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Russland. Nation und Imperium 1552-1917

Vladimir Putin hat ein Problem, das nicht neu ist in der russischen Geschichte. Wie nur, so lautet die Frage, regiert man ein Land so groß und vielgestaltig wie Russland auf effektive Weise? Wenige Tage nach seiner Amtseinführung hatte Putin die Antwort gefunden. Er teilte das Land in sieben Verwaltungsbezirke und ernannte sieben Generalgouverneure. Diese sind ihm persönlich rechenschaftspflichtige und sollen die Kontrolle der Zentrale über die 89 Subjekte der Russischen Föderation verschärfen. Der stärkste Widerstand gegen die neue Regelung kommt, wie nicht anders zu erwarten, aus wirtschaftlich starken autonomen Republiken und Gebieten wie Tatarstan oder Baschkortostan, die im früh-demokratischen Trubel der frühen 90er Jahre weitreichende Selbstverwaltungsbefugnisse mit der Moskauer Zentrale ausgehandelt hatten. Damals war Jelzin fast jedes Opfer recht, um das riesige Land vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Sind also Putins Maßnahmen auch ein Versuch, ethnischen Minderheiten damals gemachte Konzessionen wieder abzunehmen? Manifestiert sich hier auch ein erstarktes russisches Nationalbewußtsein?

Uli Hufen | 04.08.2000
    Das Verhältnis zwischen russischer Nation und russischer Geschichte zu beleuchten ist der an der renommierten Londoner School of Slavonic and Eastern European Studies lehrende Historiker Geoffrey Hosking angetreten. Bereits in der Einleitung zu seinem Buch Russland. Nation und Imperium 1552-1917 verspricht Hosking nicht weniger als "einen neuen Deutungsansatz für die Beschäftigung mit der Russischen Geschichte". Und auf den ersten Blick scheint Hosking diesem noblen Vorsatz tatsächlich gerecht zu werden. Mit Verve verwirft er in wenigen Sätzen einige überstrapazierte Erklärungsmodelle für die Russische Geschichte. Die Paradigmen der alles dominierenden Autokratie und der russischen Rückständigkeit lehnt Hosking ab. Beides sind ihm nicht Ursachen sondern Symptome. Angesichts eines solch furiosen Beginns freut sich der Leser auf einen starken, frischen Wind, doch die Freude währt leider nur sehr kurz. Hoskings grandiose neue These, seine das gesamte Buch durchziehende fixe Idee, läßt sich in zwei kurzen Sätzen zusammenfassen: Die Entwicklung und Erhaltung des russischen Imperiums hat die Entwicklung der russischen Nation behindert. Das Elend der russischen Geschichte rührt daher, dass es niemals gelungen ist, einen funktionierenden Nationalstaat zu errichten.

    Hosking beginnt sein knapp 600 Seiten umfassendes Werk mit einer zehnseitigen Einleitung. Diese soll sein Vorhaben umreißen und ist gleichzeitig der einzige Teil des Buches, in dem die neuere Nationalismusforschung und die eigene theoretische Basis vorgestellt werden. Angesichts der bereits innerhalb der westlichen Forschung weit divergierenden Standpunkte wäre aber eine differenzierte Darstellung des eigenen Nationalismus-Konzeptes mehr als nur eine freundliche Serviceleistung für den Leser gewesen. Auf diesem umstrittenen Gebiet versteht sich fast nichts von selbst.

    Im Vorbeigehen erwähnt Hosking, dass die gesamte neuere Forschung die Entstehung von Nationen frühestens mit dem 18. Jahrhundert beginnen läßt. Nun gibt es mehr als genug gute Gründe, diesen Moment für Russland zumindest ein Jahrhundert später anzusetzen. Noch zur Zeit der Bauernbefreiung 1861 hatte der Adel ganz offensichtlich Mühe, die Leibeigenen überhaupt als Menschen anzusehen, geschweige denn als gleichberechtigte Mitglieder einer Nation. Hosking dagegen behauptet, es habe in Russland und anderswo auch viel früher schon ein 'protonationales' oder 'ethnisches Bewußtsein' gegeben, welches sich um einen Stamm, einen Königshof, eine Aristokratie oder eine religiöse Gemeinschaft habe kristallisieren können. Eine Begründung für diese frappierende Behauptung fehlt ebenso wie detaillierte Angaben zur ethnischen Zusammensetzung des Russischen Reiches und zur Verbreitung der verschiedenen Sprachen.

