Auch der Zeitpunkt des Größmanövers "Anakonda 2016" an der Grenze zu Russland sei suboptimal, meinte Fleckenstein. Zwar müsse ein Bündnis auch einmal seine Verteidigung üben können. Dies tue Russland ja auch, und sogar in viel größerem Umfang. Doch zeige der Zeitpunkt von "Anakonda" kurz vor Beginn des NATO-Gipfels in Warschau, wie sehr die NATO auf Abschreckung setze. Diese Gewichtung mache nicht deutlich, dass das Bündnis auch einen ernsthaften Dialog wolle.
Fleckenstein kritisierte auch die geplante Beteiligung deutscher Soldaten an der Aufstockung der NATO-Kräfte in Osteuropa. Diese Zusage sollte so schnell wie möglich wieder rückgängig gemacht werden, sagte das Mitglied der Russland-Delegation des Europäischen Parlaments im Deutschlandfunk. Er kritisierte zudem das Vorhaben, die NATO-Kontingente in Osteuropa rotieren zu lassen und nannte dies "tricky". Damit wolle die NATO lediglich die Verpflichtungen gemäß der Nato-Russland-Grundakte umgehen, die die dauerhafte Stationierung einer substanziellen Zahl von Kampftruppen im Osten verbiete.
Fleckenstein äußerte die Sorge, dass die internationale Gemeinschaft durch das NATO-Vorgehen in eine Spirale hereinkomme, die niemandem nützen könne. Dabei gebe es in Russland keinerlei Pläne, einen NATO-Mitgliedsstaat anzugreifen.
(mg/tj)
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Lautes Säbelrasseln, Kriegsgeheul, das Anheizen der Lage - solche Vorwürfe an die Adresse der NATO erwartet man jederzeit vom russischen Außenminister, aber nicht gerade vom deutschen. Doch es ist Frank-Walter Steinmeier, der davor warnt, "durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen." Gemünzt sind die Worte etwa auf das NATO-Manöver "Anakonda" in Polen, möglicherweise auch auf die geplante Stationierung von rund tausend zusätzlichen Soldaten der Allianz in den baltischen Staaten. Als ungeheuerlicher Vorwurf wird das in der Union bezeichnet.
Mitgehört hat der Sozialdemokrat Knut Fleckenstein, Mitglied der Russland-Delegation im Europäischen Parlament. Schönen guten Tag!
Knut Fleckenstein: Guten Tag, Herr Barenberg.
Barenberg: Herr Fleckenstein, war es ein Fehler, dass Soldaten der Bundeswehr an dem Manöver in Polen teilgenommen haben?
Fleckenstein: Grundsätzlich sehe ich das nicht so, dass es ein Fehler ist. Aber ich glaube, die Kritik bezieht sich auch mehr auf den Zeitpunkt. Ein Verteidigungsbündnis muss seine Verteidigungsfähigkeit auch mal üben können. Das gilt für die NATO, das gilt natürlich auch für Russland, die schon viel größere Übungen an den Grenzen zu den baltischen Staaten durchgeführt haben. Ich glaube, da muss man auf dem Teppich bleiben.
Es ist ein bisschen schwierig der Zeitpunkt, um den Altkanzler zu zitieren. Den halte ich auch für suboptimal. Der Zeitpunkt, der ja unmittelbar vor dem Warschauer Gipfeltreffen liegt, zeigt, wie sehr die NATO auf die Abschreckungskarte baut, während die Sicherheitspartnerschaft oder die Sicherheitsdialoge nicht in ähnlicher Form deutlich sichtbar werden, um es ganz nett zu formulieren.
Barenberg: Gleichzeitig ist im Gespräch, dass der NATO-Russland-Rat demnächst wieder tagen soll. Einmal hat er es schon getan. Die Einladung an Russland liegt auf dem Tisch. Insofern kann man das ja auch sehen als Teil einer Doppelstrategie: Auf der einen Seite zeigen, dass man bereit ist, auf der anderen Seite die Hand zum Dialog reichen. Was stört Sie daran?
Fleckenstein: Daran stört mich im Prinzip nichts. Es stört mich höchstens, dass es zwei Jahre nicht geschehen ist. Die Frage ist aber auch natürlich, in welchem Umfeld ein solcher Dialog stattfindet. Schauen Sie, da hat man sich einmal auf Botschafterebene wieder getroffen. Man hat über die Ukraine geredet und sonst über wenig und ist natürlich in dieser Frage nicht auf einen Nenner gekommen. Parallel dazu gibt es die Bemühungen um das Minsker Abkommen, die sehr detailliert, sehr kleinteilig ja stattfinden. Das ist ein Baustein.
