Eine Beratungsstelle der Migrationsbehörde in Moskau. In fünf Reihen sitzen Menschen auf Bänken und hören dem Beamten zu. Sie kommen aus der Ostukraine, und sie stellen Fragen: Ob sie in Russland arbeiten dürfen? Ob ihre Kinder in die Schule und in den Kindergarten dürfen? Ob sie ein Recht auf ärztliche Versorgung haben? Der Mann bejaht alles. Sie müssten lediglich einen befristeten Aufenthalt als Flüchtling beantragen, der Antrag werde dann zügig und unbürokratisch bearbeitet. Alexander macht sich Notizen. Er ist 25 Jahre alt, Betriebswirt aus dem Gebiet Donezk und bei seinem Bruder in einem Moskauer Vorort untergekommen.
"Experten sagen, der Konflikt in der Ostukraine wird lange dauern. Ich bin froh, dass ich erst mal eine Bleibe gefunden habe. Ich kann meinem Bruder aber nicht ewig auf der Tasche liegen. Ich muss auf jeden Fall Arbeit finden."
Das UNHCR hat sich positiv über Russlands Hilfe für die Flüchtlinge aus der Ukraine geäußert. An der Grenze zur Ukraine haben die russischen Behörden Notaufnahmelager eingerichtet. Sie gelten als gut organisiert. Unklarheit herrscht indes weiterhin über die Flüchtlingszahlen. Anfang der Woche nannte der Leiter der Migrationsbehörde, Konstantin Romodanowskij, folgende Ziffern:
"In Russland halten sich rund 490.000 Ukrainer auf. Sie wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Das sind vor allem Bewohner der Gebiete Lugansk und Donezk. Rund 400.000 von ihnen befinden sich in den Gebieten Belgorod und Rostow. Davon bekommen rund 10 Prozent Hilfe von den Behörden. Der Rest lebt bei Verwandten oder Bekannten."
"400.000 sind ein Bluff"
Natalja Zubarewitsch vom Unabhängigen Institut für Sozialpolitik in Moskau hält die Zahl von einer knappen halben Million Flüchtlinge für viel zu hoch.
"400.000 sind ein Bluff. Das ist die Differenz von Ein- und Ausreisen. Wir haben in Russland ständig viele Gastarbeiter aus der Ukraine. Sie haben mit dem Konflikt überhaupt nichts zu tun. Bei mir um die Ecke bauen Arbeitsbrigaden aus der Westukraine Häuser. Viele ukrainische Frauen arbeiten hier als Altenpflegerinnen."
Nach Angaben der Behörden haben bisher gut 30.000 Menschen einen Flüchtlingsstatus in Russland beantragt. Das ist nicht mal ein Zehntel der Ukrainer, die sich in Russland aufhalten, und das, obwohl der Status Vorteile bringt. Ein möglicher Grund für das Zögern: Wer einen Flüchtlingsstatus erhält, muss seinen ukrainischen Pass abgeben. Der Weg zurück in die Heimat ist dann versperrt.
Konstantin Romodanowskij, Chef der russischen Einwanderungsbehörde, warnt davor, dass, wenn der Konflikt in der Ukraine länger anhält, auch noch all die anderen Ukrainer in Russland einen Flüchtlingsstatus beantragen könnten, also eine halbe Million Menschen. Das sei für Russland eine große Last. Zugleich sagt er ganz offen, dass Russland ein Interesse daran hat, dass die Flüchtlinge für immer in Russland bleiben. Ein Widerspruch.
Russland wirbt zunehmend um Zuzug
"Die Menschen werden hier Arbeit finden und Geld verdienen. Ich denke, das wird ihren Wunsch, in Russland zu bleiben, stärken."
Russland wirbt zunehmend um den Zuzug von Menschen, die sich, wie Präsident Putin sagt, der "russischen Welt" zugehörig fühlen. Im Frühjahr trat ein Gesetz in Kraft, das die Einbürgerung Russischsprachiger aus den angrenzenden Regionen erleichtert. Laut Auskunft Romodanowskijs soll das Gesetz demnächst auch auf Flüchtlinge aus der Ukraine angewandt werden. Natalja Zubarewitsch vom Institut für Sozialpolitik glaubt dennoch nicht, dass viele Ukrainer dauerhaft in Russland bleiben werden.
"Sie werden große Schwierigkeiten haben, hier Wohnraum zu finden. Außerdem sind sie an den Süden gewöhnt. In den russischen Norden ziehen sie nur, wenn es dort gut bezahlte Arbeit gibt."
Die aber gäbe es dort nicht, die Perspektiven für Ukrainer seien in Russland dementsprechend beschränkt.