Es sei fatal, Spekulationen über mögliche Verantwortliche und Hintermänner in die eine oder andere politische Richtung anzustellen, führte Helmut Scholz (Die Linke) aus. Der Mord sei ein Symbol für schwierige innenpolitische Entwicklungen, die seit Jahr und Tag im innergesellschaftlichen Diskurs Russlands stattfänden. "Fragen der sozialen und nationalen Realitäten" seien mit dem Mord an Nemzow erneut schlaglichtartig beleuchtet worden.
Auch Oppositionspolitiker seien verantwortlich dafür, dass "keine eindeutige Klärung der Zukunft der russischen Gesellschaft ermöglicht wurde", so Scholz. Bestimmte Aktivisten, politisch Verantwortliche, wirtschaftliche Machthaber und Oligarchen hätten immer "ihre Finger in der Instrumentalisierung von Konflikten für eigene Machtpositionen". Das System Putin gehöre dazu.
20 Jahre Modernisierung verpasst
Unter der Regierung Boris Jelzin, deren stellvertretender Ministerpräsident Nemzow war, sei die brutalste Privatisierungspolitik durchgeführt worden. Man müsse immer genau beurteilen, welche Entscheidungen zu welchen Schlussfolgerungen in der russischen Gesellschaft führten. Das seien 20 verpasste Jahre für die Modernisierung der russischen Gesellschaft gewesen. Nemzow sei mitverantwortlich für den innergesellschaftlichen Konflikt in der russischen Gesellschaft. In die Spekulationen über eine mögliche Verantwortung für den Mord wolle und könne Scholz sich nicht einreihen.
Auch der jetzige Präsident Putin trage mit seinem gegenwärtigen Kurs dazu bei, dass der gesellschaftliche Konflikt sich in solchen Taten wie der Ermordung Nemzows niederschlage und keine Lösung der Probleme zustande komme.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Sandra Schulz: Was folgt aus dem Mord an dem russischen Oppositionellen Boris Nemzow? Jedenfalls, dass das Land wieder vor bewegenden Wochen steht. Zehntausende waren am Wochenende für einen Trauermarsch auf die Straße gegangen. Es gibt wieder Spekulationen: Wer steckt hinter dem Anschlag, wird es dazu überhaupt jemals verlässliche Erklärungen geben? Nach dem Attentat auf den Kreml-Kritiker ist für heute die Trauerfeier angesetzt. Am Telefon begrüße ich jetzt Helmut Scholz, für die Partei Die Linke im Europäischen Parlament und dort stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Guten Morgen!
Helmut Scholz: Schönen guten Morgen!
Schulz: Was hat Wladimir Putin mit dem Anschlag auf Boris Nemzow zu tun?
"Wir alle sind voller Abscheu auf solche feigen Anschläge"
Scholz: Das kann ich von hieraus überhaupt nicht beurteilen, weil wir ja auch, wie viele Menschen, nur die Informationslage haben, wie sie nach draußen dringen, und ich gehe davon aus, dass so, wie wir alle betroffen sind von dieser Ermordung eines Oppositionspolitikers und voller Abscheu auf solche feigen Anschläge, glaube ich, einhellig sind, möchte ich auch sagen, ich kann mich an Spekulationen über die Hintermänner eines solchen Mordanschlages nicht äußern. Und einseitige Vorwürfe in die eine oder andere Richtung – es blühen ja viele Spekulationen – halte ich für völlig unangebracht, um eine klare, schnelle und transparente Aufklärung zu ermöglichen.
Schulz: Heißt aber auch, Sie wollen nicht sagen, dass Putin nichts mit dem Mord zu tun hat?
Scholz: Das kann ich, das will ich so sagen. Ich kann aber auch nicht sagen, dass alle anderen Spuren, wie von der russischen Staatsanwaltschaft und den Untersuchungsbehörden verlautbart, in alle Richtungen Ermittlungen geführt werden müssen. Ich glaube auch, solange wie nicht klar ein Ergebnis dieser Untersuchungen auf dem Tisch liegt, lassen sich solche Schuldzuweisungen nicht machen. Und ich möchte auch ganz deutlich betonen, dass ich es für eigentlich fatal halte, jetzt bereits solche Spekulationen mit Verknüpfungen zu anderen politischen Aspekten in der Öffentlichkeit zu diskutieren, weil genau das Transparenz und Schnelligkeit der Aufklärung verhindern wird.
Schulz: Aber was heißt das für ein Land? Was heißt das für Russland, dass erst mal geklärt werden muss, ob oder dass der Präsident damit nichts oder was zu tun hat?
