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Russland-Ukraine
Die Wunden des Alltags

Seit mehr als vier Jahren stehen sie im Dauerkonflikt: Zuletzt blockierte Moskau die Meerenge von Kertsch, Kiew rief daraufhin das Kriegsrecht aus und zog Reservisten ein. Abseits der Schlagzeilen hat der Konflikt mit dem Nachbarn Russland bereits Risse in so mancher Familiengeschichte hinterlassen.

Von Peter Sawicki |
    Eine Frau und ein Mann passieren den Hoptivka-Grenzübergang im Nordosten der Ukraine
    Komplizierte Einreise in die Ukraine: Intensive Befragungen sind mittlerweile an der Tagesordnung - für viele Menschen ein Grund nicht mehr ins Nachbarland zu fahren. (dap/ Photoshut)
    Wenn die Luft eisig ist, helfen Musik und Bewegung. In einer Unterführung der Kiewer Metrostation "Teatralna" trotzen zwei Dutzend Seniorenpaare den Minustemperaturen. Begleitet von Akkordeon und Handtrommel tanzen sie dick eingepackt im Kreis – mal schneller, mal gemächlicher. Wie jede Woche.
    Das Leben geht weiter in der ukrainischen Hauptstadt, auch in Krisenzeiten. Doch hinter der fröhlichen Fassade treten Sorge und Frustration hervor. Angesichts der neuen Spannungen mit Russland macht eine Dame mit Mantel und Uschanka-Mütze aus ihren Gefühlen keinen Hehl:
    "Die Lage wird immer schlechter, wir können nur hoffen, dass es mal besser wird. Russland unterdrückt die Ukraine auf ihrem eigenen Territorium, und will einfach so weitermachen. Wir werden das aber nicht zulassen. Die meisten Menschen in der Ukraine und in Russland wollen auch keinen Krieg, sondern in Frieden leben. Es ist Putin und seine Regierung, die das offenbar nicht wollen."
    Gefühl der Kriegsmüdigkeit
    Ihr Mann stimmt dem zu: "So wie meine Frau es gesagt hat. Wir sind einer Meinung. Es soll einfach nur Frieden, Frieden, Frieden geben. Auf der ganzen Welt." Eine andere Frau teilt dieses Gefühl der Kriegsmüdigkeit. Eine Verschärfung der Lage kann sie sich kaum vorstellen:
    "Fünf Jahre dauert das schon fast. Was soll denn noch kommen? Menschen leiden, Kinder sind zu Waisen geworden, oder haben Arme und Beine verloren. Es ist eine Tragödie, die wir ertragen."
    Ukrainische Soldaten patrouillieren in Schyrokyne, 25 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt.
    Ukrainische Soldaten patrouillieren in Schyrokyne, 25 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt. (AFP / Sega VOLSKII )
    Ihr Mann, der eine bunte Krawatte trägt und einen lebensfrohen Eindruck macht, atmet bei dem Thema tief durch. Und sehnt sich nach früheren Epochen: "Während meiner Dienstzeit waren wir uns als Nationen deutlich näher. Ich kann über Russland auch heute eigentlich nichts Schlechtes sagen. Empört bin ich nur über Putin und seine Riege. Wir waren mal richtige Brudervölker, es gab so viele Freundschaften. Und schauen Sie, was jetzt daraus wird. Es ist doch unmenschlich."
    Unbehagen auf beiden Seiten
    Im strengen Kiewer Frühwinter zieht es auch viele nach drinnen, zum Beispiel in gut beheizte Cafés. Yuliya, eine junge Bankkauffrau, kippt etwas Milch in ihren Kaffee. Nachdenklich rührt sie in ihrer Tasse. Ihr Bruder lebt seit vielen Jahren in Russland, hat dort eine Familie gegründet und einen russischen Pass. Die derzeit zum Teil geltende Einreisesperre für russische Männer in die Ukraine betrifft ihn nicht wirklich. Ein Heimatbesuch, erzählt Yuliya, steht auch so auf absehbare Zeit nicht an:
    "Bis zum Maidan ist mein Bruder regelmäßig zu Besuch gekommen. Ein-, zweimal im Jahr, mit seiner Frau und den Kindern. Danach nicht mehr, seit fünf Jahren war er nicht mehr hier. Er – oder besser gesagt seine Frau – hat Angst, dass den Kindern etwas zustößt. Wir sagen ihnen immer, dass es hier ungefährlich ist. Sie glauben aber das, was sie dort zu hören bekommen. Das ist ziemlich traurig."