    So geht denn Hosking auf sehr dünner theoretischer Grundlage zum Hauptteil des Buches über. In vier großen Kapiteln erzählt Hosking hier die Russische Geschichte von der Eroberung des Khanats von Kasan im Jahre 1552 bis hin zur Oktoberrevolution. Dabei sind zwei Kapitel der chronologischen Folge der Ereignisse gewidmet, die anderen versuchen, Tiefenstrukturen der russischen Gesellschaft zu beleuchten. Hier findet der Leser fundierte und gut geschriebene Darstellungen zu Adel und orthodoxer Kirche ebenso wie Exkurse zur Intelligenzija, zur Rolle der Armee und zur Literatur des 19.Jahrhunderts. Da diese Kapitel sich durchgängig auf neueste Sekundärliteratur stützen, kann Hoskings Darstellung im großen und ganzen Gültigkeit als kompetente Einführung in die Russische Geschichte beanspruchen. Allerdings ist deutlich, dass Hosking Spezialist für das 19. und 20. Jahrhundert ist. Doch selbst hier gilt: Wer neue, überraschende Ideen erwartet, wird enttäuscht. Letztlich unterscheidet sich die Darstellung von älteren Monographien oft nur darin, dass Hosking seinen Themenkomplexen rituell Absätze anhängt, die den Kurzschluss mit der Generalthese des Buches leisten sollen. Zu häufig kippt seine Darstellung eben hier ins Absonderliche. So behauptet Hosking, die zaristische Armee aus Millionen für 25 Jahre Militärdienst einberufenen Bauernsöhnen sei ein möglicher Nukleus der bürgerlichen Nation gewesen. Zwar ist richtig, dass viele Bauern in der Armee lesen und schreiben lernten und dass die Armee als imperiale Großinstitution einen integrierenden Effekt hatte. Trotzdem bleibt die Gleichsetzung von Soldaten mit Bürgern ein Fehlgriff. In einer ähnlich forcierten Interpretation gerät Hosking die russische Literatur des 19.Jahrhundert von Puschkin bis Tolstoj zu einer potentiell nationsbildenden Kraft.

    Auch jenseits derartiger Über- und Fehlinterpretationen verwirrt Hoskings starre Überzeugung, eine ausgeprägte russische Identität sei unverzichtbare Voraussetzung für die Verwandlung Russlands in ein modernes, hochintegriertes Staatswesen. Angesichts von 17% nicht-russischen Bürgern in der Föderation und der Tatsache, dass seit 1991 25 Millionen Russen außerhalb des Landes leben, erscheint ein forciertes russisches Nationalbewußtsein wie eine Horrorvision. Welche Folgen es für multi-ethnische Staaten haben kann, wenn Politiker und Intellektuelle beginnen, nationale Identität zu predigen, konnte zuletzt eindrucksvoll in Jugoslawien besichtigt werden.

    Von derartigen Erfahrungen unbeeindruckt behauptet Hosking eine starke nationale Identität sei das beste Mittel, eine legitime Staatsmacht und einen größeren sozialen Zusammenhalt zu erlangen. Warum das in Russland so sein soll, wird nicht erklärt. Was davon die über 100 Ethnien innerhalb der russischen Föderation oder Nachbarvölker wie Finnen, Polen, Ukrainer oder Chinesen halten sollen, interessiert Hosking auch wenig. Zudem versäumt er es im gesamten Buch, deutlich zwischen russischem und russländischem Nationalismus zu unterscheiden. Letztlich erweist sich seine Generalthese als viel zu eng, um einen erhellenden neuen Deutungsansatz für die russische Geschichte der letzten 450 Jahre liefern zu können. Und für die Zukunft kann man nur hoffen, dass Moskauer Politikern mehr einfällt, als ein forcierter ethnisch-russischer Nationalismus.