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Russische Kriegsverbrechen
Straffreiheit lässt die Gesellschaft verrohen

70.000 Kriegsverbrechen hat die EU-Behörde Eurojust seit Russlands Invasion in der Ukraine nachgewiesen. Nun entsteht ein Zentrum zur Ermittlung aller Verbrechen. Die Fälle müssten dokumentiert, aber auch geahndet werden, kommentiert Thomas Franke.

Ein Kommentar von Thomas Franke |
Ein ukrainischer Soldat läuft durch eine kriegsverwüstete Straße. Er inspiziert die Trümmer eines russischen Panzers.
Ein ukrainischer Soldat läuft im April 2022 durch eine Straße Butschas: Russische Soldaten sollen in der nahe Kiew gelegenen Stadt Kriegsverbrechen begangen haben. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Matthew Hatche)
Der Ansatz ist gut und das Ziel des neuen Zentrums ehrenwert: Die Führung Russlands soll für die Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Verantwortung gezogen werden. Die Verbrechen zu dokumentieren und öffentlich zu machen, ist wichtig, damit die Welt erfährt, was Russland in der Ukraine tut, und daraus die richtigen Schlüsse zieht. Außerdem aber muss es zu Prozessen und zu Urteilen kommen, in fairen Verfahren.

Straffreiheit ist Gift für das Zusammenleben

Das ist nicht nur für die Opfer wichtig, sondern auch für die russische Gesellschaft: Es herrscht weitgehende Straflosigkeit im Land. Die Verbrechen der russischen Armee in den Kriegen in Tschetschenien und Georgien und die Willkürakte in Syrien blieben bisher ungesühnt.
Straffreiheit ist Gift für das Zusammenleben von Menschen und Staaten. Straffreiheit ist ein Grund für die Verrohung der russischen Gesellschaft. Es war schon in und nach der Sowjetunion so: Die Verantwortlichen für die Unterdrückung, für die Deportationen und Morde wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Wer das heute aufarbeiten möchte, landet im Gefängnis.

Gewalt wird gefördert statt bekämpft

Auch die Verbrechen derer, die in den 90er-Jahren reich geworden sind, blieben meist ungesühnt. Versuche, einen Rechtsstaat aufzubauen, sind gescheitert. Torpediert unter anderem von Geheimdienstlern, deren Organisation per se gegen die eigene Bevölkerung gerichtet ist. Und so gilt oft das Recht des Stärkeren. Täter, die gut vernetzt sind, mächtig oder reich genug, um sich freikaufen zu können, bleiben straffrei.
Der Staat fördert Gewalt, statt sie zu bekämpfen. Vor einigen Jahren wurde der Straftatbestand häuslicher Gewalt von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Und so lohnt es sich für viele Menschen einfach nicht, sich ein Gewissen zu leisten. Das Ergebnis ist staatlich geförderte Gleichgültigkeit.
Im Krieg gegen die Ukraine kommt noch eine Propaganda hinzu, die die Aggression gegen das Nachbarland zu einem Überlebenskampf des russischen Volkes stilisiert. Die russisch-orthodoxe Kirche verspricht den russischen Soldaten außerdem das Himmelreich, wenn sie im Kampf gegen die Ukraine sterben.
Auf Kritik reagiert Russland derzeit nur mit Drohungen, Schuldzuweisungen und Beleidigungen - Merkmale toxischer Beziehungen. All das muss aufhören.

Die russische Gesellschaft erreichen

Faire Prozesse gegen die russischen Kriegsverbrechen, gegen das Verbrechen der Aggression, können möglicherweise einen Beitrag dazu leisten. Es geht um nichts Geringeres als darum, Moral und Gewissen zum Maßstab individuellen und auch staatlichen Handelns zu machen. Der Einzelne muss lernen, Verantwortung für kollektives Handeln zu empfinden.
Die Dokumentation und Ahndung der Verbrechen in der Ukraine sind ein zarter Anfang. Die russische Gesellschaft zu erreichen, ist eine Jahrhundertaufgabe.