- Warum wurde Charlan disqualifiziert?
- Warum hat es überhaupt einen Kampf zwischen einer Russin und einer Ukrainerin gegeben?
- Hat es so einen Fall zwischen einer ukrainischen und einer russischen Athletin schon mal gegeben?
- Was sagen die Sport-Verbände zu der Disqualifikation?
- Welche Reaktionen gibt es aus der Politik?
Der Sieg von Olha Charlan war deutlich: Mit 15:7 gewinnt die ukrainische Fechterin am Donnerstag (27.07.2023) ihren Kampf gegen die Russin Anna Smirnowa bei der Fecht-WM in Mailand. Nach dem Kampf geht Smirnowa auf Charlan zu, um ihr die Hand zu geben.
Der Handschlag ist nach einem Gefecht obligatorisch, aber Charlan hält Smirnowa nur ihren Säbel entgegen – offenbar, um anzubieten, dass beide als Ersatz für den Handschlag wie während der Corona-Pandemie ihre Klingen kreuzen.
Als keine Reaktion der Russin folgt, schüttelt Charlan ihren Kopf und verlässt die Bahn. Smirnowa bleibt für mehr als 30 Minuten auf der Planche stehen, teilweise blockiert sie die Bahn sogar sitzend, bis sie dann hinunter komplimentiert wird.
Aber auch Charlan darf nicht mehr an der Runde der Besten 32 teilnehmen. Sie wird nach dem verweigerten Handschlag disqualifiziert. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Warum wurde Charlan disqualifiziert?
Das Regelwerk des Fecht-Weltverbandes ist eindeutig: Vor und nach dem Kampf müssen die Sportler ihren Gegner, den Schiedsrichter und das Publikum grüßen.
Für das Ende des Kampfes ist außerdem ein Handschlag mit dem Gegner vorgeschrieben. Wer diesen Handschlag verweigert, erhält eine „Schwarze Karte“ – die sofortige Disqualifikation vom Wettbewerb.
Charlan hatte schon vorher angekündigt, keiner Russin die Hand zu schütteln. In einem Instagram-Video nach der Entscheidung sagt sie, dass der griechische Präsident des Fecht-Weltverbandes ihr zugesichert habe, dass ein Duell mit einer Russin auch ohne Handschlag möglich sei. „Ich dachte, ich habe sein Wort und bin sicher“, so Charlan, „aber offensichtlich: nein.“
Charlan galt als Medaillen-Kandidatin bei der WM. Durch die Disqualifikation hat sie nicht nur die Chance verloren, sondern auch kaum Punkte für die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris geholt. Ihre Chancen auf einen Start dort sind entsprechend gesunken. Trotzdem würde sie wieder so handeln. "Meine Botschaft ist: Wir Athleten aus der Ukraine sind bereit, den Russen auf den Sportplätzen gegenüberzutreten, aber wir werden niemals ihre Hände schütteln."
Daher forderte Charlan die Regeln zu ändern und den Handschlag - wie schon während Corona - nicht mehr in den Regeln festzuschreiben. "Die Regeln müssen sich ändern weil sich die Welt ändert", so Charlan im Video.
Nachdem Charlans Disqualifikation für großes Aufsehen gesorgt hatte, reagierten die Verbände. Mittlerweile ist klar: Olha Charlan wird an den olympischen Spielen teilnehmen dürfen, wenn sie die anderen Qualifikationsbedingungen erfüllt. Am Freitag (28.07.2023) veröffentlichte der ukrainische Sportminister Vadym Gutzeit einen Brief von IOC-Präsident Thomas Bach, in dem er von einer "einmaligen Ausnahme" spricht und der Ukraine einen zusätzlichen Quotenplatz für die Spiele in Paris zusichert, sollte Charlan sich nicht mehr sportlich qualifizieren. Man stehe weiter "fest an der Seite der ukrainischen Athleten in diesen schweren Zeiten".
Auch der Fecht-Weltverband hob im Anschluss die Suspendierung der Ukrainerin auf. Wie das FIE-Exekutivkomitee nach Beratungen mit dem IOC mitteilte, wurde zudem die umstrittene Regel geändert, der Handschlag nach einem Gefecht sei nun nicht mehr verpflichtend. Die Fecht-Olympiasiegerin konnte am Samstag (29.07.2023) mit dem Säbel-Team der Ukraine wieder antreten.
