Morgens um kurz nach sieben ist viel los am Kursker Bahnhof in Moskau. Mit den Vorstadtzügen kommen Pendler an, Reisende schleppen ihre Taschen zu den Langstreckenzügen. Der Zug mit der Nummer 551 auf Gleis 8 soll in einigen Minuten gen Süden abfahren. In den Sommermonaten ist er vor allem bei Urlaubern beliebt, die sich kein Flugticket leisten können. 36 Stunden dauert die Fahrt bis in die Küstenstadt Anapa am Schwarzen Meer.
Die fünf jungen Männer, die mit ihren großen Rücksäcken vor Wagon 2 stehen, werden schon vorher aussteigen, in der südrussischen Region Rostow, in der Nähe zur ukrainischen Grenze. Sie wollen nicht in den Urlaub, sondern in den Krieg.
"Wir haben lange darauf gewartet, dass es losgeht. Und jetzt fühlen wir so einen richtigen Kick. Ja, die Fahrt dauert lang, allein mit dem Zug sind wir fast 27 Stunden unterwegs, aber wir haben alle gute Laune. Denn es geht endlich los und alles ist organisiert. Wir träumen schon seit Monaten davon, und bald werden wir dort sein."
Mit "dort" meint der 30 Jahre alte Dmitrij den Donbass - jene Region in der Ostukraine, in der selbst ernannte Separatistenführer im Mai nach zwei Referenden die sogenannten Volksrepubliken von Lugansk und Donezk ausgerufen haben. Mittlerweile herrscht dort Krieg: Die ukrainische Armee, unterstützt von Freiwilligen-Bataillonen, will die pro-russischen Kämpfer vertreiben. Auf beiden Seiten sterben täglich Menschen, unter ihnen viele Zivilisten.
Dmitrij hat alle Tickets und Reisepässe in der Hand, weil er nüchterner ist als die anderen. Bis in die Morgenstunden haben die fünf Wodka getrunken. Jetzt machen sie Witze, mit einigen Kumpels, die gekommen sind, um sich zu verabschieden. Angst oder Anspannung lässt sich keiner von ihnen anmerken, auch Dmitrij nicht.
"Ich kann nicht für alle sprechen: Aber ich weiß, dass ich nicht sterben werde, bevor ich 35 bin und deshalb mache ich mir keine Sorgen."
Die Männer haben fünf Pritschen nebeneinander in der billigsten Klasse gebucht - Platzkart heißt die. Pro Wagen gibt es 54 Schlafplätze ohne eine einzige Tür dazwischen. Umgerechnet knapp 45 Euro hat jedes Ticket Richtung Krieg gekostet, Bettwäsche inklusive. Der eher kleine, schwarzhaarige Dmitrij kommt aus der russischen Teilrepublik Mari El. Er hat einen Hochschulabschluss in Geschichte und eine Vorstrafe, weil er nationalistische Flugblätter verteilt hat.
Aleksander, mit 24 Jahren der jüngste von ihnen, ist Doktorand an einer Moskauer Eliteuniversität und spezialisiert auf das Thema nukleare Abrüstung. Er wisse, dass das Leben im Westen Vorteile habe, sagt er. Auch das US-Bildungssystem schätze er sehr. Aber in erster Linie sei er Patriot, und die Ukraine gehöre nun mal zur russischen Welt.
Die westlichen Länder, die USA und die EU wollen sich ausbreiten: wirtschaftlich, kulturell, politisch, militärisch – sie wollen immer mehr. Im Osten der Ukraine aber stoßen sie jetzt auf Widerstand. Dort ist man mit den Plänen und Wünschen der USA für die Ukraine nicht einverstanden. Man ist jetzt eine Art Gegner des Westens.
Wochenlang hat Aleksander in Moskau Spenden gesammelt und Hilfstransporte für die Bewohner des Donbass und für die pro-russischen Kämpfer organisiert. Jetzt ist er selbst bereit, sein Leben zu riskieren, für einen Donbass ohne westlichen Einfluss. Nun gibt er zu:
"Natürlich habe ich Angst. Das ist ja eine vollkommen ungewöhnliche Situation, in der ich meine Gesundheit, mein Leben und meine Freiheit riskiere. Aber ich fahre mit guten Freunden und vor Ort sind auch schon einige Gesinnungsgenossen. Das hilft mir, auf das Beste zu hoffen."
Grigorij und Wjatscheslaw wollen nicht reden und schlafen auf den oberen Pritschen. Wie der 30 Jahre alte Walentin - groß, klobig, dunkler Bart - haben sie keine russischen Pässe. Die drei sind in einer Kleinstadt in Lettland aufgewachsen, sehen sich aber als Russen. In Lettland, sagt Walentin, seien sie deshalb Bürger zweiter Klasse.
