Mithilfe von angeblichen Volksabstimmungen will Russland im Zuge seines Angriffskriegs gegen die Ukraine offenbar Teile des Landes eingliedern. In vier russisch kontrollierten Gebieten in der Ukraine fanden seit dem 23. September sogenannte Referenden statt. Die Abstimmungen waren kurzfristig in den Separatistengebieten Donezk und Luhansk im ostukrainischen Donbass sowie in den südukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja angesetzt worden. Bis Dienstag 27.9. konnte darüber abgestimmt werden, ob die Gebiete künftig zur Russischen Föderation gehören sollen.
Schon kurz nach dem Ende der Referenden verbreiteten russische Nachrichtenagenturen erste Ergebnisse, nach denen sich erwartungsgemäß eine überwältigende Mehrheit für einen Anschluss an Russland abzeichnet. Danach votierten in Cherson 96,97 Prozent für die Annexion, nach Auszählung von 14 Prozent der Stimmen. In Saporischschja seien es 98,19 Prozent, basierend auf 18 Prozent ausgezählter Stimmen. Für die Gebiete Donezk und Luhansk, in denen ebenfalls eine Abstimmung stattfand, wurden keine Zahlen genannt.
Zusammengenommen machen alle vier Gebiete etwa 15 Prozent des ukrainischen Territoriums aus. Vom Westen als illegitim verurteilt, wurden die sogenannten Volksabstimmungen von moskautreuen Offiziellen in den besetzten ukrainischen Gebieten organisiert. Zahlreiche Bewohner der betroffenen Regionen sind aber längst vor dem Krieg geflüchtet.
Wie sind die "Referenden" abgelaufen?
Der genaue Ablauf der von der ukrainischen Regierung als "Scheinreferenden" bezeichneten Abstimmungen war vorab unklar, zumal die Gebiete nicht vollständig von russischen Truppen besetzt sind. Teils gab es offenbar keine Wahllokale - oder sie wurden erst am letzten Abstimmungstag eingerichtet. Sogenannte Wahlkommissionen kamen zu den Menschen in die Wohngebiete - auch mit Polizeibegleitung. Klar ist: Die Ergebnisse standen quasi bereits fest.
Der ukrainische Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gajdaj, berichtete laut Nachrichtenagentur Reuters, in der russisch besetzten Ortschaft Bilowodsk habe ein Verantwortlicher gesagt, das Referendum sei verpflichtend. Wer seine Stimme nicht abgebe, verliere seine Arbeit und werde bei den Sicherheitsbehörden gemeldet. In Starobilsk hätten die russischen Behörden angeordnet, dass die Menschen die Stadt bis zum Ende des Referendums nicht verlassen dürften. Bewaffnete Gruppen würden Wohnungen durchsuchen und die Bewohner dazu zwingen, ihre Stimme abzugeben
Was weiß man über die Motive des Putin-Regimes?
Russland hat eine rasche Annexion der besetzten Gebiete in der Ukraine nach dem Ende des sogenannten Referendums angekündigt. Ein Kreml-Sprecher sagte, sollten die Menschen für einen Anschluss an Russland stimmen, könne das entsprechende Verfahren sehr schnell vonstatten gehen.
Ähnlich war Russland bereits bei der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 vorgegangen. Nach einem Referendum erklärte die Regierung in Moskau das Gebiet zum Bestandteil Russlands. Völkerrechtlich wurde dies aber nicht anerkannt.
Aktuell scheine es ein "notgedrungenes Vorgehen" Putins zu sein, sagte der Historiker und Osteuropa-Experte Hans-Henning Schröder im Dlf. Die Frage eines Referendums werde ja schon länger diskutiert. Es habe Spekulationen gegeben, dass die Abstimmungen eigentlich schon am 11. September zeitgleich mit Regionalwahlen in Russland hätte stattfinden sollen. Diese Planungen seien durch die ukrainische Offensive gestört worden. Dass dann doch Referenden angesetzt wurden, sei der Versuch, dem Status quo auf irgendeine Weise einen Rechtstitel zu verpassen, sagte Schröder. Völkerrechtlich hätten die Referenden aber keine Bedeutung.
Es wird damit gerechnet, dass die Duma - das russische Parlament - dem angeblichen Wunsch der Bevölkerung in den Regionen entsprechen wird - und die Annexion vollzieht. Ukrainern in den besetzten Gebieten droht dann, dass sie zu russischen Staatsbürgern gemacht und zum Militärdienst eingezogen werden.
Die Ansetzung der Referenden fällt zusammen mit einer Teilmobilmachung in Russland. Zudem verschärft Präsident Wladimir Putin seine Rhetorik. Er droht, er werde russisches Territorium - dazu würden laut Kreml-Interpretation nach den Referenden ja dann auch die vier Regionen gehören - bis aufs Letzte verteidigen, einschließlich der Nutzung atomarer Waffen. "Jeder Eingriff in russisches Territorium ist eine Straftat, die es uns erlaubt, alle Kräfte zur Selbstverteidigung zu nutzen", schrieb zudem der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew auf Telegram.
Was sagen die Kritiker der "Referenden"?
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sieht die von Russland unterstützten Schein-Referenden in mehreren Gebieten der Ostukraine als möglichen Bruch des Völkerrechts. Jede Annexion des Hoheitsgebiets eines Staates durch einen anderen Staat aufgrund der Androhung oder Anwendung von Gewalt sei eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts, sagte Guterres am 22.9. in einer Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrates zum Ukraine-Krieg.
Die Ukraine hat Russlands Vorgehen ebenfalls scharf kritisiert und sieht die Referenden als weiteres Zeichen für Russlands Schwäche. "Jede Entscheidung, die die russische Führung auch treffen wird, ändert nichts für die Ukraine", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. "Uns interessieren nur die Aufgaben, die vor uns liegen: Das ist die Befreiung unseres Landes, unsere Bevölkerung zu verteidigen und dafür in der Welt Unterstützung zu mobilisieren." Auch westliche Staats- und Regierungschefs kritisierten das russische Vorgehen scharf. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von inakzeptablen "Schein-Referenden", deren Ergebnisse nicht anerkannt würden.
(Quellen: Reuters, dpa, AFP, Florian Kellermann, Onlineredaktion)