Hinweis: Der folgende Textbeitrag stammt vom 22. Februar 2022. Er beinhaltet Thesen, Prognosen und mögliche Szenarien, die auf dem Stand der politischen Entwicklungen bis zu diesem Datum basieren. Der Angriff Russlands auf die Ukraine erfolgte am 24. Februar und somit zwei Tage nach Erscheinen dieses Beitrags.
Aktuelles zum Thema
Newsblog zum Krieg in der Ukraine
Lettlands Präsident Levits: „Erster Angriffkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“
Newsblog zum Krieg in der Ukraine
Lettlands Präsident Levits: „Erster Angriffkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“
Im Beisein ukrainischer Separatistenführer und vor laufenden Kameras hat Wladimir Putin am 21. Februar seine Unterschrift unter ein so bezeichnetes Freundschaftsabkommen mit den Separatisten gesetzt und eine Rede im Fernsehen gehalten. Noch am selben Abend ordnete Russlands Präsident die Entsendung von Truppen in die sogenannten Volksrepubliken an.
Was bedeutet die Anerkennung der Separatistengebiete?
Der Minsker Friedensprozess war bereits mit dieser Anerkennung gestorben - und nicht erst durch Beginn der Angriffe vom 24. Februar. Russland verstößt offen gegen die vereinbarten Punkte, die Separatistengebiete sind mit der Anerkennung aus Moskauer Sicht selbstständige Areale. Völkerrechtlich gehören sie aber weiterhin zur Ukraine, was Russland bekanntlich nicht mehr anerkennt. Im Minsker Friedensabkommen ist jedoch klar geregelt, dass die Gebiete schrittweise wieder in den ukrainischen Staat integriert werden sollen.
Wie hat Putin die Anerkennung begründet?
Der Präsident hatte in seiner Rede am 21. Februar auch einen langen historischen Exkurs gehalten, bei dem er der Ukraine das Existenzrecht absprach. Demnach sei es bereits ein Fehler der Kommunisten in der Sowjetunion gewesen, die Ukraine überhaupt als eigenständiges Gebiet auszuweisen, so Putin. Die Tatsache, dass die Ukraine existiert und sich dem Westen zuwende, bezeichnete der Präsident als Sicherheitsrisiko für Russland. Im Nationalen Sicherheitsrat im Kreml war zuvor bereits von einer Art stattfindenen Genzozid die Rede. Nach dieser Auslegung würde die Ukraine die russischsprachige Bevölkerung im Donezk-Becken vernichten wollen.
Die Ukraine wolle letztendlich das Donezbecken militärisch zurückerobern. Um das zu verhindern, müsse man die sogenannten Volksrepubliken anerkennen, so Putins Begründung. Allerdings stellt ich immer noch die Frage, wie Russlands Präsident "die Republiken" interpretiert: Ob er die Volksrepubliken in ihrer gegenwärtigen Form meint oder die Fläche, die sie beanspruchen. Denn das sind die gesamten Bezirke Donezk und Luhansk in der Ukraine.
Reaktionen aus Berlin und Brüssel
Wie könnte es nun weitergehen?
Wenn die benannten Gebiete als Staaten von Moskau anerkannt sind, kann Russland zu ihnen auch Beziehungen aufnehmen und offiziell dort seine Truppen stationieren. Noch am selben Abend, an dem Wladimir Putin das sogenannte Friedensabkommen unterzeichnete, ordnete er die Entsendung von Truppen in die Separatistengebiete an.
Es gibt zwei Interpretationen für Putins Vorgehen.
Erstens: Er erkennt die beiden Volksrepubliken an und kann damit vor „heimischem Publikum“ ein Erfolgserlebnis präsentieren. Damit könnte er sein Gesicht wahren, ohne einen Krieg zu beginnen.
Die andere Interpretation: Putin sagt, dass die „Volksrepubliken“ den gesamten Bezirk um Donezk und Luhansk beanspruchen – also auch die Teile, die derzeit noch von der Ukraine kontrolliert werden. Unter diesem Vorwand könnten die „Volksrepubliken“ nun einen Angriff auf diese Gebiete beginnen.
Außerdem muss damit gerechnet werden, dass diese „Staaten“ darum bitten werden, in die russische Föderation aufgenommen zu werden. Anschließend könnte Russland sich dazu entscheiden, die Gebiete zu annektieren.
Mehr zum Russland-Ukraine-Konflikt
- Newsblog zum Konflikt
- Kommentar: "Das ist imperiale und koloniale Politik"
Ist die Gefahr eines Krieges gebannt? Was bedeutet dieser Schritt für die Zukunft?
Die Gefahr eines größeren Krieges ist nicht gebannt. Die vielen Soldaten sowie das viele Gerät stehen weiterhin an den Grenzen. Die Ukraine ist noch mehr verstümmelt und die europäische Sicherheitsordnung zertrümmert worden.
Wer nach 2008 und 2014 weiterhin geglaubt hat, man könne mit Wladimir Putin eine Politik bestreiten, die Vertrauen voraussetzt, ist getäuscht worden. Die westliche Diplomatie ist gescheitert. Alle Reden, Besuche und Interviews waren wenig nützlich. Putin macht Machtpolitik. Er hat das Militär und die Atommacht unter seinen Händen. Das Abkommen von Minsk, übrigens ein Erbe auch von Angela Merkel, ist tot. Die rechtswidrige Anerkennung durch Russland macht es für Kiew sinnlos, darüber noch weiter zu sprechen.
Diese Anerkennung durch Wladimir Putin stand bereits lange fest - das hat der Präsident selbst gesagt. Auch das ist wichtig für alle, die glauben, sie könnten das Mindset und die Entscheidungsfindung Putins beeinflussen.
Die letzten Sätze seiner Ansprache waren die Entscheidenden. In ihnen steckte die glasklare Drohung: „Wir, Russland, können auch noch anders.“ Das kann noch immer die Eroberung weiterer Gebiete umfassen. Mit großer Sicherheit wird russisches Militär, nun auch ganz offen und ohne Camouflage, in den Separatistengebieten stationiert.
Was könnten Sanktionen des Westens bewirken?
Von den angedrohten Sanktionen aus den USA und Europa scheint sich der russische Präsident Putin nicht beeindrucken zu lassen. Er ist offenbar entschlossen, seine Ziele trotzdem durchzusetzen. Zwar würden Strafmaßnahmen der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands gewaltig schaden, aber wenn Putin eine historische Mission sieht, die Sicherheitsarchitektur Europas, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion herauskristallisiert hat, zu revidieren, dann dürften Sanktionen ihn nicht schocken.