"Nicht alle, aber viele, und auch ich nennen das Verhältnis zwischen ethnischen Letten und ethnischen Russen im Land einen kalten Bürgerkrieg. Offene Konflikte gibt es nicht, aber die Letten haben alles: Sie sind an der Macht und ihre Sprache ist Staatssprache. Aber sie wollen die totale Kontrolle und dass aus Russen Letten werden. So wie die Ukrainer wollten, dass alle Russen Ukrainer werden. Es wird dauernd Druck auf uns ausgeübt, in verschiedenen Bereichen, mal mehr, mal weniger. Aber wie es in der Ukraine passiert ist, kann auch bei uns die Lage explodieren."
In die Ostukraine wollen sie, um für die Rechte von Russen auf der ganzen Welt zu kämpfen.
"Das ist alles Teil der großen Russki Mir, der russischen Welt. Und dort sterben jetzt russische Menschen – oder besser gesagt: Man tötet sie. Da kann ich mich nicht raushalten, selbst wenn ich aus einem anderen Land komme."
"Die russische Welt reicht so, wie sie jetzt ist, nicht aus. Ich würde nicht wollen, dass Lettland Teil von ihr wird. Russland ist im Moment nicht das Land, an dem man sich ein Beispiel nehmen sollte. Russland und die Russen müssen alles dafür tun, um selbst besser zu werden. Und dann müsste man gar nicht mehr kämpfen. Dann wollen andere von sich aus Teil der russischen Welt werden."
Für die ukrainische Führung sind Männer wie Walentin und seine Freunde Verbrecher, die in sogenannten Anti-Terror-Operationen ausgelöscht werden müssen. Die jungen Männer selbst nennen sich Opoltschenzy - übersetzt: Bürgerwehr.
Diesen Begriff benutzt auch das vom Kreml kontrollierte russische Fernsehen für die Kämpfer in der Ostukraine und sorgt so dafür, dass sie von den meisten Russen positiv gesehen werden: 39 Prozent haben Respekt vor ihnen, 22 Prozent verbinden mit ihnen Hoffnung und 19 Prozent haben Sympathie für sie. Das hat eine repräsentative Umfrage des staatlich-finanzierten Meinungsforschungsinstituts WZIOM im Juli dieses Jahres ergeben. Angst und Misstrauen äußerten nur zwei beziehungsweise vier Prozent.
Davon, dass die Vereinten Nationen die Kämpfer für Folter und Morde an Zivilisten verantwortlich machen, ist im russischen Staatsfernsehen nie die Rede. Aber die fünf Männer kennen diese Vorwürfe, sie informieren sich im Internet. Walentin sagt, sie würden bei so etwas nicht mitmachen. Aber er schließt nicht aus, dass die Vorwürfe stimmen könnten:
"Da lebt jemand sein ganzes Leben lang an einem Ort und dann beginnt der Krieg, und es fliegen Raketen. Der eine verliert seinen Nachbarn, der andere seine Frau oder den besten Freund. Und wer dann einen Feind in die Hände bekommt, der will nun mal nicht höflich sein, sondern sich rächen. Manchmal werden dabei Grenzen überschritten. Das ist normal, das ist verständlich."
Keiner der Männer hat Waffen-Erfahrung
Durch die Zugfenster sehen sie Provinzstädte, verlassene Fabriken, erst Hügellandschaft, dann Steppe. Im Wagon ist es schnell stickig geworden, es riecht nach Toilettenreiniger, Schweiß und stark gewürzten Nudel-Fertiggerichten, die sich viele Passagiere trotz der Wärme mit heißem Wasser aufgießen. Die fünf Männer reden mal über die schönen Brüste der Frauen im Donbass, dann über den Krieg. Keiner von ihnen hat je eine Waffe in der Hand gehabt. Falls sie doch nur Schützengräben ausheben dürfen, haben sie Klappspaten dabei. Aber vor Ort werde es ein Training geben, hofft zumindest Alexander – und zwar von Experten.
"Ziemlich viele Freiwillige vor Ort haben Erfahrung. Das sind echt gute Kämpfer: Die einen haben zu Sowjetzeiten in Afghanistan gedient, andere später in Tschetschenien, in Jugoslawien oder in Transnistrien. Die Bürgerwehr hat sehr viele Militärexperten – wahrscheinlich sogar mehr als die ukrainische Armee. Deshalb gelingt der Bürgerwehr manchmal das Unmögliche, zum Beispiel einen ganzen Panzer-Konvoi zu zerstören."