"Erneut vor schwierigen innenpolitischen Entwicklungen"
Scholz: Ich glaube, der Mord zeigt, dass wir erneut vor schwierigen innenpolitischen Entwicklungen sind, die aber nicht mit der Ermordung Nemzows begonnen haben, sondern die seit Jahr und Tag ja gerade auch in dem innergesellschaftlichen Diskurs liegen: Wo soll Russland seine Zukunft haben, wie soll in der russischen Gesellschaft eine Modernisierung vorangetrieben werden, was heißt diese Modernisierung für die vielen Millionen Menschen, wo werden künftig Arbeitsplätze geschaffen? Die ganzen Fragen der sozialen, der nationalen Realitäten, der Widersprüche, die sich in der russischen Gesellschaft widerspiegeln, die sind erneut schlaglichtartig damit beleuchtet. Aber wir müssen auch sehen, dass auch Oppositionspolitiker in der Vergangenheit mit dazu beigetragen haben, dass keine eindeutige Klärung der Zukunft der russischen Gesellschaft ermöglicht wurde. Und da will ich auch sagen: Auch wir, weil Sie ja fragen, ist der russische Präsident mit involviert, haben bei vielen innenpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern ja auch diese Frage immer wieder zu beantworten, wo sind gesellschaftliche Ursachen, weil bestimmte Aktivisten, politisch Verantwortliche, wirtschaftliche Machthaber oder in der russischen Gesellschaft eben auch Oligarchen immer ihre Finger in der Instrumentalisierung von Konflikten für eigene Machtpositionen entwickeln. So gehört eben auch das System Putin mit dazu.
Schulz: Nur um sicherzugehen, dass ich Sie richtig verstehe: Sie sind der Meinung, dass die Oppositionellen für das aufgeheizte politische Klima zuständig und verantwortlich sind, aber nicht der russische Präsident Putin?
Scholz: Nein, das habe ich so nicht gesagt.
Schulz: Dann erklären Sie es uns doch noch mal.
Scholz: Dann haben Sie mich auch falsch verstanden. Ich will nur sagen, Boris Nemzow war ja auch mal stellvertretender Ministerpräsident unter der Jelzin-Regierung. Das war die Zeit, wo die brutalste Privatisierungspolitik durchgeführt wurde. Und wenn das sozusagen als die einzige Zukunft der russischen Gesellschaft ausgegeben wurde, hat das auch einen Stein in den Bau scheinbar unüberbrückbarer Mauern in der russischen Gesellschaft gelegt. Das will ich nur damit gesagt haben. Das heißt, wir müssen immer genau beurteilen, welche politischen Entscheidungen führen zu welchen Schlussfolgerungen für spätere nachfolgende Generationen, und das sind 20 Jahre verpasste Modernisierung der russischen Gesellschaft, die letztendlich auch zu solchen möglichen kurzfristigen, ich sage jetzt in Anführungsstrichen ganz bewusst, "Lösungsansätzen" führen.
Schulz: Ich habe es, ehrlich gesagt, immer noch nicht verstanden. Oppositionelle wie Nemzow, der jetzt ermordet wurde, die sind mit verantwortlich?
Oppositionelle seien für innergesellschaftlichen Konflikt mitverantwortlich
Scholz: Für den innergesellschaftlichen Konflikt in der russischen Gesellschaft, dass keine eindeutigen gemeinsamen Lösungswege für eine Modernisierung der russischen Gesellschaft gelegt werden konnten.
Schulz: Und welche Verantwortung hat dann Putin?
Scholz: Sie sind also nicht verantwortlich für den Mord. Das möchte ich ganz eindeutig sagen. Das kann ich genauso wenig belegen wie jeglichen anderen Gral, wo heute spekuliert wird, der hinter dieser Ermordung steckt.
Schulz: Jetzt sagen Sie es uns noch mal: Welche Verantwortung hat Putin?
Scholz: Putin ist einer derjenigen, die mit seinem gegenwärtigen politischen Kurs mit dazu beitragen, dass die aufgeheizte widersprüchliche Situation in der russischen Gesellschaft auch die möglichen kurzschlüssigen Lösungsversuche von Einzelnen ermöglicht.
Schulz: Also durchaus auch Vorwürfe an den russischen Präsidenten?
Keine "offene demokratische transparente Gesellschaft" möglich
Scholz: Ich halte auch die gegenwärtige russische Politik für nicht geeignet, diese inneren gesellschaftlichen Ursachen in der russischen Gesellschaft nach vorne hin zu entwickeln und eine offene demokratische transparente Gesellschaft in der Russischen Föderation zu ermöglichen.
Schulz: Der Europaparlamentarier Helmut Scholz, für Die Linke stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments und hier heute in den "Informationen am Morgen". Danke Ihnen für das Interview.
Scholz: Gerne!
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