Dass Georgij an diesem Vormittag vor der Tür dieses Gebäudes warten muss, hatte er sich noch Tage zuvor nicht ausmalen können. Gleich hat der 30-Jährige seinen Verhandlungstermin im Gericht.
"Ich habe mich gegen 18 Uhr mit Bekannten getroffen, wir wollten ein bisschen rumlaufen", schildert er. In der Nacht davor hatte er gearbeitet, als Lagerist, dann geschlafen und sich am Abend ins Moskauer Stadtzentrum aufgemacht. Mit einer Bekannten wollte er rund um den Puschkin-Platz spazieren gehen.
Von Politik hält er sich fern, sagt er. Aber als ein Polizist ihn aufforderte, schleunigst zu verschwinden, war er plötzlich mittendrin.
"Ich habe gesagt: 'Das ist ein öffentlicher Raum. Ich gehe hier immer spazieren, ist das verboten?' Aber okay, dachte ich, wir wollten sowieso weggehen. Doch dann haben mich zwei Polizisten weggeschleppt."
"Wir wollten keine Revolution, keine Gewalt"
Er ist einer von mehr als 1000 Festgenommenen, allein in Moskau. Stundenlang ist er mit anderen im Polizeibus umhergefahren worden. Niemand durfte auf die Toilette.
"Wir wurden erst spät nachts freigelassen. Alle Protokolle sahen aus, als ob sie kopiert worden waren. Angeblich haben wir alle 'Schande' und 'Putin ist ein Dieb' gerufen. Ich habe gar nichts gerufen, ich bin spazieren gegangen."
Um seine Aussage vor Gericht zu unterstützen, hat er einen Bekannten mitgebracht, Horacio, Anfang 20, trägt Kapuzenpulli und Röhrenjeans. Er ist nicht festgenommen worden – obwohl er, anders als Georgij, tatsächlich demonstriert hat. Horacio ist ein Bewunderer Alexej Nawalnys.
"Wir sind auf die Straße gegangen, um Antworten zu verlangen. Wir wollten keine Revolution, keine Gewalt. Wir wollten nur, dass man uns antwortet."
Antworten von den Herrschenden wie Ministerpräsident Medwedew, denen Horacio und tausende andere massive Bereicherung vorwerfen.
Für Alexej Nawalny auf die Straße
"Die jungen Leute fangen allmählich an, politisch aktiv zu werden. Sie lieben ja ihr Land, wollen aber bei konkreten Problemen nicht immer wegschauen. Also halten sie sich an den, der ihnen Antworten gibt: Alexej Nawalny. Deshalb gehen sie für ihn auf die Straße."
Das, so sagt er deutlich, will er wieder tun.
Zwei Stunden später beginnt die Verhandlung. Vieles verzögert sich, weil an diesem Tag viele Prozesse gegen tatsächliche und mutmaßliche Demonstranten stattfinden. Georgij setzt sich in einen kleinen Raum, in dem sich auf Fensterbänken und Tischen Papiere stapeln. Ein Richter zitiert aus Protokollen der Polizei darüber, was sich am Puschkin-Platz zugetragen habe. Immer wieder widerspricht ihm Irina Jazenko. Sie ist keine Juristin, sondern arbeitet als Freiwillige für die Bewegung "14 Prozent", die zur außerparlamentarischen Opposition gehört.
"14 Prozent" heißt sie, weil Umfragen rund 86 Prozent Zustimmung zur Kreml-Politik behaupten. Irina sagt: "Formfehler im Polizeiprotokoll".
"Laut meinem Mandanten wurde er gegen 18.30 Uhr festgenommen. Die Polizisten schreiben aber, er habe seine Taten um 19 Uhr begangen."
"Vielleicht war das ein Befehl von oben"
Auch an anderen Stellen passen Uhrzeiten und Angaben nicht zueinander. Das sehe so aus, folgert die Verteidigerin, als interessiere sich die Polizei nicht für die Wahrheit. Der Richter hört sich den Einwand an und unterbricht die Sitzung.
Nach wenigen Minuten Sitzungspause verkündet er seine Entscheidung: Das Gericht glaube nicht daran, dass Georgij nur spazieren gegangen sei. Das Strafmaß lautet: 10.000 Rubel, umgerechnet knapp 170 Euro. Georgij ist enttäuscht. Aber gefasst. "So ein Urteil habe ich erwartet, alles ist wie kopiert. Alle Beschuldigten werden bestraft, keiner kommt ohne davon. Vielleicht war das keine Entscheidung des Richters, sondern ein Befehl von oben."
Die Strafe hinterlässt einen frustrierten jungen Mann, der jetzt viel mehr an seinem Staat und dessen Institutionen zweifelt als zuvor. Den Frust auf die Straße zu tragen, zu demonstrieren, sagt er, kommt ihm nicht in den Sinn.
Ganz anders seine Verteidigerin Irina. Sie will sich nicht einschüchtern lassen, hofft auf künftige Demonstrationen, will dann auch selbst wieder dabei sein. Auch wenn sie wieder festgenommen wird, wie zuletzt, das Risiko geht sie ein. Weil sie ein Protest-Plakat gegen die Regierung gemalt hatte, muss sie rund 250 Euro Strafe zahlen.