Für ihren Einsatz bekommen sie kein Geld, sagen die fünf jungen Männer. Sie seien auf Spenden angewiesen, die für die Donbass-Kämpfer gesammelt werden. Verschiedene Gruppierungen werben in Russland vor allem über das Internet Kämpfer an, meist über Vkontakte, der russischen Variante von Facebook. Armee-Veteranen rekrutieren sich untereinander per Telefon. Bei den einen geht es ums Geld, bei anderen um die Überzeugung, bei vielen um beides.
Stichhaltige Informationen darüber, wie viele russische Staatsbürger und andere Nicht-Ukrainer im Donbass kämpfen, gibt es nicht. Die pro-russischen Kämpfer sagen, höchstens zehn Prozent von ihnen stammten nicht aus der Ukraine.
Die ukrainische Regierung wiederum geht von rund 15.000 pro-russischen Kämpfern im Osten aus und behauptete von Anfang an, dass die Unruhe dort ausschließlich von Russland ausgehe.
Der Politikexperte Alexej Malaschenko, der für das US-finanzierte Carnegie-Zentrum tätig ist, nimmt an, dass zwar auch Ukrainer mitkämpfen, der große Teil aber aus Russland kommt:
"Mich erinnert das an die Situation im spanischen Bürgerkrieg 1936, als dort sogenannte sowjetische Freiwillige gekämpft haben – wenn man sie überhaupt erwähnt hat, nannte man sie Freiwillige. Aber in Wahrheit waren die meisten von ihnen sowjetische Militärangehörige. Sie hatten Kampfnamen, genau wie die Männer, die nun im Donbass sind. Die Situation im Osten der Ukraine ist der von damals sehr ähnlich, auch wenn sie ein geringeres Ausmaß hat."
Bis vor kurzem bestand auch die gesamte Führungsriege der Donbass-Kämpfer aus Männern mit russischen Pässen und guten Verbindungen zum russischen Sicherheitsapparat. Mittlerweile haben Igor Girkin, genannt Strelkow, und Alexander Borodai ihre Führungsposten an ukrainische Kämpfer übergeben – zum Beispiel an Alexander Sachartschenko. Der brüstete sich in einer seiner ersten Pressekonferenzen Mitte August mit frischem Nachschub aus Russland:
"Ich habe noch eine gute Nachricht: Auf dem Weg zu uns sind derzeit bis zu 150 militärische Fahrzeuge und anderes Gerät, davon bis zu 30 Panzer, der Rest sind Panzerwagen. Außerdem 1.200 Mann, die vier Monate auf russischem Territorium vorbereitet wurden. Sie werden uns in einem entscheidenden Moment geschickt."
Präsident Wladimir Putin allerdings ließ solche Lieferungen durch seinen Sprecher dementieren - worauf auch Sachartschenko zurückruderte. Das Video mit seiner Prahlerei steht jedoch weiter im Internet.
Neben ehemaligen russischen Soldaten kämpfen Männer verschiedener Gruppierungen im Osten der Ukraine: Abenteurer ohne Ideologie, radikale Orthodoxe, manche gar aus Serbien, russische Kosaken. Und auch Kämpfer aus Russlands islamischen Republiken im Nordkaukasus, aus Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien, sagt der Moskauer Experte Alexej Malaschenko.
"Der Präsident der Republik Inguschetien hat das zugegeben und sogar gescherzt, dass er auch gern dort kämpfen würde, wenn er könnte. Die politischen Führer im Nordkaukasus sagen sich: Sie kämpfen lieber dort als zu Hause. Ich habe auch gehört, dass in Tschetschenien in letzter Zeit immer wieder Männer beerdigt wurden, die im Donbass waren. Wie viele aus dem Nordkaukasus dort sind, das weiß aber niemand."
Aleksander, Dmitrij, Grigorij, Wjatscheslaw und Walentin gehören zu einer kleinen, eher ungewöhnlichen Gruppe unter den Donbass-Kämpfern: Sie hassen Präsident Wladimir Putin. Alle fünf sind Nationalbolschewiken, Anhänger des radikalen Politikers und Skandalschriftstellers Eduard Limonow. In ihrer Denkweise vermischen sich Kommunismus und Nationalsozialismus.
Dutzende Gesinnungsgenossen kämpften bereits in der Ost-Ukraine, sagen die Männer. Denn ein noch größerer Feind als Putin seien die USA - eine Gefahr für Russland. Deshalb müssten nun sogar sie als Putin-Gegner in der Ostukraine Putins Sache unterstützen, erklärt Walentin.
"Wir mögen Putins Innenpolitik nicht, und wir haben das Recht, ihn so zu nennen wie wir wollen. Aber uns gefällt nicht, wenn andere, fremde Länder ihn genauso nennen. Wir kümmern uns innenpolitisch später schon selbst um ihn. Aber außenpolitisch müssen wir ihn derzeit teilweise unterstützen – da decken sich einige wenige unserer Motive mit denen von Putin und seinen Taten, was sehr selten ist."
Wie viele der pro-russischen Kämpfer sind auch sie enttäuscht, dass Putin nicht ganz offiziell russische Soldaten in den Osten der Ukraine schickt. Das sei nötig, um die ukrainische Armee zu stoppen und die Menschen dort zu retten, finden sie.
Es ist längst dunkel, als sich die fünf darüber unterhalten, wie es wohl ist, einen Menschen zu töten. Zumindest Gewalt ist ihnen vertraut. Die meisten von ihnen haben bei Anti-Putin-Protesten viel einstecken müssen, von Polizei oder Gegendemonstranten, und auch selbst ausgeteilt. Aleksander sagt, er sei - wenn nötig - bereit zu töten. Die anderen nicken.
"Viele Menschen sagen, das sei einfach. Aber sogar ein Schlag erfordert doch, dass man eine Hemmschwelle überwindet. Ich denke, es wird leichter sein, wenn dauernd Schüsse, Raketen und Explosionen um einen herum zu hören sind. Dann nimmt man die Welt und sich selbst anders wahr und handelt ganz anders. Wahrscheinlich ist es dann leichter, Gewalt anzuwenden als im normalen, friedlichen Leben. Es wird mir nicht leicht fallen, es wird schwer sein. Aber es gehört doch irgendwie zum Leben dazu."
"Wütend auf Wladimir Putin"
Während die fünf noch bei der Theorie sind, ist sich Experte Malaschenko sicher: Russland wird mit den zurückkehrenden Kämpfern große Probleme bekommen. Vor allem, wenn die ukrainische Armee gewinnen und die pro-russischen Kämpfer zurück nach Russland drängen sollte.
"Sie werden enttäuscht und wütend nach Russland zurückkehren – wütend auf Wladimir Putin und die wohlhabenderen Menschen im Land. Wir hatten Anfang der 2000er-Jahre schon das "Tschetschenien-Syndrom". Viele derer, die aus den Tschetschenien-Kriegen wiederkamen, begingen Verbrechen, fühlten sich von der Gesellschaft missverstanden und nicht respektiert. Sie wollten sich rächen, für Unruhe sorgen, oft mit Waffen. Auch die Rückkehrer aus dem Donbass werden eine große Gefahr sein: nicht allein für Putin, sondern für die ganze Gesellschaft.
Für die jungen Männer heißt es erst einmal, über die Grenze in die Ostukraine zu gelangen. Nach rund 24 Stunden Fahrt sind sie am Bahnhof von Lichaja in der Region Rostow angekommen. Jetzt soll es mit dem Bus weitergehen. Doch noch am Bahnhof hält ein russischer Polizist sie an. Ein Blick in die großen Rucksäcke reicht und der Chef der Polizeistation, der sich als Boris Borissowitsch vorstellt, weiß sofort, wohin sie wollen. Am Ende kopiert er nur ihre Pässe und lässt sie weiterziehen.
"Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass unsere Reise vorbei sein könnte. Aber als er dann anfing, Witze zu machen und alle Polizisten sich entspannt haben, habe ich gedacht, dass alles gut wird und wir weiter können. Und so kam es ja auch."
In der kleinen russischen Grenzstadt, die auch Donezk heißt, warten die fünf dann stundenlang in einem Park. Ihre Kameraden, die schon drüben sind, wollen sie abholen mit einem Kleinlaster. Während sie warten, vergleichen die jungen Männer die Geschichten, die sie zu Hause erzählt haben. Denn nur Walentins Ehefrau Margo weiß, wo er wirklich ist. Kurz vor seiner Abreise haben sie ihren fünften Hochzeitstag gefeiert. Dmitrijs Eltern glauben, er arbeite als Sanitäter in einem Ferienlager für Kinder.
"Ich habe gesagt, dass das Lager mitten im Wald ist, dass ich dort keinen Handy-Empfang habe und erst Ende des Sommers wiederkomme."
Schließlich laufen sie zu einem verlassenen Parkplatz, auf dem ein weinroter Kleintransporter bereit steht. Der soll sie über die Grenze bringen, allerdings ohne journalistische Begleitung, um die "Mission" nicht zu gefährden, wie sie sagen. Ein paar Tage später meldet sich Dmitrij per Telefon aus dem Osten der Ukraine, aus Donezk. Noch, sagt er, seien sie alle am Leben. Und: Sie wollen weiterkämpfen, bis zum Schluss.