Dann haben wir in der Zwischenzeit jetzt diese Übung. Wir haben wieder die Diskussion über das Abwehrschild und anderes. Und immer, wenn wir vollendete Tatsachen geschaffen haben, laden wir zum Dialog ein. Das ist auch ein bisschen zu wenig, meiner Meinung nach.
Bündnis muss auch einmal seine Verteidigung üben können
Barenberg: Das ist das, was Stoltenberg von der NATO "defensive Abschreckung" nennt. Ist das das falsche Konzept?
Fleckenstein: Es ist zumindest, was die Gewichtung angeht, nicht deutlich, dass beides damit gemeint ist, der Dialog, ein ernsthafter Dialog und gleichzeitig auch die Abschreckung, wobei wir uns ja alle einig sind: Es gibt nicht einmal irgendwelche abstrusen Pläne, einen NATO-Staat anzugreifen. Aber trotzdem: Ich bleibe dabei, was ich am Anfang gesagt habe. Ein Verteidigungsbündnis muss auch mal seine Verteidigungsfähigkeit üben können.
Barenberg: Gilt das auch für die Zusage der Bundesregierung, eines der geplanten Bataillone in den baltischen Staaten zu führen, oder würden Sie sagen, die Verteidigungsministerin sollte lieber heute als morgen diese Zusage wieder zurückziehen?
Fleckenstein: Wenn es nach mir persönlich ginge, sollte sie das lieber heute zurücknehmen und nicht erst morgen, weil ich diese zusätzlichen Soldaten für überflüssig halte und das Rollierende für tricky, weil man damit ja auch vertragliche Konflikte umgehen will. Ich halte das nicht für besonders hilfreich.
"Die NATO ist verteidigungsfähig"
Barenberg: Russland kann auf der anderen Seite der Grenze ganze Divisionen aufstellen an Soldaten und die NATO sollte darauf verzichten, auf ihrer Seite auch nur das eine oder andere Bataillon Übungen praktizieren zu lassen.
Fleckenstein: Wenn sie davon überzeugt sind, dass es an dem einen Bataillon liegen wird, dass die Verteidigungsfähigkeit dann besonders gefördert wird, und auf der anderen Seite neue Divisionen stehen. Ich habe Angst davor, dass wir wieder in eine Spirale hineinkommen, die uns allen nicht nutzen kann, und insofern glaube ich, dass auch diese Übung zeigen wird, die NATO ist verteidigungsfähig. Es gibt gar keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Angriff auf einen NATO-Staat ein Angriff auf das gesamte Bündnis ist, und ich glaube, das ist auch jedem außerhalb der NATO klar.
Barenberg: Diese Sorge, die Sie da äußern, die ist ja auch durchaus bedenkenswert und wird diskutiert. Ich frage mich nur, wo ist die Grenze zwischen Entgegenkommen auf der einen Seite, Dialogbereitschaft und auf der anderen Seite einer Beschwichtigungspolitik, die Russland durchgehen lässt, was immer Putin sich im Kreml überlegt.
Fleckenstein: Aber wir lassen doch gar nichts durchgehen.
Barenberg: Die Krim ist annektiert und es sieht nicht danach aus, als wenn irgendjemand daran etwas rückgängig machen wollte.
Fleckenstein: Aber ich bitte Sie, was macht denn Herr Steinmeier und sein französischer Kollege ganz, ganz mühsam in Kleinstteilen im Zusammenhang mit dem Minsker Abkommen?
Barenberg: Schlimmeres in der Ukraine verhindern, ja. Aber die Krim?
Fleckenstein: Nun mal eins nach dem anderen. Jetzt lassen Sie uns doch erst mal versuchen, dort, wo es möglich erscheint, im ersten Schritt kleine Brötchen zu backen und zu sehen, welche gemeinsamen Möglichkeiten die Ukraine, Russland mithilfe der OSZE und Frankreichs und Deutschlands dort hinbekommen, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Es geht doch nicht darum, Recht zu haben, sondern es geht darum, Recht wieder durchsetzen zu können, und insofern, glaube ich, ist das im Moment unsere einzige und auch hoffentlich bald sichtbar wirksame Möglichkeit.
Barenberg: Der Sozialdemokrat Knut Fleckenstein heute hier live im Deutschlandfunk im Gespräch. Ich bedanke mich sehr herzlich, Herr Fleckenstein.
Fleckenstein: Ich danke Ihnen, Herr Barenberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.