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Russland
Schwieriger Kampf gegen HIV

Weltweit sinkt die Zahl der HIV-Neuinfektionen. Das gilt nicht für Russland: Hier haben sich allein 2017 etwa 100.000 Menschen neu infiziert. Die Gründe sind vielfältig – und auch der Staat trägt dafür Verantwortung.

Von Tom Schimmeck |
Ein HIV-Test kann hier im russischen St. Petersburg freiwillig in diesem mobilen Testlabor vorgenommen werden. Mai 2019
Ein mobiles Testlabor für freiwillige HIV-Untersuchungen in St. Petersburg. Allein 2017 sollen sich in Russland an die 100.000 Menschen neu mit dem HI-Virus infiziert haben. (Imago/Peter Kovalev/TASS)
Als ihr Sohn Nikolai ein Jahr alt war, erzählt Anna, habe sie sich plötzlich schlecht gefühlt. Sie ging zum Arzt und erfuhr, dass sie HIV-positiv war. Sie hörte sofort auf, ihn zu stillen. Doch das Kind hatte sich bereits angesteckt.
Nur die wenigsten wissen davon. Selbst ihren Eltern hat Anna bis heute nichts erzählt.
Auch Nikolai, inzwischen 10 Jahre alt, verliert in der Schule kein Wort über seine HIV-Infektion. "Je weniger Du weißt", sagt er lächelnd, "desto besser schläfst Du."
Über eine Million Russen sind HIV-positiv
Mehr als 1,2 Millionen Menschen leben nach offiziellen Zahlen in Russland mit einer HIV-Infektion. Anna, heute 35, und Nikolai können sich glücklich schätzen, beiden geht es gut. Sie leben im liberalen Sankt Petersburg, wo es Aufklärung und Hilfe gibt. Der Staat übernimmt die Kosten der Behandlung und der Medikamente für Mutter und Sohn. Die Hilfsorganisation E.V.A. betreut die Familie in allen Lebenslagen.
Viele Menschen seien bis heute nicht bereit, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen, das sei einer der Gründe für die massive HIV-Epidemie, sagt Maria Godlevskaya, Koordinatorin bei E.V.A. Bis heute schämten sich etwa Frauen, dem Partner zu sagen, er möge doch ein Kondom benutzen. Die Betreuerin ist selbst HIV-positiv – wie fast alle Helfer bei E.V.A. Arbeitsmotto: "Gleiche helfen Gleichen". Sie weiß, wovon sie redet.
Der zweite Grund sei der schlechte Zugang zu ärztlicher Versorgung für die Infizierten. Und drittens brächten die Medien zu wenig klare Informationen.
Staatliche Gleichgültigkeit
Bis heute reagiert der russische Staat auf die HIV-Epidemie mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Leugnung und Repression. Allein 2017 sollen sich an die 100.000 Menschen neu infiziert haben. Inzwischen sind es zumeist heterosexuelle Paare.
Noch immer gibt es für die geschätzt mehr als fünf Millionen Drogenabhängigen in Russland keine Substitutionsprogramme. Die sind verboten. Die Folgen zeigten sich etwa nach der Annexion der Krim 2014. Plötzlich gab es dort kein Methadon mehr, keine sterilen Injektionsnadeln für Junkies und zu wenig Medikamente.
Hinzu kämen, so Experten, eine verfehlte oder völlig fehlende Sexualerziehung und die Stigmatisierung von Homosexualität. Die Zivilgesellschaft tut viel. Doch der Staat macht den NGOs das Leben schwer. Wer Geld aus dem Ausland erhält und sich irgendwie "politisch" engagiert, kommt auf die Liste "ausländischer Agenten".
Alle NGOs, die sich in Russland um HIV kümmerten, sagt Maria Godlevskaya von E.V.A., lebten in der Furcht, auf dieser Liste zu landen. Manche haben schon aufgegeben.
Keine Perspektive für HIV-Infizierte
Selbst in St. Petersburg sind nicht alle HIV-Infizierten versorgt. Besuch bei Tatjana, einer jungen Mutter mit einer behinderten Tochter. In einem heruntergekommenen Wohnblock im Norden der Stadt.
Tatjana, alleinerziehend, hat sich 2006 infiziert. Das Zimmer ist kahl. Es gibt nur eine zerschlissene Couch und ein Gitterbett für die Kleine. Die Tapete ist an vielen Stellen abgerissen.
Ihre Schwester, auch positiv, ist gestorben. Die drei Brüder sind ebenfalls tot. Einer starb an einer Überdosis, der zweite bei einem Autounfall; der dritte brach sich betrunken das Genick.
Tatjana sieht krank aus. Sie bekommt keine Medikamente. Und weiß nicht, wie es weitergeht.