    Nur über Facebook in Kontakt mit dem Bruder
    Sie selbst möchte derzeit aber auch nicht nach Russland reisen, erzählt Yuliya. Zu groß ist auch umgekehrt das Unbehagen. Ihre Freundin Tanya sitzt daneben und hört aufmerksam zu. Mit ihrem Cousin, der in Russland aufgewachsen ist, macht sie ähnliche Erfahrungen. Durch die Distanz wachse schrittweise die Entfremdung voneinander:
    "Seine Jugend und sein Studium hat er überwiegend in Russland verbracht. Eigentlich sind wir uns sehr nah – bis wir anfangen, über Politik zu sprechen. Momentan will er auch lieber in Russland bleiben. Es gibt zwar soziale Netzwerke wie Facebook, man bleibt in Kontakt, sieht, wie die Kinder aufwachsen. Doch das sind am Ende nur Videos und Fotos."
    Die Gräben werden tiefer. Und auch das Kriegsrecht, da sind sich beide Frauen sicher, sei eher dem Präsidentschaftswahlkampf geschuldet und vergifte die Atmosphäre eher noch zusätzlich. Und so versucht Yuliya, optimistisch nach vorn zu blicken:
    "Natürlich ist die Hoffnung da, dass es besser wird. Und dass die Situation es hergibt und der Wille da ist, dass mein Bruder uns wieder besucht. Klar, es ist sein Leben dort, er es sich ausgesucht. Unsere Mutter lebt aber allein und langweilt sich fast, sie möchte natürlich selbst sehen, wie ihre Enkel größer werden."
    Einführung einer Visapflicht für russische Staatsbürger?
    Ein Mann, der die Lage auch wegen seines Berufs etwas nüchterner betrachtet, ist Denis Trubetskoy. Er ist Journalist und berichtet für deutsche Medien aus der Ukraine.
    Ein Schiff fährt unter der Brücke über die Meerenge von Kertsch.
    Die Meerenge von Kertsch vor der Halbinsel Krim (dpa/Sputnik/Alexey Malgavko)
    Trubetskoy sitzt in einem Kaufhauscafé und tippt auf seinem Laptop. Familiäre Trennungsgeschichten kennt er selbst. Seine Heimatstadt ist Sewastopol auf der Krim. Ukrainische Familien müssten derzeit einen schwierigen Spagat leisten, betont Trubetskoy. Er glaubt außerdem, dass die neuen Spannungen zudem die alte Debatte über die Einführung einer Visapflicht für russische Staatsbürger befeuern könnte. Für ihn ein heikles Thema:
    "Nach Angaben des ukrainischen Außenministers Pavlo Klimkin leben und arbeiten etwa drei Millionen Ukrainer in Russland. Sollte die Ukraine also die Visapflicht für Russen einführen, wird Russland, und das hat das Außenministerium in Moskau schon mehrmals angekündigt, Gegenmaßnahmen ergreifen."
    Viele Russen in der Ukraine verzichten auf politische Diskussionen
    Die Regierung in Kiew müsse sich also gut überlegen, welche Maßnahmen sie treffe. Umgekehrt sei die Situation für die in der Ukraine bereits lebenden Russen derzeit nicht unkompliziert:
    "Man muss sich schon vorstellen, dass die meisten Russen, die in der Ukraine leben gerade, keine Freunde der Russlandlinie angesichts der Ukraine sind. Das Problem ist: Es ist relativ offensichtlich, dass es in der Ukraine viel zu kritisieren gibt, was auch die vielen Russen, die hier leben, kritisieren müssten. Wobei die meisten versuchen, die ukrainische Innenpolitik nicht zu kommentieren. Weil sie wissen, dass die Reaktion der Ukrainer darauf schwierig sein wird."
    Viele Russen in der Ukraine, sagt Trubetskoy, verzichten in diesen Tagen darauf, in politischen Debatten mitzureden. Eine feindliche Stimmung gegen sie, das hebt der Journalist hervor, herrsche aber nicht.
    An der "Teatralna"-Haltestelle in Kiew bewegen sich die Senioren weiter rhythmisch zur Tanzmelodie. Der Herr mit der bunten Krawatte hat den Glauben an die russisch-ukrainische Freundschaft nicht verloren. Seine Lebensfreude will er sich auch nicht nehmen lassen: "Ich bin 81, und gehe einfach gerne mit meiner Liebsten tanze", sagt er, klatscht in die Hände und dreht sich um die eigene Achse. Dann sagt er noch, dass er sich ruhige Zeiten wünscht, ohne Krieg und ohne Schlachten. Und gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange.