns live begleitet bei 'Wo fängt die Heimat an.' - Wirklich! Ohne Spaß!" –

    Die Journalistenschar ist begeistert. Ein echter Putin. Sogar die Jungen kennen das Lied. Es ist die Erkennungsmelodie einer bis heute beliebten sowjetischen Fernsehserie vom Ende der 60er-Jahre, die von einem tollkühnen Tschekisten, einem sowjetischen Geheimagenten, erzählt, der unentdeckt als vermeintlicher Wehrmachtsoffizier die Geheimnisse Nazi-Deutschlands ausspioniert, sich dabei aber manchmal melancholisch Gedanken ans ferne sowjetische Heimatland hingibt. Und immer dann erklingt diese trauliche Weise. Solche Auftritte liebt Putin. Er weiß, dass er damit bei nicht wenigen seiner Landsleute punkten kann.

    Nun demonstriert Putin allumfassende Krisenmanagerpräsenz: Hier verspricht er raschen Wiederaufbau niedergebrannter Häuser, von ihm persönlich per Web-Kamera-Einsatz überwacht, dort sagt er Rubel-Millionen als Entschädigung für vernichtetes Eigentum zu, um sich gleich darauf in ein Löschflugzeug zu setzen und höchstpersönlich Wassermassen über glimmende Torffelder auszuschütten.

    Der Kontrast zum derzeit eher kraftlos wirkenden Staatspräsidenten Medwedew ist auffällig. Keinen großen Eindruck beim Publikum hinterlassen haben Medwedews mühsam-markigen Entlassungen von ein paar hohen Marineoffizieren als Sündenböcke.

    Noch funktioniert aber die sogenannte russische "Tandem-Okratie" mit dem Duo Medwedew/Putin an der Spitze. Dennoch gilt schon vielen die aktuelle Brand- und Umweltkatastrophe als Beweis eklatanten Versagens der einst von Putin durchgedrückten "Vertikale der Macht", die das Durchregieren von oben nach unten, von Moskau bis ins letzte Provinzdorf zum Ziel gehabt hat. Die Folgen heute: Chaos, Inkompetenz und unnötige Reibungsverluste statt effizienter Krisenvorsorge und zügig organisierter Gegenmaßnahmen. - Trotzdem gelassen sieht Konstantin Remtschukov, Chefredakteur der "Nezavisimaja Gazeta" die momentan leicht sinkenden Werte sowohl für Putin als auch für Medwedew bei jüngsten Meinungsfragen. Putins Kalkül für die Wahlen im übernächsten Jahr liegt für ihn auf der Hand:

    "Derzeit hat Putin immer noch höhere Zustimmungswerte als Medvedjev. Und Putin benimmt sich in der Krise überhaupt nicht so, als wolle er bald in Rente gehen. Jeden Tag trifft Putin medienöffentlich reihenweise irgendwelche Entscheidungen. Diese Aktivität hat tatsächlich schon Züge eines Wahlkampfs um das Präsidentenamt."

    Dass die Waldbrände, das Smogdesaster und das offen zu besichtigende Missmanagement in diesem russischen Hitzesommer 2010 die Putin-Medwedew'sche "Tandem-Okratie" ernsthaft gefährden könnte, muss vorerst Spekulation bleiben. Remtschukov rät zu Skepsis. Seine ernüchternde, gleichwohl aus langer Erfahrung gespeiste Vorhersage im Sender "Echo Moskvy":

    "Unsere Gesellschaft verhält sich in ihrem Wesenskern ausgesprochen gleichgültig. Echte Solidarität gibt es nicht: Weder sind die Oligarchen miteinander solidarisch, noch sind es - anderes Beispiel - die Zeitungsmacher. 'Solidarität' fehlt uns ganz allgemein - jedenfalls bislang."

    Mit solch einem Befund allerdings erübrigt sich dann auch eine Antwort auf die Frage, wo denn eigentlich - wie in Putins sentimentalem Lieblingslied - die russische Heimat beginnt. Welches Heimatland? Dialektik kann manchmal boshaft daherkommen.