FIE-Interimspräsident Emmanuel Katsiadakis verteidigte die Charlan-Disqualifikation nochmals, die Entscheidung sei im Einklang mit dem olympischen Geist getroffen worden.
Warum hat es überhaupt einen Kampf zwischen einer Russin und einer Ukrainerin gegeben?
Nachdem das Internationale Olympische Komitee kurz nach der russischen Invasion im Februar 2022 einen Ausschluss von russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportlern empfohlen hatte, hat sich diese Position inzwischen verändert.
Seit März 2023 empfiehlt das IOC, einzelne Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus unter neutraler Flagge wieder teilnehmen zu lassen. Voraussetzung dafür soll sein, dass die betreffenden Sportler keine vertragliche Verbindung zum Militär oder zu den Sicherheitskräften haben und den Krieg nicht aktiv unterstützen.
Die konkrete Umsetzung dieser Empfehlung liegt bei den einzelnen Weltverbänden. In der Leichtathletik, beim Reiten und Rodeln sind Russland und Belarus weiterhin komplett ausgeschlossen. Der Fecht-Weltverband gehört zu den Verbänden, die eine Rückkehr von russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten ermöglicht haben.
Das ukrainische Sportministerium hatte nach der neuen IOC-Empfehlung ukrainischen Sportlerinnen und Sportlern praktisch verboten, an Wettkämpfen mit Russen und Belarussen teilzunehmen. Das ukrainische Judo-Team zog sich zum Beispiel von der WM zurück, als dort russische Sportler – teils mit Armeerang – zugelassen wurden.
Der Erlass, nur an Wettbewerben ohne Russland und Belarus teilzunehmen, wurde von manchen ukrainischen Athleten kritisiert. "Die Olympischen Spiele und der internationale Sport bieten eine sehr große Medienplattform", sagte der Skeleton-Fahrer Vladyslav Heraskevych der Deutschen Welle im Mai. Man dürfe diese Plattform "nicht den russischen und weißrussischen Narrativen überlassen".
Auch Olha Charlan hat sich dafür eingesetzt, gegen Russinnen kämpfen zu dürfen. Offenbar auch auf ihren Druck hin hat der ukrainische Sportminister Wadym Hutzajt, der gleichzeitig Präsident des ukrainischen Olympischen Komitees und ehemaliger Trainer von Charlan ist, kurz vor der Fecht-WM den Erlass deutlich abgeschwächt.
Ab sofort dürften ukrainische Athleten nur dann nicht an Wettbewerben teilnehmen, wenn Russen und Belarussen unter ihrer Flagge antreten. Wettkämpfe gegen neutrale Athletinnen seien ab sofort möglich. Erst dieser Schritt hat das Duell zwischen Charlan und Smirnowa bei der WM überhaupt ermöglicht.
Hat es so einen Fall zwischen einer ukrainischen und einer russischen Athletin schon mal gegeben?
Seit der Invasion hat das ukrainische Sportministerium alle Welt- und Europameisterschaften, an denen Sportlerinnen und Sportler aus Russland teilgenommen haben, boykottiert. Der Kampf zwischen Charlan und Smirnowa war daher das erste Duell zwischen einer Ukrainerin und Russin bei einer WM in einer olympischen Sportart.
Im Tennis spielen hingegen bereits seit mehreren Monaten ukrainische Spielerinnen gegen Kontrahentinnen aus Russland und Belarus. Der ukrainische Tennisverband hatte die Boykott-Entscheidung des eigenen Sportministeriums kritisiert und angekündigt, dass seine Spielerinnen und Spieler auch gegen Russen und Belarussen antreten würden.
Bei diesen Spielen verzichten die Ukrainer allerdings ebenfalls auf einen Handschlag. Bei den French Open reichte Marta Kostjuk zum Beispiel der Belarussin Aryna Sabalenka nicht die Hand, in Wimbledon tat es ihr Elina Svitolina nach einer Partie gegen Victoria Azarenka gleich. Beide Male pfiff das Publikum die ukrainischen Spielerinnen für diese Geste aus.
Svitolina forderte daraufhin, dass die Veranstalter in Wimbledon öffentlich mitteilen sollten, dass es von Seiten der Ukrainerinnen keinen Handschlag mit Russinnen und Belarussinnen geben werden. Die Organisatoren lehnten diese Forderung ab. Eine Bestrafung, anders als beim Fechten, gibt es beim Tennis aber nicht.
Was sagen die Sport-Verbände zu der Disqualifikation?
Der ukrainische Verband unterstützt seine Athletin in ihrer Haltung und hat einen Protest angekündigt, damit Charlan zumindest noch an den Teamwettbewerben teilnehmen darf. Ein russisches Team ist bei der Fecht-WM nicht am Start.
Auch der deutsche Fecht-Verband kritisiert, dass durch die sehr strikte Auslegung der Regeln „ein fatales Signal weit über die Fechtwelt“ hinausgesetzt wurde. „In Zeiten wie diesen darf das wortwörtliche Auslegen und Anwenden von Regeln kein Maßstab sein und wir erwarten hier eine Veränderung für die zukünftigen Wettkämpfe“, heißt es in einer Stellungnahme.
Das Internationale Olympische Komitee fordert die internationalen Sportverbände in einer Stellungnahme dazu auf, Aufeinandertreffen zwischen Athletinnen und Athleten aus der Ukraine und Russland mit dem „notwendigen Grad von Sensibilität“ zu behandeln. Das IOC stehe weiterhin in voller Solidarität zu den ukrainischen Athleten.
Daraufhin hat der Vorsitzende des Russischen Olympischen Komitees, Stanislaw Posdnjakow, dem IOC vorgeworfen, Partei für die Ukraine zu ergreifen. Das IOC habe eine Seite des politischen Konflikts ausgewählt und begonnen, im Interesse dieser Seite zu handeln, so Posdnjakow auf Telegram.
Welche Reaktionen gibt es aus der Politik?
Aus der ukrainischen Politik gibt es Lob und Rückendeckung für Olha Charlan. "Das Wichtigste ist, dass sie die ukrainische Position gezeigt hat, dass wir nicht mit unseren Feinden, mit unseren Mördern Hände schütteln können", sagte Sportminister Hutzajt: "Sie ist großartig, ich ehre und respektiere sie so sehr und liebe sie wie mein eigenes Kind."
Der ukrainische Außenminister Dmytrro Kuleba schrieb auf Twitter, dass Smirnova einen fairen Wettkampf verloren und dann entschieden habe, dreckig zu spielen. „Genauso agiert die russische Armee auf dem Schlachtfeld.“ Auch er forderte den Weltverband auf, Charlan am Rest der WM teilnehmen zu lassen. Ähnlich äußerte sich auch Premier-Minister Denys Shmyhal.
Kritische Stimmen gibt es auch aus Deutschland. Innenministerin Nancy Faeser, die für den Spitzensport zuständig ist, twitterte: "Zu dieser Situation hätte es nie kommen dürfen. Russland hat im Moment im internationalen Sport nichts zu suchen. Die volle Solidarität des Sports muss der Ukraine gelten."
Mehr als Apelle gibt es aber von Seiten der deutschen Sportpolitik nicht. Einen deutschen Boykott von Wettbewerben, an denen russische und belarussische Sportlerinnen und Sportler teilnehmen, wird parteiübergreifend abgelehnt. Zudem erhalten Verbände, die deutsche Sportler zu Wettbewerben mit russischer oder belarussischer Beteiligung schicken, für diese Reisen wieder Förderung vom Bundesinnenministerium. Als Russland und Belarus noch komplett ausgeschlossen waren, hatte das Ministerium angekündigt, derartige Reisekosten nicht zu übernehmen.
Die ehemalige Vorsitzende des Sportausschusses, Dagmar Freitag, wie Faeser von der SPD, kritisierte auf Twitter das Verhalten des IOC. Sie sprach von einem Scherbenhaufen, den IOC-Präsident Thomas Bach und „seine Gefolgsleute aus dem IOC“ angerichtet hätten. Bach hatte schon früh den Weg für die Rückkehr Russland und Belarus in den Weltsport eröffnet. Eine offizielle Einladung an die nationalen Olympischen Komitees beider Länder hat er aber nicht ausgesprochen.